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I
Psychologie der Kritik


»Definieren Sie mir,« so sagte ich unlängst zu einem Schüler, »geben Sie mir, bitte, eine Definition der Dichtkunst.« »Sehr gern,« antwortete er, ging zu seinem Bibliothekskasten hin, brachte einen Band Johnson und überfiel mich mit einer »Definition«.

Edgar Allan Poe

Kritik

Wie alle Kunst, mag sie das wirkliche Leben nachbilden oder ein ersehntes neu gestalten, eine Ab- und Loslösung vom Leben ist, gleichsam eine Korrektur des Lebens, ist die Kritik wieder die Korrektur der Kunst. Sie möchte das Werk schöner und besser als es ist; von allen Schlacken gereinigt (Poe); sie sucht nach dem leitenden Gedanken, der den Künstler beherrscht, und deutet ihn aus (Taine); sie sieht im Geiste ein Kunstwerk von idealer Vollkommenheit, wie es in Wahrheit keines gibt, und prüft nun, wie weit das wirkliche Werk dem Ideal nahekommt oder wie weit es hinter ihm zurückbleibt (Grimm). Sie unterscheidet und bestimmt die Eigenschaften, wodurch eine Statue, ein Gemälde, ein Buch eine solch angenehme Wirkung hervorruft (Pater); sie gibt an, wo der Ursprung dieser Wirkung liegt und unter welchen Voraussetzungen sie zum Bewußtsein kommt (Brandes). So geübt, kann die Kritik selbst wieder Kunst sein. Kritik kann sogar das Höchste in der Welt sein (Kerr).

Es hat seinen tiefen Grund, daß wir es nicht mehr billigen, den Kunstrichter als einen Lehrer auftreten zu sehen, der gute oder schlechte Zeugnisse austeilt. Wir wissen, daß der Kritiker, obwohl er es sich oft einräumte, kein Recht hat, dem Dichter eine gebundene Marschroute vorzuschreiben, und daß die ästhetischen Gesetze, die er diktiert, nur bedingten persönlichen Wert haben, insofern sie zeigen, auf welcher Entwicklungsstufe er steht und welchen Weg er eingeschlagen haben würde, wenn er der Dichter wäre. Er soll aber weder Vorschriften aufstellen, noch Gesetze geben; seine Aufgabe ist vielmehr, Gesetze zu ergründen.

Friedrich der Große, der ein sehr kritischer Kopf war, spricht voller Verachtung von Shakespeare und Goethe und lobt Gellert. Ein anderer, schärferer Kritiker, Börne, erkennt ebenfalls Goethe nicht an, schickt aber Jean Paul einen Panegyrikus ins Grab nach. Goethe will von Kleist, Lenz und Heine nichts wissen, lobt aber die seichte Romanschreiberin Johanna Schopenhauer und andere Skribifaxen. Schiller verkennt Bürgers Größe vollkommen und lobt Matthison. Schopenhauer, der über Musik sehr tiefe Worte zu sagen weiß, zieht Rossini Beethoven vor. Otto Ludwig läßt an Schiller kein gutes Haar, erklärt aber Edmund Höfer und Hackländer für sehr große Talente. Nietzsche nennt Kant den verwachsensten Begriffskrüppel, den es je gegeben habe, und Max Nordau meint, Nietzsches Werke seien die eines Irrenhäuslers, Ausgeburten der Tobsucht, und sein Zarathustra enthielte nichts als herausgeputzte Gemeinplätze niederträchtigster Art. In unseren Tagen nennen die einen Gustav Frenssen den neuen Homer, die anderen finden ihn unausstehlich langweilig. Soviel Köpfe – soviel Meinungen; andere Kunsterziehung – andere kritische Maßstäbe. Jeder reicht dem Dichter die Palme, der die tiefste suggestive Macht auf ihn ausübt. Man gewinnt so zwar einen sehr subjektiven, aber immerhin untrüglichen Maßstab, der zunächst nur für den betreffenden Beurteiler von Wert ist, der aber auch Allgemeingültigkeit haben kann, wenn der Kritiker selber auf die Menge suggestiv wirkt, worauf letzterdings die Macht der Kritik überhaupt beruht. Wenn Heine auf den einen eine große suggestive Gewalt ausübt und also für den einen ein großer Dichter ist, hat der andere, etwa Otto Erich Hartleben, immer noch das Recht, ihn unmöglich zu finden. Welche geistige Potenz ist in diesem Falle die ausschlaggebende? Die stärkere gewiß. Aber welche ist die stärkere? Diejenige sicherlich, deren Ansicht über ein Werk uns am meisten zu interessieren vermag, die die originellste, tiefsinnigste ist, die auch formal auf bedeutender Höhe steht, und endlich, die uns auf Schönheiten, Feinheiten und Tiefen hinweisen kann, die wir selbst niemals entdeckt hätten. Nicht darauf kommt es an, daß der Kritiker uns eine verstandesmäßige exakte Definition der Schönheit eines Kunstwerkes gebe, sondern daß wir in seiner Analyse noch die tiefe Emotion verspüren, die ihm das Werk mitgeteilt hat. Er frage auch nicht: wer bist du und auf wessen Namen bist du getauft? Passest du in die Definition, die ich von dir, noch ehe du warst, schon zu geben wußte? Er muß auch nicht immer und um jeden Preis dem Künstler um eine Pferdelänge voraus sein wollen. Er unterwerfe sich nie der Tyrannei der öffentlichen Meinung – welch einer Meinung! – sondern höre stets auf seine eigene Stimme. Und dies kann er, wofern er unabhängig ist. Denn ein anderes Kriterium gewinnt man, wenn man die Meinung der Minorität – die Minorität im Goetheschen, Ibsenschen Sinne – akzeptiert; ein gerade entgegengesetztes, wenn man, die brutale Ästhetik Tolstois befolgend, sagt: »Die Kunst gehört dem Volke«, und wenn man demzufolge nur das gelten läßt, was Krethi und Plethi versteht, also etwa die Schauspiele der Vorstädte, die Romane der Provinzzeitungen oder die Musik der Wirtshäuser, nicht aber eine Hymne von Pindar, einen Dialog von Shakespeare oder eine Beethovensche Symphonie.

Der Kritiker scheue sich nicht, seine Meinung zu wechseln, sobald es für ihn innerlich geboten ist, sie zu wechseln; denn sonst wäre seine Meinung ja sein Tyrann. Und je freier die Seele und je vollkommener die Bildung des Kritikers, desto tiefer wird seine Empfänglichkeit für die Schönheiten und Fehler eines Kunstwerkes sein. Er muß beim Genuß des Werkes immer zu gleicher Zeit Überwundener und Überwinder sein. Das bedeutende Werk muß ihn besiegen, völlig unterbekommen, und doch muß er es zugleich von der Vogelperspektive aus sehen können und völlig beherrschen. Über sein Mitgefühl, das er einem Werke schenkt, soll sich sofort die Rinde des Verstandes legen. Durch das Temperament eines solchen Kritikers gesehen, werden wir gern das Kunstwerk auf eine Weile vergessen, um uns an den theoretischen Erörterungen des Kritikers zu erfreuen.

Denn jeder Kritiker sieht vermöge seiner Erziehung, seiner Bildung, seiner Gehirnkonstruktion in jedem Kunstwerke etwas anderes; den einen fesselt der Stoff, den zweiten der Stil, den dritten die Komposition, den vierten die Darstellungskraft, den fünften das Persönliche, den sechsten die Tendenz, den siebenten alles zusammen. Der achte fragt: welche Instinkte befriedigt der Dichter in mir? Welches sind die Qualitäten in Sachen und Personen, die er wertet; welches die Eindrücke und Sinnlichkeiten, die er auf besondere Weise anderen vermitteln kann? Und so weiter. Jeder Kritiker vermag uns deshalb von neuem durch seine Interessen am Kunstwerk zu spannen. Sie schauen alle in ein- und denselben Spiegel, immer aber ist es ihre Person, ihre Eigenart, die zurückgestrahlt wird. Wenn Brandes und Maeterlinck über Novalis sprechen, so erfahre ich mehr vom Geiste Brandes' und, Maeterlincks, als von dem des Dichters Novalis. Und es ist gut so; denn sonst wäre der Kritiker ja ein bloßer Wiederkäuer. Es werden bei solcher Subjektivität die Urteile naturgemäß sehr differieren, und es wird ganz von unserem persönlichen Bildungsgrade abhängen, von wessen Meinung wir uns am Ende bestechen lassen. Vergessen wir nur niemals, daß die Schönheit eines Werkes nicht dort aufhört, wo der Gesichtskreis des Kritikers aufhört. Immerhin unterschätze man deshalb die Bedeutung des Kritikers nicht. Er allein ist es, der in Zeiten künstlerischer Zügellosigkeit und Wirrnis uns befreit, die rechten Wege weist und erlöst. Und er allein schafft die geistige Atmosphäre seiner Zeit.

Aber in der Geschichte der Künste beschäftigt man sich immer nur mit den Künstlern und nie mit den Kritikern, als ob sie es nicht gewesen wären, die die künstlerischen und literarischen Revolutionen bewirkten; als ob es nicht ebenso wichtig wäre, zu wissen, mit welchen Maßstäben ein Werk gemessen würde und welche ästhetischen Forderungen man an es gestellt hat.

Ich rede allerdings nicht von dem Reporter, zu dem der Kritiker unserer Inseratenzeitungen allmählich umgewandelt wurde, ohne daß ich dadurch zum Ausdruck bringen möchte, daß ich den Reporter gering achte. Reporter ist ein ebenso ehrbarer Beruf wie Buchhalter oder Gerichtsschreiber; nur daß diese Berufe mit Kunst nichts zu tun haben. Es scheint mir überhaupt eine Absurdität, die Tätigkeit des Kritikers, die ich im Auge habe, als einen »Beruf« (wie Buchhalter oder Gerichtsschreiber) aufgefaßt und ausgeübt zu sehen. Um sich sozial zu stärken, haben diese braven Leute, die natürlich alle schreiben gelernt haben (wie Buchhalter oder Gerichtsschreiber) sogar in einem »Verein der Polziner (oder Berliner) Theaterkritiker« sich zusammengeschlossen, als ob dadurch die Perversion ihres Tuns gerechtfertigt werden könnte. Sie begreifen nicht, daß man nicht dadurch zum Kunstkritiker wird, daß einen eine Zeitungsaktiengesellschaft mit festen Bezügen verpflichtet, sondern daß man Talent haben und daß Kritik üben kein Beruf, sondern eine Berufung sein muß, die von Gottes Gnaden ist, aber nicht von Gnaden einer G. m. b. H.

Ich spreche auch nicht von jenen extravaganten Dekadents – um nicht zu sagen von jenen Clowns – die das Gebiet der Kritik zum Tummelplatz ihrer blödsinnigen Kapriolen erkoren haben und bei deren Gallimathias man das Wort Malagridas »Die Sprache ist den Menschen gegeben, um seine Gedanken zu verbergen« gern dahin ergänzen möchte: »vorausgesetzt, daß der Mensch Gedanken hat!« Aber diese kritische Manier hilfloser Stammler und geistig Impotenter hat in Deutschland seit Alfred Kerr, der ihr Vater ist, Schule gemacht. Aber man darf ihm, der als Kritiker Witz, Gedanken und vor allem Instinkt hat, nicht die Schuld dafür geben, daß man ihn mißverstanden hat und daß die Affen der Literatur, seine Art sich zu räuspern und zu spucken, nachahmen. Man darf den Vater für die mißratenen Kinder nicht verantwortlich machen, die überzeugt davon sind, daß Lessing ein Hund ist gegen sie.

»Ich schreie nach einer Zensur, wenn ich dergleichen lese. Denn dies ist sicher, daß dergleichen, ›Kritiker‹, die schon in unseren Zeiten der Pressefreiheit nichts zu sagen wissen und das Alphabet stammeln, gewiß gänzlich mund- und schreibtot wären, wenn ihnen der Zensor das bißchen Blödsinn noch austriebe. Fein, witzig, behutsam und graziös schrieb man in der Tat nur, solange man das Argusauge des Zensors über sich wußte«, sagt Börne. Es bleibt abzuwarten, ob der »Segen der Zensurfreiheit« nicht bald den innigen Wunsch nach dem Zensor in uns wiedererwecken wird. Denn die deutschen Zensoren mochten noch so große Dummköpfe sein, wie Heine glaubte; gegen solche Kritiker waren sie sicher Lessinge.

Auch nicht von dem Kritiker spreche ich, der die Metaphysik des künstlerischen Schaffens in einem Lehrbuche studiert hat, sondern von dem, der alle die Voraussetzungen, die den Künstler ausmachen, in sich selber trägt und der, um sein Amt gewissenhaft auszuüben, eigentlich nichts weiter zu tun hat, als in den Schacht seiner eigenen Seele hinabzusteigen, um die Psyche dessen, den er beurteilen will, vollkommen zu begreifen. Denn man versteht Künstler – sagt Novalis in den »Fragmenten«, in denen er sein Bestes gab – man versteht Künstler, insofern man selbst Künstler ist und wird und sich also selbst versteht.

Ich rede also vom Dichter, der zum Kritiker wurde.

Ein Kritiker, der zum Dichter wird, das wäre in der Geschichte der Künste ein völlig neues Ereignis, eine Umkehrung aller psychischen Gesetze, eine Monstrosität. Das Umgekehrte aber ist das Allgemeine und das Selbstverständliche. Alle großen Dichter wurden naturgemäß – mit innerer Notwendigkeit! – Kritiker.

Ich beklage die Dichter, die ausschließlich ihrem Instinkte folgen; ich bin der Ansicht, daß ihnen etwas fehlt. In ihrem Geistesleben tritt unfehlbar eine Krisis ein, wo sie das Bestreben haben, sich Klarheit zu verschaffen über ihre Kunst, die geheimen Gesetze zu enthüllen, dank denen sie produziert haben, und aus diesem Studium eine Reihe von Vorschriften zu gewinnen, deren göttlicher Zweck die Unfehlbarkeit des dichterischen Hervorbringens ist. Seltsam wäre es, wenn ein Kritiker zum Poeten würde; unmöglich ist es, daß ein Poet nicht einen Kritiker in sich schließe. Man wird also gar nicht erstaunt darüber sein, daß ich den Dichter für den besten aller Kritiker halte. Denn Poesie kann nur durch Poesie kritisiert werden.

Man hat sich zu dem Verdacht berechtigt geglaubt, die Musik Wagners sei nicht impulsiv, nicht spontan hervorgebracht, weil er Bücher über die Philosophie seiner Kunst geschrieben hat; dann müßte man aber auch bestreiten, daß Leonardo da Vinci, Dürer, Hogarth, Reynolds, Delacroix gute Bilder hätten malen können, weil sie die Prinzipien ihrer Kunst analysiert haben und das Tiefste über Malerei zu sagen wußten. Shakespeare, Lessing, Wieland, Herder, Goethe, Schiller, Heine, Grabbe, Hebbel, Schlegel, Novalis, Otto Ludwig, Diderot, Voltaire, Zola, Baudelaire, Wilde, Maeterlinck, Strindberg sind ebenso bewunderungswürdig als Kritiker, wie als Dichter. Und vor allem, daß ich ihn nicht vergesse, den phantasiegewaltigen und leidenschaftlichen Dichter Edgar Allan Poe, der mit einer Schärfe, die ohnegleichen ist, mit einer Ruhe, die eine Blasphemie ist, und mit einer Sachlichkeit, die beinahe an Zynismus grenzt, seine in der höchsten Inspiration geschaffenen Gedichte analysiert, als hätte er chemische Stoffe oder mathematische Probleme vor sich. Ich rede von seinem Aufsatz »Philosophie der Komposition«, der zu keinem anderen Zwecke geschrieben ist, als um zu zeigen, daß Meisterwerke nicht vom Himmel fallen, sondern daß sie mit Aufwand allen Verstandes, allen Raffinements gemacht werden müssen, und daß der Dichter auch kritische Vernunft haben muß, ohne die er in das Chaos seiner Empfindungen niemals Ordnung bringen kann. Niemand weiß das besser als der Dichter. Und keiner kennt die Entstehung, die Struktur und die Ausgestaltung einer Dichtung, ihre Bestandteile und ihre Zusammensetzung besser als der Dichter. Denn am Anfang war die Poesie, und sie manifestierte sich und veranlaßte dann zum Studium der Regeln. Gott war erst Schöpfer, ehe er Kritiker wurde, ehe er fand, daß sein Werk gut sei.

Ich leugne natürlich nicht, daß es große Kritiker gibt, die dichterisch nicht produktiv sind. Aber wenn man ihre Schriften mit Sorgfalt studiert, etwa die Paters, Emersons, Taines, Lemaitres, St. Beuves, Grimms, Brandes', Kerrs, bemerkt man an der Wahl ihrer Bilder und Worte, an ihrer intuitiven Art, die Dinge zu sehen und darzustellen, an der Musik ihrer Sprache, an der Schmiegsamkeit, mit der sie sich fremden Seelen anpassen, daß entweder ein latenter Dichter in ihnen schlummert oder daß sie den Dichter in sich bereits überwunden haben. In Goethes Leben kehren solche Perioden oft wieder.

Woher kommt es aber, daß wir eines kritischen Interpreten bedürfen? Denn entweder hat man zur Kunst überhaupt kein Verhältnis, und solchen Barbaren ist alle Kritik der Kunst sicherlich Hekuba; oder man ist kunstbegeistert, geht aber gerade an dem Bedeutenden des Kunstwerkes ahnungslos vorbei – und dann geht man freilich erst recht an dem Künstlerischen der Kritik vorbei. Diese Gruppe, – es ist die Majorität schlechthin! – genießt das Kunstwerk (sofern sie dies überhaupt genießt!) wie ein gutes Diner. Der Stoff, das Materielle ist alles, das eigentlich Künstlerische dagegen nichts. Die Majorität speist zwar mit; aber sie hat keinen Sinn für die bewußte Schönheit eines luxuriösen Tisches. Sie weiß nicht, daß eine gut gedeckte Tafel nach ihren inneren ästhetischen Gesetzen aufgebaut ist, daß Harmonie in ihr sein muß, Form und etwas, das man die Idee der Komposition nennen könnte. Nein, die Majorität weiß nicht, warum selbst ein mittelmäßiger Wein besser mundet, wenn er im silbernen Pokal kredenzt wird – wenn er ihr nur kredenzt wird.

Kommt der andere, der künstlerisch erzogene Leser, der mitschaffende, nachschaffende, den jeder Hauch, jede Berührung mit der Welt des Dichters durchschauert, der selber etwas von einem Künstler in sich hat, gewissermaßen ein Künstler ist, dem die Arme gebunden sind, dessen Mund verschlossen ist. Aber solche Leser, die gewiß in der Minorität sind, bedürfen nicht eines Führers, der sie auf Schönheiten und Mängel aufmerksam mache und der ihnen das Weltbild des Dichters erkläre. Sie erkennen in dem, was der Kritiker ihnen sagt, ihre eigenen unausgesprochenen Gedanken wieder, die nur mit einer gewissen entfremdenden Majestät zu ihnen zurückkommen. Montaigne geht sogar noch weiter, wenn er meint, daß es viel leichter sei, Gedichte zu machen, als zu verstehen. In allen Künsten – sagt er irgendwo – enthalten die Werke mehr an Schönheit und Bedeutsamkeit, als die Werkmeister beabsichtigt, ja nur gewußt hätten. Insbesondere in der Poesie aber entdecke ein künstlerisch erzogener Leser oft größere Vollkommenheiten als solche, die der Verfasser mit Vorbedacht hineingelegt oder nur wahrgenommen, und trägt tieferen Sinn und glänzendere Bilder hinein, als der Autor geahnt hat.

Bleiben die Künstler. Aber wenn wir zugestehen, daß sie die besten Beurteiler ihrer und fremder Werke sind, benötigen auch sie den Kritiker nicht. Sie bedürfen seiner nur als Gegenpol, als Mephisto, als quälendes Gewissen, als den Geist der Unzufriedenheit, der den Künstler immer weitergehen heißt, ihn nie ruhen läßt, ihn treibt und stößt, damit nie eine Stagnation in ihm eintrete, damit er das Geschaffene um so rascher überwinde und zu neuen Werken fortschreite. Das war es wohl, was Emerson meinte, als er schrieb, Tadel sei nützlicher als Lob. »Ich hasse es – sagte er, der sonst nie hassen konnte – in einer Zeitung verteidigt zu werden. Solange das Gesagte gegen mich gerichtet ist, fühle ich eine gewisse Sicherheit des Erfolges. Aber sobald honigsüße Worte des Lobes für mich erklingen, fühle ich mich wie einer, der ungeschützt vor seinen Feinden daliegt.«

Ungefähr war das auch die Meinung Lessings. Die Zahl der Künstler, die so denken, ist Legion. Goethe war aber gnädiger und – eitler. Er hielt es für fruchtbarer, den Künstler zu loben und ihm die Schönheiten – und nur diese – in seinem Werke zu zeigen. Goethes begeisterter Apostel, Hermann Grimm, hat eine noch andere Anschauung: Tadle oder lobe ein Werk, es ist gleichgültig; das Echte findet seinen Weg allein, meinte er. Laß ein verkupfertes Goldstück und eine vergoldete Kupfermünze einige Zeit kursieren, so werden sie allmählich ihre Rollen wechseln; es braucht niemand extra daran zu reiben und zu scheuern. Und in der Tat, ich denke wie Marc Aurel: der Smaragd verliert nicht an Wert, wenn ich ihn tadle, und die verstimmte Leier wird auch mißtönen, wenn ich sie lobe.

Der Kritiker, den ich mir denke, sagt keine Silbe zu viel. Jedes Wort aus seiner Feder hat vielmehr die Festigkeit eines Diamanten, und jeder Satz zieht im Geiste des Lesers Ringe, wie ein ins Wasser geworfener Stein.

Ich rede von dem Kritiker, der selber Künstler ist, der es versteht, seinen Eindruck von schönen Dingen in einen anderen Stil oder in ein neues Ausdrucksmittel hineinzutragen; dessen kritische Darstellung eine selbständige Kunst ist, wie jede andere Kunst. Ist sie dies aber, dann sollte es ebensowenig zur Sache tun, ob der Leser die vom Kritiker behandelte Persönlichkeit kennt, wie es, wenn von Porträtmalerei die Rede ist, nicht darauf ankommt, ob der Beschauer das Original kennt oder nicht.


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