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Das Mysterium des Kunstwerks

Unsere künstlerischen Triebe und Instinkte werden meist durch ästhetische Anschauungen bedingt, in denen wir erzogen wurden oder die wir in uns großgezogen haben. Dies allein erklärt aber immerhin noch nicht die Subjektivität des Geschmacks, erklärt nicht, weshalb ich etwas häßlich finde, was ein anderer als schön bezeichnet. Daß man sich so schwer über einen künstlerischen Eindruck einigen kann und irgendein Bild, irgendeine Plastik Freude in mir weckt, während sie meinem Bruder, der in den gleichen Anschauungen wie ich aufgewachsen ist, Abscheu einflößt, muß also noch andere Gründe haben als die bloße Variabilität der ästhetischen Anschauung. Und in der Tat gibt es noch eine Reihe solcher Gründe, die aus unserer jeweiligen Einstellung zum Kunstwerk resultieren: es sind die künstlerischen Probleme, die man jeweils in einem Kunstwerke sucht und findet. Halten wir uns etwa an die Darstellung des menschlichen Körpers und an das, was sich durch ihn ausdrücken läßt, so drängen sich uns schon folgende Probleme auf:

Erstens: Probleme formaler Natur; also nicht nur der nackte Körper, sondern auch die Gewandfigur als Kunstproblem.

Zweitens: Farbenprobleme.

Drittens: Schönheitsprobleme.

Viertens: Das Problem des Rhythmus und der Linien.

Fünftens: Psychische Probleme, im Ausdruck von Gemütsbewegungen und Leidenschaften oder von Stimmungen.

Aber ich habe da etwas von einem »künstlerischen Instinkt« gesagt und bin über diesen Ausdruck hinweggegangen, als hätte sich alle Welt schon geeinigt, was man darunter zu verstehen habe. Was bedeutet das Künstlerische? Wer hat es schon in klaren Worten definiert? Kann man überhaupt das Unerklärliche und Unaussprechliche definieren? Für mich ist der künstlerische Eindruck, den ich von einem Werk empfange, zunächst immer ein Mysterium; etwas, das über die Grenzen der Vernunft hinausgeht und in das Gebiet geheimnisvoller Unfaßlichkeit gehört. Suche ich meinen Eindruck von einem Kunstwerk zu gestalten, so wird mir die Feder, mit der ich über im Grunde mystische Vorgänge schreibe, oftmals zur Krücke, an der ich meine Gefühle zum Jahrmarkt schleppe. Aber wenn man das Mystische eines Kunstwerkes auch nicht zu umschreiben vermag, es wird doch sicherlich empfunden. Man betrachte das Kunstwerk und prüfe, wie weit das Werk der Natur dem künstlerischen Ideal nahekommt oder wie weit es hinter ihm zurückbleibt. Das Künstlerische ist dann nichts anderes als der Unterschied, der beispielsweise zwischen einem lebenden photographierten Akt und einem gemalten oder gemeißelten Werke besteht, das denselben Menschen darstellt. Die Bilder der Wirklichkeit gehen im Kopfe des Künstlers gewissermaßen durch eine klärende Filter, und die wechselnde Art, wie das geschehen kann, ist eben das Geheimnis der Künstlerindividualität. Das Modell eines Kunstwerkes braucht nicht immer schön zu sein; es kann sogar so unvollkommen sein, daß es neben dem Kunstwerk fast als Karikatur wirkt. Der Künstler sucht aber mit Meißel oder Pinsel über die Natur zu triumphieren. Er will sein Werk schöner als das der Natur oder anders ausgedrückt: er will das Werk der Natur in seiner Schöpfung zu seinem eigenen Werke machen; er will das Seelenlose beseelen, die Natur empfindsam machen, mit Gefühl durchtränken, sie der Menschheit schenken. Er sagt der Natur, daß sie eine Stümperin sei und daß, wäre er der Schöpfer, die Frauen wirklich die Krone der Schöpfung sein würden. Freilich, er sagt es nicht immer, und wir beklagen die sehr häufigen Fälle, wo der Künstler an der Natur herumstümpert, wo er weit hinter ihrem Können zurückbleibt. Wenn ich mir einen schönen photographischen Akt ansehe und ihn mit manchen modernen Skulpturen oder Bildwerken vergleiche, ist es zweifellos, daß ich der Natur den Preis zuerkenne, die bei der Schaffung eines Menschen fast immer künstlerischen Sinn offenbart und die Bütte der Schönheit mit vollen Händen über ihre Werke auszuschütten liebt. Aber ich habe Werke gesehen von Künstlerhand, die Abscheu erregen müssen, Werke, die keine Verherrlichung der menschlichen Linien waren, sondern der verzerrte Ausdruck irgendeiner Perversion, bestenfalls einer Theorie.

Es wird noch klarer werden, was ich unter »künstlerisch« und unter »künstlerischer Individualität« verstehe, wenn man beispielsweise die »Nacht« Michelangelos mit einem Akt vergleicht, der in dieselbe Pose gebracht ist und der die Natur vorstellen soll. Die künstlerische Darstellung Michelangelos wird daneben viel natürlicher und der entsinnlichte Marmor wird weit sinnlicher wirken, als ein lebendiger Akt. Wer noch weitere Kommentare benötigt, wird mich nie verstehen.

Die Erklärung des Künstlerischen war bisher ausschließlich der Ästhetik vorbehalten. Diese ging aber nie von einem bestimmten Kunstwerke aus, sondern verlor sich in allgemeinen Betrachtungen und rein begrifflichen Schlußfolgerungen. Eine künstlerische Ergründung der menschlichen Gestalt kümmert sich aber um keine Schönheitslehre – das Wort Lehre im Schulsinne genommen – und hat keine moralischen Interessen; sie stellt nur fest, was das Auge vermittelt; alles andere schaltet sie aus. Nur eine fortwährende Beschäftigung mit Kunstwerken ermöglicht es, tiefer in sie einzudringen und den symbolischen Kreis, der jedes Kunstwerk einschließt, zu sprengen. Am schwierigsten ist dies bei der menschlichen Gestalt, wo eine große Summe verschiedenartiger Momente zusammenkommt, um einen Eindruck hervorzurufen. Die bestimmte seelische Ausdruckskraft, die das Geheimnis der Anziehung bildet, die jede menschliche Körperform ausübt, kann aber nicht in jedem Künstler die gleiche Wirkung hervorbringen oder dieselbe Stimmung auslösen. Darum drängt sich zunächst die Frage auf, wie ein Kunstwerk entsteht und wird. In jedem einzelnen Falle müßte man verfolgen, wie sich der Künstler zur Natur verhält. Wüßte man dies, dann hätte man allerdings noch immer keine Erkenntnis des wesentlich Künstlerischen, das zwar darin läge, aber nicht losgelöst von seinem Gegenstande gedacht werden könnte. Fragt man dann, warum der eine Künstler in der Darstellung derselben Pose von dem anderen abweicht, so wird man finden, daß es Temperamentsunterschiede, Unterschiede des Blutrhythmus sind, beeinflußt durch Ort und Zeit, durch Luft und Wetter, durch Erziehung und Umgebung, die die ästhetischen Anschauungen des Künstlers und seine künstlerischen Probleme bedingen und bestimmen und die Unterschiede erklären. Verfolgen wir einmal den Weg, den der Künstler zurücklegt. Er, dem sich alles in Bewegung wandelt, der in allem den Rhythmus des Universums fühlt, empfängt verschiedene Eindrücke von der menschlichen Gestalt. Die Bewegung eines Kopfes, die Haltung der Schultern, das Ausstrecken der Hand, der geistige Ausdruck eines Antlitzes, der schöne Schnitt eines Mundes haben eigenartigen Charakter genug, um im Gedächtnis des Künstlers zu haften. Die empfangenen Eindrücke werden in ihm lebendig bleiben, sich vielleicht zu einem Ganzen formen und bei dem Schaffen seiner Phantasie tätig mitwirken. Aber wie formt sich das Werk in des Künstlers Seele?

Es entsteht in ihm eine Spannung zwischen Form und Farbe, zwischen Stimmung und Gestalt; das Auf und Nieder der Flächen beginnt in ihm zu wogen; er trägt das Jauchzen und die Melancholie der Linien in sich; Stoff und Gedanke suchen sich in seiner Phantasie zu vermählen. Denn diese lebendige Dreiheit ist die Voraussetzung, daß der Künstler ein Kunstwerk schaffe: der vom Gefühl durchtränkte Gedanke, die den Gedanken befruchtende Phantasie und die Bewältigung beider durch das gestaltende Können. Ohne diese heilige Dreieinigkeit in der Seele ist noch nie ein Kunstwerk geworden. Denn was im Künstler durch einen empfangenen Eindruck lebendig bleibt, sind, rational gesehen, nichts anderes als vage Elemente der Form: Linien, Flächen und Massen. Man müßte nun den Charakter der einzelnen Linien verfolgen, ob sie gerade oder gebogen sind, ob Teile eines Kreises oder einer Ellipse, vertikal oder horizontal, divergierend oder konvergierend, symmetrisch oder asymmetrisch, harmonisch oder kontrastisch. Dann wäre die Art der Flächen festzustellen: verlaufen sie konkav oder konvex, jäh bäumend oder sanft anschwellend usw. Eine zusammenhängende gleichartige Fläche fassen wir als Masse auf (z. B. der Leib, der Schenkel); diese Masse hat wieder verschiedene Bewegungsmöglichkeiten (Muskelspiel), und bei verschiedenen Bewegungen erhält jeder einzelne Körperteil einen neuen ästhetischen Reiz und Wert. Selbst bei derselben Bewegung (z. B. der hochgestellte Schenkel der »Nacht« Michelangelos) genügt es, daß die Beleuchtung einmal von anderer Seite komme, um alle Konturen verändert erscheinen zu lassen.

Wollte man das Problem der Form des menschlichen Körpers durch das Feststellen der Proportionen ergründen, so würde man schon daran scheitern, daß man sich von den Proportionen und ihrem Verhältnis untereinander keine Vorstellung machen kann; wir sehen ja nicht in Linien, sondern in Flächen und Massen. Wenn Dürer auch Köpfe konstruiert hat, so sind doch diese Konstruktionen nicht abstrakt gefunden, sondern aus früher empfangenen Eindrücken, die aufgenommen und zerlegt wurden, hervorgegangen.

Die Beziehung und der Einfluß der Farbe auf den Eindruck der Form bewirkt gleichfalls verschiedene Modifikationen. So erscheint eine plastische Form verändert je nach einer gleichen darüber ausgebreiteten Farbe oder nach Farbenkontrasten. Man denke nur an die Farbe des Haares und ihre Wirkung auf die Gesichtsfarbe, an die Haargrenze (an der Stirn und an den Schläfen), an die Augenbrauen und ihre Wirkung auf die Form des Auges, die Röte und den Schnitt der Lippen. Selbst bei ganz gleicher Statur und Form im einzelnen wäre der Eindruck eines blonden und brünetten Typus völlig verschieden voneinander. Folglich besitzen Farben an sich bestimmte Gefühls- und Stimmungswerte. Durch ihr Anhaften an Formen, die ja wiederum an sich einen bestimmten Eindruck erwecken, werden sie nun verändert, gesteigert oder abgeschwächt. Insofern wirkt eine Linie bald schwer oder anmutig, bald energisch oder kraftlos. Bei diesen psychologischen Gründen spielt unverkennbar eine gewisse Symbolik der menschlichen Gestalt mit. Irgendeine äußere Erscheinung des Körpers wird uns zum Zeichen und Symbol für seinen geistigen Inhalt. Daß der menschliche Körper, abgesehen von dem geistigen Strom der Physiognomie, bestimmte charakteristische Eigenheiten aufweist, die das Temperament und die Seelenart verraten, ist zweifellos. Besonders die Kunstwerke zeigen uns, daß die menschliche Erscheinung immer einen gewissen geistigen Zustand oder eine gewisse Stimmung mitteilen kann. Man denke nur an die Gestalten der Mediceergräber, an die Werke Rodins, wo das Mimische fast ganz nebensächlich behandelt ist, die Körper aber dennoch in jeder Linie bedeutungsvoll, stimmungsreich und charakteristisch sind. Unter den modernen Künstlern läßt dies Pechstein am besten sehen.

Mit welch einer Stärke das Psychische aus den Bewegungen spricht, zeigen die Werke mancher expressionistischen Künstler, die alle Details verschmähen und das Seelische nur in großen Linien ausdrücken, während andere Expressionisten wiederum nach dem Ausdruck reiner Form streben, sozusagen nach der »Form an sich«, und absichtlich jeden Affekt vermeiden. Wenn schon die Körperhaltung Trauer, Ekstase oder irgendeine andere Empfindung auszudrücken vermag, ist es nur konsequent, zu zeigen, daß das Mittel, durch das man die Haltung eines Körperteiles darstellt, nämlich die Linie, durchaus hinreichend ist, um einen künstlerischen Eindruck wiederzugeben. Alles andere Drum und Dran verweisen diese Künstler darum mit Recht in das Gebiet der Literatur oder der Anekdote.

Ebenso kann die Körperhaltung wiederum für ganze Stilperioden charakteristisch sein, so bei den einzelnen Epochen der griechischen Kunst, die gewundene Stellung der Gotik, die energische gerade Haltung in der Renaissance, das Drehen und Winden der einzelnen Gliedmaßen der Sklaven des Juliusgrabmals, das später charakteristisch wird für die gesamte Epoche des Barock.

Sichtbarer als der Rhythmus der Linie ist der Rhythmus der Bewegungen. Michelangelo bleibt selbst in den gequältesten Verschränkungen rhythmisch, Dürer ist sogar in der Darstellung einfacher und ruhiger Bewegungen so unrhythmisch wie möglich.

Ein empfindungsmäßiges Beobachten aller erwähnten Momente und die Fähigkeit, diese Einzelheiten zur Synthese zu vereinigen, geben dem Beschauer einen deutlichen Eindruck von dem Künstlerischen eines Werkes. Ein solcher Eindruck bringt dem Beschauer zunächst zum Bewußtsein, daß jedes Kunstwerk von einem Geheimnis eingeschlossen ist, das nur erfühlt, erahnt, aber nie beschrieben werden kann. Es ist das Unfaßbare, die Aureole. Das Werk, das nicht von ihr umflossen ist, hat mir nichts zu sagen.


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