Josef Ponten
Der babylonische Turm
Josef Ponten

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Einleitung

Der erste Haufen Geld

Der Maurer ging mit langen Schritten die Stube auf und ab. Die Dielen knarrten. »Nimm die Bibel, Ziska.«

Franziska, hinter dem weißgescheuerten Tische sitzend, griff hinter sich und nahm die schwarze Bibel. Sie zog die Kerze näher, knipste das verkohlte Dochtende ab und öffnete kräftig das Buch.

»Laß sehen«, sagte der Mann, griff über den Tisch und drehte das Buch sich zu. »Das ist gut«, meinte er, und seine Lippen zuckten. Sie sah ihn mit schmalen Augen an und sagte: »Du hast Ärger auf dem Bauplatz gehabt?« – »Bah!«

»– – Du hast doch nicht etwa dem Meister gekündigt, Hermann?« – »Wie sollte ich! Was sollten wir denn anfangen?« frug er und sah sie gespannt an. Er schien sich zu fürchten. »Lies«, sagte er trocken.

»Und sie sprachen zueinander: Wohlan, laßt uns Ziegel streichen und brennen! Und sie nahmen Ziegel als Stein und Thon als Kalk, und sprachen: Wohlauf, laßt uns einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reicht, auf daß wir uns einen Namen machen!«

6 Der im Gehen zuhörende Mann drehte sich vorzeitig um. Die Diele knarrte laut. »Das waren Leute! Daß ich da hätte Handlanger sein dürfen! Das waren keine Krämerleute! Die bauten nicht für den gemeinen Zins!« – »Worüber hast du dich geärgert, Hermann?« – »Bauen, Franziska, bauen! Ach, wer das einmal so recht aus dem vollen könnte! Kirchen, Schlösser, Paläste, Tore, Hallen, Denkmäler! Noch besser – denn das alles dient noch Zwecken und wird bezahlt – bauen, nur bauen, damit man sage: Dies alles hat ein Mensch gemacht! Einen Turm bauen, der bis an die Wolken ragt, auf daß wir uns einen Namen machen, den die Völker bestaunen! Die Bibel ist doch ein Buch! Daß ich damals lebte, als man solche Bücher schrieb und solche Türme baute!«

»Du bist noch jung. Du hast deine Lehre bestanden, bist auf Wanderschaft gewesen und verstehst zu mauern.« – »Ob ich das verstehe, Franziska, weiß Gott! Besser als der Vorarbeiter, nimm's nicht übel. Der legt einen Stein neben den andern und denkt sich nichts dabei. Als ob das Mauern wäre! Eine Läuferreihe, eine Binderreihe. Hier, wo's nur füllen soll, verschwendet er den besten Stein und da, wo's zu tragen hat, legt er den morschen und schädigt den Unternehmer. Jeder Geselle sollte bauen, als ob es für eigene Rechnung wäre! Das ist anständig! Wenn ich einmal Meister sein sollte . . .« – »Du wirst doch sicher Meister werden! Wie kannst du reden?«

»Ziska, bauen! Hör', von so einem Turme träum' ich.« Er schob einen Stuhl heran und setzte sich seiner Frau gegenüber. »Es sind ja nur Gedanken, die ich spinne, wenn in der Kirche die Orgel braust, oder 7 nachts, wenn ich nicht schlafen kann. Aber es sind doch keine Fantastereien, so etwas ist doch wirklich schon gebaut worden. Die Bibel sagt es ja.« – »Dann ist es wahr«, stimmte Franziska zu. »Wie sieht der Turm denn aus?« frug sie. – »Ich habe da Entwürfe auf dem Reißbrett gemacht, aber ich wage sie niemand zu zeigen. Die Gesellen lachen mich aus. Du sollst zu niemand davon sprechen. Ich habe mir gedacht, wenn ich die Geschichte von dem Turme las: Wie sah der Turm denn aus? Und da habe ich versucht, ihn im Geiste wiederherzustellen. Sieh, hier.« Er nahm eine dicke Rolle an sich, die von Franziska unbeachtet in der Ecke gestanden hatte, zog die Röhre des Packpapiers davon ab und entfaltete eine Zeichnung. Das untere Ende schob er Franziska zu, sodaß die Zeichnung für ihn auf dem Kopfe stand. Die Rolle ließ er auf seinen Schoß fallen, wo sie sich abwickelte, indem er das knatternde Papier, es an den Seiten fassend, langsam über den Tisch hinschob.

Da las Franziska, indem sie mit dem Finger an den Buchstaben vorüberglitt: »Der Babylonische Turm. Versuch einer Wiederherstellung. Von Hermann Großjohann.« Sie zog das Papier über die Tischkante herab und ließ das Ende, indem sich neue Teile ihr zuschoben, auf ihren Schoß niederfallen, wo die Rolle sich wieder aufwickelte.

»Nun bin ich aber neugierig, wie das aussieht!« rief sie. – »Groß! Groß!« sagte er so heiß, daß sein glühender Atem sie über den Tisch hinweg erreichte, »nur wenig an äußerer Form, denn es muß als Ganzes wirken!« – »Ist das schon alles?« frug sie, auf die Zeichnung mit ihren kurzen Fingernägeln 8 deutend, »so hoch wie unser Kirchturm muß er doch werden.« – »Das sind nur die Fundamente. Das steckt alles in der Erde. Ohne das geht es nicht.« Er schob ihr die Rolle weiter zu, sodaß die Fundamente in ihrem Schoße versanken und ein neues Bild die Tischfläche zwischen der Kante hüben und drüben füllte. – »Aha, das also ist der Turm!« rief sie. – »Nein, das ist nur das Erdgeschoß!« – »Wieviel Stockwerke soll der Turm denn haben?« frug sie, von der Zeichnung aufsehend, »drei wie unser Kirchturm?« – »Drei? Was denkst du? Zwanzig, dreißig, vierzig, was weiß ich? Auf die Fundamente, die du da eben sahst, kann man schon etwas draufsetzen.« – »Aber das ist ja mehr breit als hoch!« behauptete sie. – »Wir sind ja noch immer unten an der Erde. Und breit soll das Ding überhaupt sein, nicht so 'ne Nadel wie der Eiffelturm. Breit, breit und aus altem Stein und Holz, nicht aus windigem Eisen.« – »So, so,« sagte sie, in den Linien forschend, »wir sind noch immer an der Erde. Und das unterste Stockwerk vermietest du an einen Händler, wie der ist, der die Halle unter dem Rathausturm der Stadt hat. Der soll hohe Pacht zahlen.« – »Nein, Ziska, das verstehst du nicht. Da unten sind die Mauern ganz dick. Denk' doch, wieviel noch drauf kommt. Da kann niemand wohnen. Der Raum soll offen bleiben, und Handwerksburschen auf der Walze dürfen darin nächtigen. Ich habe oft genug auf der Polizeistube die Nacht verbringen müssen, als ich auf Wanderschaft war. Deshalb werde ich mir diese Verwendung ausdrücklich ausbedingen, wenn ich den Turm dem Staate schenke.«

»Schenke?« – »Schenke!«

9 Sie schüttelte den Kopf. Er verschob wieder die Rolle, die Mauerklötze sanken in ihren Schoß, und ein neues Bild füllte den Tisch.

»Siehst du, Ziska, wie die Mauermasse allmählich ab- und der umbaute Raum zunimmt, können jetzt Anstalten und Gesellschaften untergebracht werden. Was du da gerade vor dir hast, ist eine öffentliche Bücherei. Da gehen 500 000 Bände hinein. Und was jetzt auf dem Tische liegt, ist der Lesesaal –« – »Da hast du ja auch Figürchen gezeichnet!« rief sie überrascht, »so klein!« – »Aber denk' dir doch die Maße des Ganzen, Ziska, daneben verschwindet ein Mensch. Sie sitzen an Tischen und lesen. Kannst du es erkennen? Ich bin nicht sehr sicher im Figurenzeichnen. Es sind 1000 Tische in dem Saale und 3000 Plätze. Und nun kommen« – er ließ die Rolle eine Weile schnell ablaufen, sodaß es Franziska ein wenig wirr vor den Augen wurde – »Räume für gelehrte Gesellschaften. Das hier ist eine Kirche, im Mauerpfeiler siehst du die Treppen und Aufzüge –« – »Eine Kirche?« unterbrach sie, die Hände auf die vorübergleitende Rolle legend; »wie klein ist der Altar!« –

»Sag' lieber: wie groß ist die Halle. Denk' dir doch endlich die Maße des Ganzen. Der Altar ist so hoch, daß er in unsere Kirche überhaupt nicht hineingehen würde. Denk' dir, daß allein diese Halle höher ist als unser Kirchturm. So, nun kommt die evangelische Kirche.«

»Was,« rief sie erschrocken, »die blauen Geusen sollen auch eine Kirche haben?« – »Natürlich! Natürlich! Die verehren doch denselben Gott. Aber ihre Kirche kommt nach der katholischen. Die katholische geht vor, das gehört sich so. Und nun kommt« – 10 ein neues Bild stieg herauf – »die Kirche der Juden.« – »Aber Hermann!« – »Ja, die auch!« – »Die den lieben Heiland gekreuzigt haben?« beschuldigte sie. – »Die von heute waren ja nicht dabei, und wer weiß, was wir getan hätten, wenn wir damals gelebt hätten. Wenn der Heiland wie damals so aufrührerisch gegen die geistliche Obrigkeit predigte!« – Franziska schüttelte den Kopf. »Du bist ein lutherischer Klöppel in einer katholischen Glocke«, meinte sie.

Hermann lachte und ließ einen Tempel »für Leute, die nicht glauben« vor der entsetzten Franziska vorübergleiten. »Siehst du,« sagte er, mit dem langen Nagel seiner kräftigen Hand auf die schraffierten Mauerteile deutend, »die Pfeiler werden dünner, denn wir sind höher gekommen.« – »Sind wir denn nicht bald oben?« frug sie. – »Oben?« lachte er. »wir sind doch erst im fünften Stocke.« – »Mir wird ganz schwindlig!« Sie griff an den Kopf.

»Du brauchst ja nicht hinauszuschauen. Sieh, hier sind wir in einer Halle, in der das Volk seine Andenken unterbringen kann, eroberte Fahnen oder alte Kaiserkronen oder was es hat.« – »Da sind einmal richtige Leute,« rief sie, »die kann man erkennen!« – »Das glaub' ich, Ziska, die sind sieben- bis zehnmal lebensgroß. Du würdest dem da kaum bis an die Knie reichen und bist doch keine kleine Person. Denn wir sind in einer Denkmälerhalle für die Geistesgrößen.« – »Und das sind Soldaten!« rief sie, »die hast du aber gut gezeichnet!« – »Soldaten zeichnen ist auch leicht. Die sind so steif, daß sie auch einem steifen Finger gelingen. Wir sind in einer Feldherrnhalle. Und nun kommt der Palast für den König.« 11 – »Endlich einmal einer, der zahlen kann!« sagte Franziska, die Hand schwer auf die Rolle legend. – »Ach was, zahlen! Ich stell' ihn dem Könige zur Verfügung.« – »Wenn es ihm nun aber zu teuer ist?« – »Nichts von teuer und billig! Ich schenke ihm das.«

»Wieder schenken?« frug sie. – »Schenken! Ja! Ja! Schenken! Alles Große, was die Menschheit bekam, hat sie sich schenken lassen, hat sie sich oft gar aufdrängen, aufzwingen lassen. Nur das Kleine hat sie bezahlt, denn nur das Kleine kann sie bezahlen. Nun kommt eine Dichterstadt . . .« – »Da sind ja Zellen wie in einem Kloster!« sagte sie. – »Ja, an ein Kloster hab' ich gedacht. Das sind die schönsten Orte der Sammlung. Jeder bekommt zwei oder drei solcher Zellen. Ich denke mir das so ähnlich wie ein Trappistenkloster. Schweigen und arbeiten ist da die Losung.« – »Ob die aber in ein Kloster gehen?« – »Das können sie halten, wie sie wollen. Es wird ja auch kein richtiges Kloster. Überhaupt kann jeder tun, was er will. Sie sollen nur eine ordentliche Wohnung haben, und ich werde vorschlagen, ein paar Klöster im Lande aufzuheben und ihre Einkünfte dem Dichterkloster zuzuwenden.« – »Hermann! Hermann!« tadelte Franziska; »und an Leute, wie du bist, denkst du nicht. Die, welche Bauzeichnungen machen . . .« – »Alles bedacht! Alles vorgesehen! Die müssen viel höher hinauf, die Maler und Architekten, denn die brauchen Himmelslicht. Die Pfeiler sind noch immer beträchtlich, wie du im Querschnitt sehen kannst.« – »Wie hoch sind wir denn eigentlich?« frug sie mit großen Augen. – »Vielleicht so hoch wie die Kreuzblumen auf den Kölner Domtürmen.«

12 Sie sagte nichts mehr, sie schüttelte stumm den Kopf.

»Nun kommt noch alles mögliche,« sagte Hermann, die Rolle über den Tisch weg ablaufen lassend, »ich habe mir da keine besondere Verwendung mehr gedacht. Das kann man alles später überlegen, denn die Hauptsache ist, daß wir hochkommen. Wir müssen ja bis an die Wolken heran . . .«

»Hast du deine Werkkiste mitgebracht?« frug Franziska aufsehend plötzlich dazwischen. – »Meine Werkkiste mit Kelle, Lot und Wasserwage?« frug er mißtrauisch und erstaunt, »die brauch' ich doch auf dem Bauplatz.« – »Ich dachte, du brauchtest sie nicht mehr«, sagte sie ausweichend und wieder auf die Zeichnung schauend. – »Die kann ich doch erst mitbringen,« sagte er, auch die Zeichnung betrachtend, »wenn ich dem Meister kündige«, und sah sie plötzlich scharf an. – »Nun, ich hab' mir gedacht, du . . . du . . . Ich hab' doch keinen Wäscheschrank!« rief sie; »du weißt doch, daß ich bald mehr Wäsche brauche. Wir haben ja nur Bett, Tisch und Stühle. Wir haben zu früh geheiratet, Hermann.« Sie legte die Arme auf die Zeichnung und den Kopf darauf.

Das Licht der Kerze spiegelte sich in dem glattangelegten schwarzen Haar des Kopfes, über den eine weiße Scheide lief. – »Du wirst doch nicht weinen, Ziska«, sagte er, über den Tisch weg ihr Haar streichelnd; »wir haben's eben gewagt, und Gott wird weiter helfen. Du liegst mit deinen Armen auch gerade in dem lieben Gott seiner Wohnung.« – »Wie?« rief sie erschrocken.

»Siehst du, das soll das kühnste an Baukunst werden, was die Menschen sahen. Ich werde da Gewölbe 13 versuchen, die man sich nicht träumt. Die schweben wie Wolken, so hoch und so schön, daß Gott selbst mit seinen Engeln und Heiligen sein Quartier bei mir aufschlagen mag. Dann wird kein Lästermund mehr das freche Wort aussprechen, daß es keinen Gott gäbe, weil eine Wissenschaft ihm die Wohnung genommen habe. Nach außen glänzt die offene Halle in Kupfer, siehst du, ich habe das durch weiße und grüne Tusche anzudeuten versucht, und Mond und Sterne spiegeln sich darin. Denk' dir, wie das über die dunkle Welt leuchten wird! Jetzt sind wir ganz oben – ich weiß nicht genau, wie hoch – es kommt noch ein Turm – laß etwas schneller ablaufen, Ziska, zieh am Papier, damit du eine Vorstellung von der Größe dieses Türmchens bekommst, es geht nicht ganz auf die Tischfläche drauf. Dieser Turm allein ist nämlich so hoch wie unser Kirchturm und ist doch nichts weiter als der Blitzfängerstab auf dem Ganzen. Er ist aus gediegenem Stahl. Glockenspiele sind in diesen Nebentürmchen, und auf allen sind goldene Hähne drauf. Und jetzt, was jetzt die Tischfläche füllt, ist nichts weiter als der metallene Turmknauf, und darin kann noch ein Einsiedler wohnen, den es über die Menschen hinausverlangt.«

»Das ist ja verrückt!« fuhr Franziska auf und schlug auf den Tisch, »das kann man nicht bauen!« Das Ende der Rolle lief über die Tischplatte her, und ihre Faust wurde von dem dicken Papiere eingefangen. Sie sprang auf, die Rolle in ihrem Schoße aber zog noch das Ende ein, sie faßte die Rolle und schleuderte sie in die Stube. »Das ist ja verrückt! Das ist Gotteslästerung!«

Hermann, auf seinem Stuhle sitzend, bedeckte das 14 Gesicht mit den Händen, und seine Schultern zuckten. »Du hast recht, Ziska, es ist verrückt. So träum' ich . . . so träum' ich und bin ganz marode davon. Aber muß man denn alles bauen können, was man träumt –?«

Sie trat an den Tisch zurück, reichte darüber hin und fuhr ihm mit der Hand über das dunkle krause Haar. Da zuckten seine Lippen, und er sagte: »Wenn ich so träume, sind mir die Tränen nahe.« Nach einer Weile sagte er: »Ich möchte einmal etwas Schönes bauen, das Haus für einen reichen Mann oder eine Dorfkirche für den lieben Gott, und bin ein Maurergeselle unter streitsüchtigen Menschen.«

»Und nachts, Hermann?« – »Du weißt es, Ziska? Ich dachte, du weißt es nicht: Dann träume ich immer von großen Bauten.« – »Ich höre dich reden, ich liege ganz still, denn ich kann dir nicht helfen. Ich kann nichts erwerben, aber ich will es zusammenhalten, ich will sparen, sparen . . .« Er legte ihr seine Hand hin und sagte, als sie die ihre hineinlegte: »Ich weiß das! Ich weiß das! Du bist das Größte zu erleiden fähig. Wir beide wollen doch etwas Großes erreichen in dieser Welt der Nichtigkeiten. Wir beide können es. Nichts sei zu bitter, zu hoch und zu dunkel! Mit dir kann ich alles!«

»Mit dir!«

»Nein, mit dir!« – »Nein, mit dir!«

»Es ist gut! So lies noch etwas aus dem Buche, Ziska!«

»Da sprach Gott: Was unterfangen sie sich zu tun? Ich will niederfahren und ihre Sprache verwirren, daß keiner den andern verstehe. Und der Herr fuhr nieder und verwirrte ihre Sprache, daß keiner den 15 andern verstand. Wenn der Bauleiter befahl: bringe Steine, so brachte der Geselle Mörtel, und das Wasser gossen sie in das Häcksel statt in den Kalk.«

»Haha!« lachte Hermann. Franziska schaute vom Buche auf und sah ihn strenge an. Da er nun auch nichts sagte, fuhr sie zu lesen fort: »Da sprachen sie: wir wollen den Turm lassen, und jeder soll seines Weges in der Richtung gehen, wo er gerade ist . . .« – »Das ist ja alles Unsinn!« rief Hermann und sprang auf, »warum sollen sie einander nicht mehr verstanden haben?« – »Lästere nicht,« befahl Franziska, »das hat Gott geschrieben.« – »Ich versteh' das nicht«, sagte Hermann kopfschüttelnd. Er wanderte wieder auf und nieder, und die Dielen knarrten.

 

Am nächsten Nachmittag, Ostersonntag war es, klopfte es, und der welsche Bauer trat herein. Frau Franziska saß und strickte. Der Bauer hatte ein glattgeschorenes Gesicht und trug eine blauleinene faltenreiche lose Bluse, die so glatt gebügelt war, daß die Falten spiegelten, einen kleinen Strohhut, Ringe in den Ohrläppchen und einen gelben weichen Riedstock in der Hand. Er saß auf dem Stuhle, hatte die Hände auf den Knopf des Stockes gelegt und drückte ihn spielend zu einem flachen Bogen ein. Er sah sich mit kleinen rotgeränderten Augen im Zimmer um. Besonders betrachtete er Frau Franziska. Sie empfand eine heftige Abneigung gegen den Mann, stand auf und ging, ohne ein Wort zu sagen, in die Nebenstube. Sie dachte: »Er sieht mich an, als ob er mich mit den Augen wiegen könnte wie ein Kalb.« Dort setzte sie sich ans Fenster und strickte. Mittlerweile sagte drinnen der Bauer zu Hermann Großjohann: 16 »Ich möchte wohl so 'n Schweineställchen gebaut haben.«

Großjohann stand auf, lief in die Nebenstube, legte den Arm um den Hals Franziskas und flüsterte mit leuchtenden Augen: »Er möchte wohl so 'n Schweineställchen gebaut haben.« Franziska ließ die Nadeln sinken und verlor den Stich. Doch sie achtete es nicht, sie folgte schnell ihrem Manne in die Wohnstube, setzte sich zwischen ihn und den Bauer und frug freundlich: »Ihr möchtet wohl so 'n Schweineställchen gebaut haben?« – »Ja,« sagte langsam der Bauer und umfuhr sie wieder mit seinen roten Äuglein, »ich möchte wohl so 'n Schweineställchen gebaut haben. Ja . . .« Dann schweiften seine Augen und anscheinend auch seine Gedanken ins Leere, sodaß Frau Franziska sich ihm näherbeugend erinnerte: »Das Schweineställchen . . .?« – »Dann können wir nach den Feiertagen beginnen«, sagte Großjohann, dessen Beredsamkeit vor Herzklopfen versiegt war. Nun sahen die drei einander an, stumm, erstaunt, fragend. Da sagte Hermann schnell: »Ich will es dir sagen, Franziska, ich habe doch dem Meister gekündigt.« – »Das ist gut,« sagte diese schnell und zu dem Bauer: »Dann kann er nach den Feiertagen beginnen.« – »Das hab' ich nicht gedacht,« sagte der Bauer, »daß Ihr ohne Arbeit seid, Maurer. Ein Arbeiter ohne Stelle ist wie ein Mädchen ohne Unschuld. Dann kann ich das Schweineställchen nicht bauen.« Und machte Miene aufzustehen.

»Ich will mich nämlich auf mich selbst stellen, müßt Ihr wissen«, sagte Großjohann voll Angst. – »Er will sich nämlich auf sich selbst stellen«, sagte Frau Franziska voll Angst. Der Bauer sah 17 schweigend zwischen den beiden hin und her. – »– Dann will ich das Schweineställchen bauen«, sagte er langsam.

An diesem Abend in der dunkeln köstlichen Stunde vor dem Einschlafen genossen Hermann und Franziska das vollkommene Glück. Sie berieten und waren selige Bauleute. Erst nach Mitternacht schlief Franziska und gegen Morgen Hermann ein. Er baute träumend in der Stunde, die er noch bis zum Frühlicht schlief, eine ganze Stadt.

 

Heute war der welsche Bauer dagewesen und hatte die Schuld für den Stallbau beglichen, indem er einen Eimer mit Mark, Groschen und Pfennigen, wie er sie für Milch und Käse in der Stadt eingenommen, auf den Tisch stellte. »Zählt nach, ob's stimmt«, hatte er gesagt und war fortgegangen. Den ganzen Nachmittag bis in die Nacht hinein hatten sie gezählt. Jetzt saßen sie da, zu müde, zur Ruhe zu gehen. Die Kerze brannte, und es war still.

Auf dem Tische lag der Berg Geld, die Pfennige wie Sand, die Groschen wie Kies, die Mark wie Steine. Daneben stand der Eimer. Franziska hatte die Arme auf den metallenen Hügel gelegt und den Kopf auf die Arme. Sie schlief nicht, sie schien zu schluchzen oder zu beten. Hermann sah im Halbschlummer, wie Tränen über ihre Wangen liefen. Er sah, wie die Träne auf einen Groschen fiel und im Gefieder des Reichsadlers hangen blieb. Nun richtete Franziska den Kopf auf, Haarsträhnen und die gelösten Flechten fielen zur Seite ihres Hauptes herab, sie griff mit beiden Händen in den Geldhaufen und rief: »So viel Geld! Gott, kann es so viel Geld geben?« 18 Sie ließ die Groschen durch die Fingerlücken fallen, wie man Sand zwischen den Fingern zurückrieseln läßt, und sie murmelte: »So viel Geld!«

Hermann wurde wach, stand schnell auf, trat an den Tisch und faßte den Arm Franziskas, denn es sagte ihm etwas, er müsse das Treiben dieser Frau einhalten. Sie hob das Gesicht zu ihm auf, schaute ihn mit halb glasigen Augen an und sagte: »Tu' mir einmal weh, Hermann! Ich zerspringe!«

Er preßte ihren Arm. Da sie es aber nicht fühlte, ließ er ihn wieder auf den Pfennigberg zurückfallen. Ihr schwindelte, sie fühlte Übelkeit in Magen und Mund. Dann breitete sich Dunkelheit über ihren Geist, während ein Faden Speichel aus dem Winkel der Lippen lief und im Haufen der Groschen und Pfennige versickerte. Die Kerze brannte zu Ende und erlosch, und Großjohanns schliefen, erschöpft von Arbeit, Tränen und Träumen, schwer und traumlos bis in den hellen neuen Tag.

 

»Ist das immer so, Frau Helfereich?« frug Franziska die Hebamme. – »Was?« frug diese, ohne sich zu rühren. – »So . . . so . . . daß man sich so quält?« – »Junge Frauen!« antwortete die Hebamme, die nackten Arme vor der Brust gekreuzt, ohne sich zu rühren. – »Ach,« sagte Frau Franziska, »warum ist das immer so . . . daß junge Frauen . . . sich so quälen?« – »Die anderen Male wird's besser gehen«, sagte Frau Karitas Helfereich. Frau Franziska stieß einen Wehruf aus. – »Man sollte doch keine Kinder erzeugen«, sprach Hermann darauf zu sich in der Nebenkammer; »ganz erbärmlich tritt der Mensch ins Dasein, und die Mutter kommt in die 19 schmerzenreichste und der Vater in die lächerlichste Lage von der Welt.«

»Frau Helfereich,« sagte nach einer Weile Frau Franziska, »geht es allen Frauen so schlecht wie mir?« Karitas Helfereich hatte sich einen leichten Schlaf angewöhnt; darum durfte sie an Wehelagern sich mit gutem Gewissen der Ruhe überlassen. Sie wachte denn auch jetzt auf und gab Antwort wie ein aufgestochenes Buch: »Kann man nicht sagen. Doch geht es Euch nicht am schlimmsten. Ich habe am Bette von einem Dutzend Frauen gesessen, denen es noch schlechter ging.« – »So?« sagte leise Franziska. – »Sie sind dann gestorben«, sagte Karitas Helfereich und entschlief wieder so plötzlich, wie man ein Buch zuklappt. – »So –?« sagte noch leiser Franziska.

Hermann, von Unruhe getrieben, steckte den Kopf zur Türe herein. Franziska sah ihn an aus Augen, die in Schmerzen schwammen. Sie sagte: »Hermann . . . ich will nie mehr ein Kind haben . . .« Als Hermann wieder in der Nebenkammer war, hörte er einen neuen Wehruf Franziskas, der sich für ihn nicht von den früheren unterschied. Karitas Helfereich aber war plötzlich aus ihrem Schlummer aufgesprungen, ihre Hände griffen hierhin und dorthin, hin und wieder fiel ein Wort der Ermunterung und des Trostes von ihrem Munde, alltäglichen Inhalts zwar, doch Franziska ward davon aufgemuntert und getröstet.

Frau Franziska fühlte sich plötzlich von allen Schmerzen verlassen. Sie war einen Augenblick wie betäubt, als wäre sie aus einem rasenden Zuge hinausgeschleudert worden und läge nun ohne Bewegung auf fester Erde. Sie suchte sich zu erinnern, was 20 für fürchterliche Schmerzen sie soeben erlitten hatte. Aber sie konnte es nicht mehr, sie erinnerte sich noch dunkel der Art des Schmerzes, aber das Maß konnte sie sich nicht mehr vorstellen.

Die Erstgeburt war ein Mädchen. Es war magerer als gewöhnlich Säuglinge sind und kräftiger. Dem Vater schaute es mit so festem Blicke in die Augen, daß dieser sagte: »Man sollte meinen, es wäre mit Verstand geboren.« Die Mutter sagte: »Das Kind sieht uns an, als hasse es uns.« Sie tauften das Kind Brigitta, mit Beinamen Semiramis. Hermann hatte verlangt: Brigitta Kleopatra, aber der Pfarrer meinte, Kleopatra sei ein heidnischer Name und komme in der Bibel nicht vor. Auch Semiramis war heidnisch, aber immerhin durch die Bibel geheiligt.

 

Frau Franziska gebar wieder. Die Geburt war leichter als die Brigittas, aber schwerer als die der meisten Menschenkinder. Die jungen Großjohanns schienen sich schwer zu entschließen, in die Welt zu kommen. In ihren Leiden ließ Franziska Hermann rufen und sagte zu ihm: »Ich will nie wieder ein Kind haben.«

Ein Knabe war da. Sie tauften ihn nach dem Onkel Franz Xaver, nannten das Kind aber Fränzchen. Mit dem Beinamen Antonius. Großjohann meinte den von Alexandrien, den mit der Kleopatra, der Pfarrer aber den von Padua, den mit dem Schwein, und ließ ihn ohne Anstand durch.

Nach einer Reihe von Monaten wurde Großjohann nachts durch einen Schrei geweckt. »Sieh, Hermann! Sieh, hier! Der Kleine! Er verdreht die Augen!« Hermann sah die Ärmchen und Beinchen 21 des Kindes im Krampfe zucken. »Hermann! Fränzchen!«

Karitas Helfereich kam. »Das Kind hat die Fallsucht«, sagte sie. Hermann war zerschmettert. Er sah, wie Karitas eine Zwiebel brachte und dem Kinde unter die Nase hielt. Er sah, daß die Augen nicht mehr zuckten.

Hatte es nun der Anfall des kleinen Fränzchen verschuldet – Frau Franziska kam schnell, vorschnell wieder nieder. »Warum muß gerade ich soviel leiden, Hermann? Sind meine Kinder Gott nicht wohlgefällig? Weiß er, daß es Tunichtgute werden?« – »Tunichtgute?« verwies ihr Hermann die Rede. – »Ach, Hermann, man kann das alles nicht wissen. Weißt du, das Geborenwerden und Sterben ist so ähnlich.« – »Wie hellsichtig sie redet!« dachte er, »sie wird mir doch nicht sterben? Franziska!« schrie er. – »Mir ist, als sagtest du was, Hermann?« – »Nichts, Franziska. Schlaf'!«

Hermann ging hinaus und begegnete der Hebamme. »Eilt Euch, Frau Helfereich!« – »Geduld, Mann Gottes, das hat Zeit. Das geht bei Eurer Frau nicht so.« Er kehrte mit der Hebamme an das Bett Franziskas zurück. – »Ich will . . . nie wieder . . . ein Kind haben . . .« stöhnte sie.

»Seht Ihr wohl, sagte ich damals nicht, daß es immer besser gehen wird?« tröstete Karitas Helfereich, »gleich sind wir soweit. Geht hinaus, Herr Großjohann, das geht Euch nichts an. – Sagte ich es damals nicht, Frau Großjohann, daß es immer besser gehen wird? Wenn Ihr erst ein Dutzend gehabt habt, werdet Ihr die Kinder verlieren.« – »Verlieren?« frug Franziska, halb irr vor Schmerzen, und 22 griff unwillkürlich neben sich, wo in der Wiege Fränzchen lag. – »Wie man ein Strumpfband verliert, auf dem Wege, ohne daß man's merkt«, ergänzte Karitas.

Als die Hebamme hinausging, stand Großjohann vor der Türe. Er frug sorgenvoll: »Soll ich den Arzt rufen lassen?« – »Laßt lieber den Pfarrer rufen, das kostet nichts.«

Franziska, die Riesin, aber starb nicht, und nach drei Tagen wurde das vorzeitige Knäblein auf die Namen Gabriel Markus Alexander Großjohann getauft, mit seinem gebrechlichen Körperchen sozusagen in eine schimmernde klirrende Rüstung von Namen gesteckt.

Frau Merlin

Zu der Zeit, als Großjohann, nunmehr in die Stadt übergesiedelt, in die Baugeschichte der Reichsstadt eintrat, hatte das Baugewerbe eben das Frankenviertel angegriffen. Die Reichsstadt näherte sich langsam den neuen Baugründen. Das Sachsenviertel war zugebaut, und die Stadt mußte sich nach dem Flusse hinuntersenken.

Die letzten Baustellen des Sachsenviertels ließ eine Frau Merlin bebauen, eine reiche Dame, und Großjohann war ihr Unternehmer und Sachwalter.

»Aber warum bauen Sie nicht für eigene Rechnung, Herr Großjohann?« frug die Dame; »warum begnügen Sie sich damit, mein Unternehmer zu sein?« – »Das Geld zum Anfangen fehlt«, sagte er. – »Ich geb's Ihnen«, sagte sie.

Großjohann, der sich die Antwort nicht denken konnte, überhörte sie. »Etwas muß da sein,« sagte 23 er ernst, »aus nichts wird nichts.« – »Ich sagte Ihnen ja, ich geb's Ihnen«, lächelte sie.

Jetzt hatte er verstanden, aber auch nur mit dem Ohre, nicht mit dem Verstande verstanden. – »Wirklich, ich geb's Ihnen«, sagte sie.

Er hätte sich auf die schöne, ein wenig üppige Hand küssend niederneigen mögen, die da auf seiner blauen Bauzeichnung lag, aber er hatte bei seiner Herkunft doch nicht genug Übung in den Geschäften zärtlicher Höflichkeit. Ein bitteres Lächeln des Zweifels zog über sein Gesicht: »Sie soll die Summe hören!« dachte er. Er schaute die schöne Frau fest an und sagte: »Mindestens 10 000 Mark wären nötig . . .«

Die schöne Hand – ach, sie wurde immer schöner! – griff nach einem Schreibebuche und schrieb einige Zeilen. Dann hörte Großjohann, wie ein Blatt an einer gelochten Linie abgerissen wurde. Er hörte deutlich, wie der Riß von Brücke zu Brücke zwischen den Löchern sprang, und hörte gleich darauf sagen: »Da sind die 10 000.« Nun riß er ein Blatt aus seinem Taschenbuche und schrieb darauf: »Ich habe 10 000 Mark von Frau Merlin leihweise erhalten.« Seine Lippen bebten leise, als er ihr das Blättchen hinreichte: »Auf das Papierblättchen hin?«

Die Lippen der Frau lächelten ein wenig, als sie sprach: »Versuchen Sie bei der Bank die Macht dieses Papierchens. Es ist ein Scheck.« – »Ich meinte mein Papierchen«, sagte er, und die Augen wurden ihm feucht.

Als sie seine Augen quellen sah, wandte sie sich ab. Er aber stürzte auf ihre Hand und bedeckte sie mit Küssen. »Auf mein Papierchen hin«, hörte sie ihn flüstern.

24 Jetzt aber sagte er: »Das ist ja alles nicht wahr! Das gibt's ja nicht! Ich kenne doch die Welt. Sagen Sie, welche Sicherheit Sie wollen. Und ich sage Ihnen, daß ich keine habe. Man leiht nicht ohne Pfand. Das würde nur ein schlechter Geschäftsmann tun. Wollen Sie mir auf meine Hemdenknöpfe leihen? Die sind mein.« – »Auf Ihre Hemdenknöpfe, Ja! Und auf Ihre Zukunft!«

»Beste Frau, ach welche Worte finde ich . . . Dann leihen Sie lieber auf meine Hemdenknöpfe.« – »Jetzt wollen Sie hören, für welchen Bramante ich Sie halte . . .«

»Mit Ihnen ist schön zu plaudern, Frau Merlin. Es ist wie Beichten. Und wenn ich von Ihnen fortgehe, bin ich froh wie ein Bauer nach der Beichte, sagen sie draußen im Dorfe. Meine Frau sagt auch: Warst du wieder bei Frau Merlin beichten?« – »Ist Ihre Frau argwöhnisch?« – »Ich weiß es nicht. Sie hätte keinen Grund dazu. Sie sagt nichts.«

»Da ich nun einmal Ihre Beichte abnehme, wie Ihre Frau sagt, lassen Sie mich Ihnen sagen: Nicht so hastig! Wer langsam geht, kommt auch an und bricht kein Bein. Zeit haben ist auch etwas Schönes. Mein Mann spricht von Ihnen nur als von dem, der nie Zeit hat. War der wieder da: der keine Zeit hat? Hat er in der Haustür seine Geschäfte erledigt oder hat er einen Stuhl genommen? fragt er.« – »Ich habe doch Zeit! Mit Ihnen verplaudere ich doch Stunden.« – »Ja, mit mir haben Sie Zeit«, sagte sie.

Währenddessen saß Herr Merlin in seinem mit vielen Büchern ausgestatteten Zimmer. Es war bedeutungsvoll dunkel und gewichtig ernst, wie es sich 25 für Männerwohnungen geziemt. Das weiße Marmorbild der Juno Ludovisi beherrschte den Raum. Herr Merlin war ein großer Mann. Seine schon ergrauenden Haupthaare, den starken Schnurrbart und den reichen Bart trug er kräftig gescheitelt. Er las in einem Buche. Ohne Hast schlug er die leise knatternden Seiten um.

Es wurde Abend; er legte das Buch weg und die Augen überschattend dachte er dem Gelesenen nach. Dann griff er nach seinem Tagebuche und schrieb hinein, was durch die Lesung in ihm angeregt worden war: ». . . Die Unruhe gebiert das Häßliche und das Häßliche das Schlechte. Die Eitelkeit, das Geld und der Bauch beherrschen die Welt und niemals mehr als in unserem großartigen und erleuchteten Zeitalter, wie es selbst wenigstens sich nennt. O Urteil der Geschichte, wie wirst du lauten! Das Zeitalter unserer Väter war wohl nur bescheiden, aber bei seinem milden Kerzenlichte strahlte der Geist und blühte die Schönheit. Sollte ich meine stillen Neigungen um irgendeines menschlichen Ehrgeizes willen, eines Amtes, eines Einflusses, der lärmenden Achtung der Straße wegen opfern? Nein, Gertrud, die Zeit wird schon kommen, wo du mir recht gibst . . .« Er legte Stift und Buch aus der Hand, als er Schritte draußen vernahm.

Die ledergepolsterte Tür öffnete sich und schloß sich wieder mit einem leisen Ansaugen der Luft.

»Die Geschäfte erledigt, Gertrud?« frug er ein wenig spöttisch. – »Ja«, sagte die große Frau, und die Last ihres reifen Körpers drückte sich in den Teppich ein. – »Dann hast du dein Abendbrot wenigstens verdient«, sagte er in demselben Tone.

26 Sie ging nicht darauf ein, sondern trat an ihn heran, hockte auf dem einen Arme seines Sessels nieder und sagte: »Ich habe dem Großjohann Geld zum Bauen gegeben.« – »Du kennst meine Gedanken, die ich darüber habe. Du weißt, ich bin dir nicht im Wege, und ich verstehe dich. Eine Unruhe– eine edle Unruhe, weil du es bist – wie soviele heute hat dich erfaßt. Darum hast du dich in diese neuen Baugeschäfte gemischt. Aber wenn es dir Freude macht – wie du willst! Schade, daß das Schicksal dich nicht beruhigte wie andere Frauen, indem es ihnen Kinder schenkt. Na, dein Schützling wird sich gefreut haben.« – »Er hat mir mit Tränen in den Augen die Hände geküßt.«

»Dir ist er lieber als mir. Ich mag diese neumodischen Streber nicht.«

Sie trat näher und sagte: »Bist du eifersüchtig, Theodor?« – »Eifersüchtig?« sagte er betroffen; »nein! Ich glaube nicht. Nein, bestimmt nicht!« – »Du hättest auch keinen Grund dazu«, sagte sie.

»Meinst du, Trude, daß es auf die Dauer gut gehen wird mit dem Großjohann? Fürchtest du kein schlimmes Ende? Es liegt etwas Unnatürliches in aller übermäßigen Tatkraft. Das Gleichmaß ist das Gute, darunter oder darüber liegt das Böse. Auch das Gute nicht im Übermaße, das ergibt Heilige und Märtyrer, und das sind unangenehme Gestalten. Und er ist doch vorläufig nichts als eine Hoffnung, deine Hoffnung.« – »Und vieler Leute«, warf sie ein. – »Meinetwegen vieler, meinetwegen aller Leute, was beweist die Menge? Nicht umsonst schlossen die Alten das Unglück immer an den Hochmut an. Aber nochmals, ich bin deinen Geschäften nicht 27 im Wege.« – »Das dürftest du auch nicht. Sie machen mir solche Freude. Schließen wir einen Vertrag, du bei deinen Büchern und ich bei meinen Geschäften.« – »Recht so!« Sie gaben sich die Hände und lächelten beide.

»Glaub' mir, Trude, es ist genug Beruf, schöne Bücher kaufen, sie lesen und mit ihnen leben. Wozu wurden sie geschrieben, wenn nicht zum Gelesenwerden? Die Welt von heute wird noch verrückt an ihren Berufen, Pflichten und Fortschritten!« – »Ausfälle gegen die andere Seite sind wider den Vertrag«, sagte sie und drohte lächelnd mit dem Finger. – »Hast recht, entschuldige, Trude. In uns ist die Welt sonderbar umgekehrt. Aber warum soll es nicht auch das geben? Es geht nirgendwo so toll zu wie in der Welt.«

 

Das Beispiel und der Erfolg Großjohanns lockten viele Bauhandwerker vom Handwerk weg zum Bauen. Da waren der Zimmermeister Endenich und der Schlossermeister Schröder, gute Leute und Freunde Großjohanns. Der Schlossermeister kam abends von einer Begegnung mit Großjohann, dessen Glück ihm wie die Sonne gestrahlt hatte, nachhause. Seine Hausfrau trat erstaunt an ihn heran und schaute in ein Paar hinter einer dicken Brille fremd dreinblickender Augen. Sie fürchtete sich gar ein wenig. Sie war hager und mager wie ein ausdauerndes Pferd.

»Wieviel Schulden haben wir?« frug der Schlossermeister. Die Frau holte eine Schiefertafel mit angebundenem Griffel von der Wand, sie machte einen 28 Strich unter die Aufrechnung und reichte ihm lächelnd die Tafel: »Keine!«

»Also!« sagte Schröder ernst und bestimmt und stieß den Atem durch die Nase, daß die Brillengläser beschlugen. – »Es ist schwer genug durchzuführen,« sagte die Frau, »ich kann den Metzger kaum bestimmen, wöchentlich Rechnung zu geben, und viele wollen einfach nicht gleich bezahlt sein. Aber du willst es so haben.« – »Nicht mehr! Jetzt wollen wir Schulden machen!« – »Wie?« rief die Frau erschrocken.

»Weißt du, das ist kein richtiges Geschäft, ohne Schulden.« – »Mann! Mann!« – »Wir sind von den Dörfern draußen und altmodisch! Nun ist das viele Geld im Lande und schreit förmlich nach Benutztwerden. Ohne Schulden kann man keine großen Geschäfte machen. Niemand hat soviel Geld im Hause, um alle Auslagen bar zu decken. Und wer es hat, der macht keine Geschäfte, es müßte denn diese sonderbare Frau Merlin sein. Wir müssen etwas riskieren! Wir mühen uns nun schon jahrelang, aber zu mehr als zu einem anständigen schuldenfreien Auskommen reicht es nicht. Zum Aufsteigen reicht es nicht. Wenn ich mich nicht dahinterhalte, laufe ich zu Fuß, während die anderen, der Endenich und der Großjohann vor allen, vierspännig fahren. Kein Geld leihen können sich nur die ganz Armen und die ganz Reichen leisten; diese brauchen keins und den anderen gibt man keins, denn sie haben nichts, worauf sie leihen. Keine Schulden haben ist sozusagen dasselbe wie keinen Kredit haben, und Kredit ist der gute Ruf des Geschäftsmannes. Wir wollen Kredit nehmen, und du wirst sehen, wir werden auch noch, 29 bevor's in die Grube geht, unser Pferdchen kutschieren.«

 

Ganz plötzlich erlosch die Begierde Frau Merlins, zu schaffen und zu unternehmen. »Weiberart!« spottete Herr Merlin, obgleich er sich freute. Sie aber flüsterte ihm etwas zu, daß er auffuhr, seine Frau umarmte und umhalste wie ein stürmischer Jüngling und still versonnen ins Leere sah.

Frau Merlin baute nun nicht mehr an den Häusern im Sachsenviertel, sie baute an einem andern Gehäuse, an einer neuen Welt in sich. Sie hatte die werdenden Neubauten ihrem Schützling Großjohann verkauft. Ja, sie hätte sie ihm geschenkt, wenn es sich geschickt und nicht hätte mißdeutet werden können. – »Wie geschenkt habe ich die Bauten bekommen!« jubelte Großjohann zu Franziska. So sehr diese sich freute, so fand sie das Gebaren der Frau Merlin doch sonderbar, sehr sonderbar. Sie suchte sich in ihrem kleinen Hirn einen Reim darauf zu machen, sie sagte aber nichts.

Frau Merlins Schicksal erfüllte sich. Als der Frühling kam, gebar sie eine gesunde starke Tochter und starb an der Geburt. Das Kind aber lebte.

 

Karitas Helfereich war nach dem Fortgang der Großjohanns vom Dorfe in die Stadt mißvergnügt auf dem Lande zurückgeblieben. Eine solche Familie hatte sie nicht wieder getroffen. Die war nicht schwächlich und überzärtlich! »In diesem Sommer ist wieder ein Kind fällig«, dachte das schreckliche Weib in seinem Riesenstile und wartete, ob sie in die Stadt gerufen würde. In der Tat war für Frau Franziska die Stunde wieder da, aber Karitas wartete 30 vergebens. Großjohanns hatten eine städtische Hebamme genommen, mit gelehrtem Wissen und weichen Händen. Die ging zart mit der Kindsbetterin um, sie frug: »Drückt es hier? Tut es da weh? Es ist gleich vorüber! Legen Sie sich höher! Legen Sie sich tiefer! Legen Sie sich auf den Rücken! Reden Sie nicht! Ermüden Sie sich nicht! Decken Sie sich zu, Sie werden kalt! Trocknen Sie sich ab, Sie schwitzen! Haben Sie Durst? Haben Sie Schwindel?« Sie ermüdete Franziska so sehr, daß Hermann, gerade als Franziska ihm wieder unter Schmerzen gesagt hatte: ich will nie wieder ein Kind haben . . ., dumpf und versunken antwortete: »Wir wollen das nächstemal die Helfereich wieder nehmen.« Obgleich das nun eine grausame Antwort war, so beruhigte Franziska sich doch sogleich, und das Bewußtsein, das nächstemal wieder unter dem Schutze von Karitas Helfereich zu sein, ließ sie schnell zu einem glücklichen Ende kommen.

Großjohann holte am gleichen Tage schon Karitas vom Dorfe, und sie konnte noch acht Tage Frau Franziska betreuen. Sie kehrte nicht nachhause zurück, sondern blieb bei den Großjohanns dauernd in Dienst.

Der neue Großjohann war ein Knabe, Philipp, sein zweiter Name war Jakobus, der Pfarrer meinte den Apostel, Großjohann natürlich den Sohn Isaaks, den Enkel Abrahams, den Vater Josefs des Ägypters. Er bekam auch den Beinamen Emanuel. Emanuel aber heißt: Gott mit uns.

»Der Mann ist vom Größenwahn besessen«, brummte der städtische Pfarrer, als er die Namen ins Kirchenbuch schrieb. 31

Die Maurer

Die Bauleute singen ein Lied:

Maurer mauern dieses Haus,
Winde blasen ein und aus,
Fenster gähnen, Böden klaffen,
und die Zimmerleute schaffen.
Aber bald – –

                    ist die Kammer rund und traut,
                    festgeschlossen Stein und Brett.
                    In der Ecke steht ein Bett,
                    in dem Bette liegt die Braut.

So sangen die Bauleute in mächtigem Chore, daß es durch die Siegesstraße schallte und das Frankenviertel füllte. Mit Leidenschaft beim Baugeschäfte, hatte der Kalkbereiter an der Erdgrube es gedichtet aus der Sehnsucht seines Herzens, bald zum Maurer aufzurücken und da oben zu stehen, wo die Gerüste unter der Last der Männer und der Ziegel sich bogen, und es nach einer landläufigen Melodie so für sich und vor sich hin gesungen in der stillen Beschaulichkeit, mit der ein leichtes Lied die Arbeit begleitet. Die Mörtelbereiter nahmen es auf, wenn sie kamen, den gelöschten Kalk aus der Grube schöpften und mit Sand verrührten, die Mörtelträger lernten es, wenn die Mörtelbereiter ihnen die auf Dreifüße gelegten Schultertröge füllten. Die Mörtelträger, lungenstarke Handlanger, summten das Lied sogar, während sie die ausgeschlissenen Sprossen der Leitern unter ihrer Last hinaufklommen, und so verbreitete sich das Lied über den ganzen Bau.

Die Ziegellasten krachten, von den Ziegelzuträgern 32 niedergeworfen, auf den Gerüsteboden, und die metallenen Mörteltragbecken schlugen dumpf auf den Rand der Mörtelzuber nieder. Die Hämmer klangen auf den Steinen, wenn die Maurer mit einem gewissen taktmäßigen Schlage die Ziegelsteine in den weichen Mörtel betteten. Wie ein gedämpftes Glockenspiel klang das, und einer der Maurer schuf dabei das ungenügende Taktmaß des Liedes um. Die Arbeit ruhte währenddessen nicht. Die musikalisch Begabten hatten sich schon ausgesondert, und bald hatte ein Mann aus dem Gebirge mit blondem Barte und hellen Kinderaugen die Führung. Da zeigte sich, daß die Natur dem Dichter die Gabe der Töne vorenthalten und dem Maurer Hubert Käferling verliehen hatte. Alle Sänger hörten auf ihn, wie er im Singen die überkommene Melodie einen Vers nach dem andern verwarf und nur das von einem andern erfundene Taktmaß beibehaltend das Lied nach einer neuen Weise sang. Die Arbeit ruhte währenddessen nicht. Die vier ersten Verse:

Maurer mauern dieses Haus,
Winde blasen ein und aus,
Fenster gähnen, Böden klaffen,
und die Zimmerleute schaffen,

sangen die Maurer in einem leichtbewegten, in den Reihen ähnlichen Tonfalle; nur die »Zimmerleute« des vierten Verses hoben sich auf, und »schaffen« war ein schneller, kühn zum Schlusse drängender Ausruf. Die Stimme Käferlings trennte sich bei den »Zimmerleuten« vom Chore und überstieg ihn. Jetzt sang sie allein:

Aber bald – –

33 »bald« schwebt hoch in den Lüften, ein silberner Klang, eine Hoffnung, ein Lachen, eine Glückseligkeit, lange, lange schwebte der Hoffnungston über dem irdischen Gewühle – – – Jetzt fielen die Handlanger ein, die Jünglinge ohne Haus und Herd – die Maurer hatten alle Eh' und Weh' – und sangen die zierlichen vier weiteren Verse keck, auch leidenschaftlich, aber melodisch und schnell zu Ende:

ist die Kammer rund und traut,
festgeschlossen Stein und Brett.
In der Ecke steht ein Bett,
in dem Bette liegt die Braut.

Die Braut lag, dem Gesange nach, hoch in einem silbernen Bette der Vergötterung bei den goldenen Wolken. Die Handlanger gingen ab und zu und streuten die neue Melodie des Liedes über Gerüste, durch offene Kammern und gähnende Stockwerke über das ganze Bauwesen aus bis in den Hof und die Straße hinab. Auch der Dichter an der rauchenden Kalkgrube nahm es aus ihrem Munde verändert zurück. Die Arbeit ruhte währenddessen nicht.

Großjohann kam. Sofort verstummte aller Gesang in dem Maße, wie die Zuträger die Leitern hinaufstiegen. Sie machten den Maurern ein Zeichen, indem sie das Kinn strichen. Das bedeutete: Er kommt! Oder sie sagten einfach: »Er!« Und auf dem zweiten Stocke an der werdenden Mauer entlang lief es: »Er!« Stumm ging Großjohann, gefolgt von seinem Bruder, dem ersten Werkmeister, umher, hin und wieder einen Tadel, niemals ein Lob aussprechend. Seine Kinder lobte er nie, wie sollte er seine Arbeiter loben? In der Bauhütte legte er seine 34 Guttagskleider ab, zog eine steife Hose mit Kalkspritzern und eine blaue Leinenjacke an und ging selbst an die Arbeit. Die Maurer verwünschten ihn. Der Bauherr auf der Baustelle ist wie Frost im Frühling. Aber die Mauern wachsen unter den Augen des Meisters. Wenn Großjohann sprach, tat er es mit strengen und harten Worten, wie die Patriarchen der Bibel sprechen. Die Kinder wuchsen daheim heran, und es war Zeit, einen festen Ton anzuschlagen.

Der schnell wachsende Doppelbau der Siegesstraße hatte allerwärts in der Geschäftswelt den besten Eindruck gemacht. Man sagte in den Kreisen der Agenten, der Makler, der Bauherren: »Der versteht's! Los mit Dampf! In einer Woche ist er unter Dach!«

Kaum war der dritte Stock des Doppelbaues angegriffen worden, da meldeten sich schon die Makler, welche die erststellige Belastung zu 4¼ v. H. Zinsen und ½ v. H. Maklergebühr besorgen wollten. Großjohann ließ einen von den Maklern die steilen Leitern bis auf den dritten Stock zu sich heraufklettern. Als der Makler vor dem schönen Manne stand, hielt er unwillkürlich den gelüfteten Hut in der Hand. Es war ganz still auf dem Gerüste. Die Arbeiter lauschten. Sie hörten »30 000 . . .  4¼ Zinsen . . . ½ Gebühr.« – »Ich brauche keinen Makler«, sagte Großjohann. Da sagte der Makler: »⅓ . . .«, schließlich: »¼ Gebühr . . . 30 000 . . .« – »Ich sagte Ihnen schon, Herr Silberzahn, ich brauche keinen Makler.« Der Makler war entlassen. Er kletterte kleinlaut, unterstützt von einem Handlanger, den Großjohann ihm durch einen Augenwink beigeordnet hatte, und ängstlich mit beiden Händen sich festhaltend die fasrigen Leitern hinab. »30 000!« flüsterten die Arbeiter, 35 und machten Grimassen des Staunens. »30 000, angeboten mit dem Hute in der Hand, weggeworfen wie einen Katzendreck! Und wie bös er heute ist! Ein Topf voll Teufel!« – »Rot im Gesicht, als hätt' er in die Hölle geblasen und kitzlig wie der Teufel im Weihwasser!« flüsterte Käferling hinter des Meisters Rücken; »püh, das stinkt heute! Püh!«

»Käferling,« rief Großjohann, indem er das Lehrgerüst über der kleinen Kuppel im Festsaale des Hauses zornig mit dem Fuße hinaustrat, »was quält Ihr Euch da mit dem Gewölbe, und es wird doch nichts draus!« Käferling war ein aufrechter Mensch, er sagte, der Meister solle es ihm vormachen. »Brüllen kann er auswendig wie ein geneckter Stier!« zischte der Holländer. Alle Maurer legten im Einverständnis die Kelle nieder. Welcher Teufel war in Franz Xaver, den Werkmeister, gefahren, der einen Augenblick wünschte, der Bruder, der Alleskönner, möchte sich blamieren! Im nächsten Augenblicke aber herrschte er die Maurer an zu arbeiten. Diese, sich unter dem Schutze eines Mächtigeren wissend, warfen ihm nur einen spöttischen Blick zu. »Schon Pferde sind von Arbeit verreckt«, brummte einer.

»Ich will Euch zeigen, wie man das Gewölbe freihändig mauert«, sagte der Meister. – »Nicht möglich!« rief Käferling. – »Was, freihändig?« frug einer. – »Ohne Schalung?« ein anderer. – »Ein fliegendes Gewölbe?« ein dritter.

Der Meister stand auf dem Gerüste über dem Saale, die Maurer standen höher. Die Lehrlinge hielten sich abseits mit einer Miene, als wollten sie sagen: das brauchen wir noch nicht zu wissen. Als aber einige von ihnen sich knufften, langte der Holländer 36 stumm herzu und kniff einen der Lehrlinge so ins Ohr, daß der wie ein Hahn auf einem Beine stand und eine lautlose Grimasse des Schmerzes schnitt. Währenddessen legte der Meister auf die vier Seiten und die abgeeckten Winkel des Mauervierecks einen Kreis von Steinen. Jeder Kreis war ein liegender Doppelbogen. Wie in einem stehenden Bogen ein Stein den andern hindert, nach unten durchzufallen, so mußte auch in diesem liegenden das Durchbrechen nach innen von selbst unmöglich sein, wenn es nur gelang, die Bogensteine solange haften zu machen, bis der Bogen geschlossen war. Und das gelang, denn im nassen Mörtel klebten die Steine solange, bis der Kreis geschlossen war und zur statischen Ruhe in sich kam. Der zweite Bogenkreis lag zur Hälfte auf dem ersten, zur andern Hälfte kragte er über. Immer enger schlossen sich die kleiner werdenden Kreise um den mauernden Meister, jetzt verschwand er unter dem wachsenden Gewölbe und mauerte von unten her.

»Wo habt Ihr das nur gelernt, Meister?« frug Käferling nach unten hinab, und Großjohann antwortete aus dem Loche herauf, während Stein um Stein und eine Kelle Mörtel um die andere herauskamen: »Das haben die Alten so gemacht. Glaubt ihr, sie haben die Gewölbe in den Domen auf Schalung gemauert, die ein halbes Gewölbe kosten? Aus der Freihändigkeit erklären sich die Unregelmäßigkeiten in den Gewölben; gerade sie brachten mich darauf. Ich hab's mir überlegt und mit meinem Bruder darüber gesprochen. Er glaubte es zwar nicht, aber – –« Jetzt ließ Großjohann einen Zapfenstein in das Loch herab, das damit geschlossen war, 37 seine Stimme, die nun einen Umweg um das Gewölbe herum machen mußte, klang plötzlich fern: »– – aber es geht, wie ihr seht.« – »Ja, es geht!« riefen die Maurer, »Donner und Doria, es geht! Und das Gewölbe schwebt! Donner und Doria! Was seine Augen sehen, können seine Hände machen!« – »Daß ihr mir nun gleich davonlauft, wenn ihr es könnt, zu anderen Meistern!« entrüstete sich der Meister. – »Nein! O nein! Das sei ferne!« schwuren die Bauleute.

Sie begaben sich nicht sogleich wieder an die Arbeit, sondern folgten dem Meister mit achtungsvollem Blicke, wie er gewandt und mit einer Hand sich haltend die Leitern hinablief und in der Baubude verschwand, um sich umzukleiden. Die Maurer standen an der Baukante und sahen in die Straße hinab. »Da unten die Herren, das sind die Makler,« sagte Käferling, »und der da angefahren kommt, ist der Bankdirektor Hagelstange.« – »Der Käferling bildet sich schon zum Meister aus«, spottete der Holländer. Aber Käferling rief lustig: »Seht, wie sie alle vor ihm katzbuckeln! In sieben Falten legt sich ihr Hemd auf dem Bauch. Das ist ein Geschmeiß, die Makler! So ist es! Jetzt läßt der Bankdirektor halten, seht!« Sie konnten nicht verstehen, was der Bankdirektor die Makler frug, dafür standen sie zu hoch, aber es mochte heißen: »Was ist denn los? Sie machen so bestürzte Gesichter!« Da sahen sie den Makler Silberzahn, der vorher bei ihnen auf dem Gerüste war, mit gezogenem Hute an den Wagen herantreten, und er schien zu sagen: Ja, so und so! Erstaunt sah der Bankherr auf und nach dem Gerüste hinauf. »Er wünscht dich zu sprechen, 38 Käferling!« höhnte man. Sie sahen die Makler an den Wagen herantreten und mit dem Kopfe nicken.

»Uff!« rief Käferling, »da geht er aus der Bude, unser Meister!« Neugierig lugten sie, sich vorbeugend, in die Straße hinab. Sie sahen, wie die Makler auseinandertraten, als der Meister herankam, sodaß eine Gasse entstand, der Bankherr lüftete den Hut und schien »unserm« Meister sich vorzustellen und ihn einzuladen, im Wagen Platz zu nehmen. »Unser« Meister schien etwas verwirrt zu sein, doch sich schnell zu fassen, und während unter den schwarzen Hüten der Makler ihre weißen Glatzen erschienen, setzte der Wagen sich in Bewegung. »Uff!« riefen die Maurer, und der Holländer meinte: »Wenn das nur gut geht! Als der Dreck Mist wurde, da wollte er gefahren sein.« – »Halt's Maul,« sagte Hubert Käferling, »es könnt' einer glauben, du bist neidisch!« – »Hu, neidisch,« lachte der Holländer, »ich gönn' ihm die Augen im Kopfe! Der Meister ist doch auch nicht von Samt und Seide. Er kriegt nicht gleich Flecke davon.« – »Er hat gleich ein hohes Roß bestiegen,« sagte in einer andern Gruppe ein Maurer zum andern, »wenn er fällt, bricht er sich die Knochen.« – »Unser Meister fällt aber nicht, das wirst du nicht erleben, er kann reiten!« sagte der andere. – »Nun, Bäume wird er auch nicht umreiten!« – »Unser Meister!« – »Er!«

Unter diesen Gesprächen suchten, während die Makler sich verloren, die Maurer wieder ihre Werkplätze auf. Franz Xaver war verschwunden, denn er fühlte sein Herz zerrissen. Wenn es nicht sein jüngerer Bruder, der »grüne Meister«, gewesen wäre! Er hatte, Maurer wie Hermann, schweren Herzens 39 bei diesem den Dienst des ersten Werkmeisters angenommen, als Hermann sich vor Aufträgen kaum zu helfen wußte – nichts hat solchen Erfolg wie der Erfolg –, während er selbst »augenblicklich keine größeren Aufträge hatte, nicht durch Verträge gebunden und leicht abkömmlich war«. Aber der Neid auf den Bruder, auf dem er sich jetzt ertappte, bereitete ihm einen solchen Ärger, daß er sich davon durch Bewunderung und Lob des Bruders zu entsühnen sich gedrängt fühlte. Himmelhoch lobte er denn in der Baubude Hermann in das Ohr des zweiten Werkmeisters Winterfeld hinein. Er erzählte aus der Zeit ihrer gemeinsamen Wanderschaft durch die gotischen Städte zwischen Rhein und Loire, wie sie in den Bauhütten der wiederherstellungsbedürftigen Dome gearbeitet, gelernt, geschwärmt hatten. Was für ein Kerl da Hermann gewesen sei, Schrecken der Stümper, Freude der Meister, Wonne der Weiber! Süße der Demut und Lust der Selbsterniedrigung erpreßten dem Bruder Tränen. Er schwärmte von fabelhaften vieltürmigen weißen Domen und sagte, daß nur die Erinnerung daran ihn in dem Miste des Baugeschäftes aufrechterhalte. Das habe Hermann ganz verdorben. Der Aufgeräumte von früher sei schweigsam und verdrießlich, der Planer praktisch und rechnerisch, der Schwärmer unternehmungswütig und unnatürlich, unmenschlich fleißig geworden. Traum sei von Gott, aber Eifer vom Teufel. Das nehme kein gutes Ende. Neid und Bewunderung, Liebe und Haß zerrten Franz Xaver Großjohann hin und her.

Währenddessen fuhr Hermann Großjohann im Wagen des Bankherrn Hagelstange in die Altstadt. 40 Der Bankherr, schnell von der Zukunft des neuen Mannes überzeugt, bot ihm die erste Hypothek von seiten der Bank an.

Der starke Leo

Es ging durch jene Stadt auf der Suche nach eigenartigen Unternehmungen ein grauer Mann umher, den man den starken Leo nannte. Er hieß aber nicht Leo, sondern Kornel und war nicht stark, sondern ein Krüppel. Er nannte sich selbst auch nur den armseligen Job. Sein Leben war ein unerhörtes Beispiel von Unterdrücktsein gewesen. Als uneheliches Kind geboren, in einem Findelhause aufgewachsen, in der Schule verhöhnt, in der Lehre verlacht, beim Militär gequält, in fremden Ländern herumgeworfen, war er durch Unvorsichtigkeit eines reichen Sonderlings zum Krüppel geworden; in hoher Gewissenhaftigkeit und strengem Schuldgefühle hatte der den Krüppel zu sich genommen und zum Erben seines großen Vermögens gemacht. Jetzt war es dieses Job Rache am Schicksal, den Armen und Unterdrückten zu helfen. Seine Freude war es, mit seinem Gelde zu spielen, und weil er heimatlos gewesen war, Häuser zu kaufen und zu Preisen zu vermieten, über welche die Hausbesitzer der Reichsstadt als über einen unlauteren Wettbewerb klagten. Er war so reich, daß er durch plötzliche Käufe und Verkäufe den ganzen Grundstücksmarkt stören und aus reichen Leuten arme und aus armen reiche machen konnte. Aus den Kirchenliedern kennt man ein wenig Latein, und das Psalmbild des »Löwen, der umhergeht suchend wen er verschlinge« – leo ist Löwe – trug Kornel 41 Schmitz den Namen des starken Leo ein. Aber Leo Kornel Schmitz hatte den Kummer, daß sein Sohn Josef Maria Schmitz die Gedanken edler Rache des Vaters nicht teilen wollte, sondern auf dem Wege war, ein kalter und grausamer Geldmensch zu werden. Daher sah man die beiden nie anders als miteinander zankend.

Leo Kornel Schmitz hatte das Aufsteigen des neuen Turmes Großjohann unter den ragenden Größen der Stadt mit aufmerksamen Augen betrachtet. Der Mann aus sich war ihm von Natur aus angenehm, aber Großjohann hatte schon gar zuviel Glück gehabt, Leo Kornel Schmitz rechnete ihn, obgleich er ihn nicht einmal von Gesicht kannte, zu den kalten grausamen Geldmenschen, den ideallosen Mächtigen der Reichsstadt, sodaß er ihn bereits haßte und überlegte, wie er ihn gelegentlich verderben wollte, sobald er eine Grausamkeit von ihm hören würde.

Leo Kornel und Josef Maria Schmitz bogen streitend in die Witukindstraße ein. Da sahen sie einen Herrn einem alten Handelsweibe beispringen, das sich vergeblich mühte, einen Korb mit Besen und Mäusefallen auf den Rücken zu nehmen. Sie hörten im Vorbeigehen ihn sagen: »Mütterchen, soll ich Euch helfen?« Das alte Weibchen sagte verwirrt: »Ja . . . nein . . . Ich danke aber auch, Herr Großjohann . . . ich danke . . . Gott soll Euch lohnen.«

»Das also ist der Großjohann!« sagte Leo. Gerührt quollen ihm die Augen über, so weich war sein Herz. Der Sohn aber lachte.

 

Großjohann kam nachhause. Er strahlte wie die Sonne. Er warf die Winterhandschuhe auf den Tisch 42 und rief: »Ich habe meine Häuser auf einen Schlag dem starken Leo verkauft!« – Franziska flüsterte: »Du lästerst Gott!« – »Aber so glaub's doch, Ziska,« rief Hermann, indem er auf Franziska zusprang und sie stürmisch in die Arme schloß, »ich habe die beiden Häuser bar verkauft!« Franziska ließ sich herzen und küssen, in seinen Armen lachte sie: »Natürlich glaub' ich's. Es ist ja auch nicht anders möglich!« – »Nun lästerst du Gott«, sagte Hermann, Franziska auf seinem Schoße liebkosend; »es ist sehr wohl anders möglich! Wer weiß, welchem glücklichen Zufall man den Erfolg verdankt?« – »Zufall?« frug sie, indem sie sich, die Arme gegen seine Brust stemmend, aus seiner Umarmung freimachte, »dir selbst! Dir selbst!« – »Ja, Ziska, du bist eine von jenen Naturen, die es nicht begreifen könnten, wenn ihr ehrliches Streben nicht von Erfolg gekrönt wäre. Du nimmst ihn als ein Recht, und doch ist er ebensosehr Laune.« – »Du denkst zuviel, Hermann. Ich versteh' nicht, was du sagst.« – »Das glaub' ich. Das gehört eben dazu.«

»Nun, und jetzt?« unterbrach ihn Franziska, »was wirst du jetzt unternehmen?« – »Nichts. Fürs erste nichts. Verschnaufen und sammeln. Ich bin froh, daß das Erste gelang.« – »Das wirst du nicht! Warum verschnaufen? Du wirst doch nicht schon müde sein? Zum Schlafen ist keine Zeit! Am Kaiser-Karl-Platz ist noch eine große Baustelle offen. Geh, eh du dich umgezogen hast, und kauf' sie mit dem Gelde, das du in der Hand hast.« – »Am Kaiser-Karl-Platz? Niemand wagt da zu bauen. Da steht eine Kirche, eine Schule, eine Bank . . .« – »Und es fehlt da noch ein Haus von Großjohann. Wenn du der bist, für den ich dich halte, so gehst du hin und baust 43 ein Haus von hundert Zimmern da. Wenn keiner von den Stümpern da zu bauen wagt, warum sollst du es nicht tun? Weil keiner es wagt, gerade darum sollst du es wagen! Du hattest mir von dem freihändigen Wölben erzählt und was für Gedanken du dir darüber machtest. Und als ich dir sagte: so wag's doch, mach's deinen Arbeitern vor, daß sie Achtung vor dir haben, da ging es.« – »Aber wenn es diesmal nicht gut geht?« – »Es kann nicht schlecht gehen!«

»Du solltest mich nicht treiben, Franziska!« sagte Hermann unruhig und schob sie von seinem Schoße hinab, »du verstehst mich nicht. Fantasie hast du nur wie ein Huhn. Siehst du denn nicht, daß die Stadt sich zum Flusse hinabzieht? Da ist der Grund billig, und das Geld liegt auf der Erde. Da sollte ich bauen, aber ich muß Zeit zum Überlegen haben. Eile mit Weile. Es muß durchaus nicht immer gut gehen, wie du denkst. Man muß ebensoviel Glück haben wie . . .« – »Das Glück hat der Mutige!« – »Nicht so, Franziska, nicht so! Du bist auch nicht ein bißchen dem starken Leo dankbar.« – »Dankbar? Wofür?« frug sie. »Gott hat es ihm eingegeben, daß er uns auf unserm Wege helfen mußte! In den Flußbenden bauen wir auch. Überall bauen wir, aber zuerst am Kaiser-Karl-Platz. Damit die andern sehen, daß wir können, was sie nicht können. Wenn du der bist, für den ich dich genommen habe, so gehst du jetzt gleich hin und kaufst.« Damit ging sie aus dem Zimmer.

Hermann Großjohann stand in Hut und Mantel wie ein Fremder in seinem Zimmer. »Was soll ich tun?« überlegte er; »spricht Gott oder der Teufel aus 44 Franziska? Gut, sie zwingt mich. Sie soll es verantworten. Zwing' mich, dann tu' ich keine Sünde, sagte das Mädchen.« Er ging hin, kaufte mit dem eben gelösten Gelde den Bauplatz zwischen Kirche, Schule und Bank, Gebäuden, die von Gottes und der Menschen wegen Ehrfurcht geboten, und entwarf auf dem Heimwege im Geiste einen hundertzimmerigen Wohnpalast.

Er kam eilig nachhause und stürmte auf die Kammer zu, um es Franziska zu melden und ihr Lob zu hören. Als er die Türklinke in der Hand hatte, hörte er Franziska, die den kleinen Philipp säugte, zur aufräumenden Karitas sagen: »In den Flußbenden liegt das Gold auf der Erde.« Karitas frug: »Auf dem bloßen Boden, oder muß man graben?« Da leuchteten die Augen Franziskas seltsam auf, ihr Zeigefinger drückte sich rot in ihre weiße Mutterbrust, und sie sagte halblaut: »Wir wollen abends mal hingehen.«

Hermann erschrak heftig, ließ die Türklinke fahren und entfernte sich unbemerkt. In seinem Kopfe hallte es sonderbar, als er sich, noch immer in Hut und Mantel, in seinem Zimmer in den Sessel fallen ließ. »Wie sie das sagte! Sie ist bis zum Wahnsinn tüchtig! Aber Fantasie hat sie nur wie ein Huhn und Intelligenz wie ein Maulwurf. Wie sie alles mißversteht! Nichts mehr werde ich ihr sagen dürfen. Ich muß schweigen.«

Die Abendglocke sandte ihre Klänge durchs offene Fenster herein, im Werkhofe war Schicht gemacht, und in Stille und Glockenklang glitt sein Denken in Traum hinüber. »So möchte ich läuten,« träumte er, »immerzu läuten . . . auf einem hohen Turme . . . 45 der bis in die Wolken ragt . . . Wenn Franziska ihr Leben lang läuten wollte, sie wär' Glöckner! Sie wär's sofort! Ganz von selbst! Alles würde springen, ihren Wunsch zu erfüllen, ich, die Engel und Gott. Sie ist nicht fromm, sie hat es nicht nötig fromm zu sein. Sie ist wie Gott. Sie meint, man könnte alles, was man wollte. Das war doch schon einmal so . . . das war doch schon einmal so . . . da waren Engel, die sagten: Wir wollen dir gleich sein. Darum warf Gott sie in die Hölle, weil er Furcht vor ihnen hatte. Und es wurden die Teufel. Franziska würde auch so gesagt haben. Gott! Gott! Ich muß wie du für die Engel eine Hölle für Franziska schaffen. Franziska muß Furcht haben. Sie ist wie die Juden und ist auch aus einem Hirtenvolke. Warum holte ich sie mir aus dem Hirtenvolke? . . . Ich weiß nicht, ich weiß nicht, ich mußte sie mitnehmen, als ich sie sah. Sie sagte zu mir wie Jakob zum Engel: Ich lasse dich nicht! Ich lasse dich nicht! Ich war damals so dreist und kühn, und die ganze Welt war meinem grünen Geiste zu klein. Und als ich ihr meine wilden Träume von Größe und Schönheit erzählt hatte, da sagte sie zu mir: Ich liebe dich! Das war, als wir über die rote Haide gingen . . . Und sie hat nichts gelernt. Sie verachtet das Denken . . . Der Traum ist eine große Welt, aber die wirkliche Welt ist eine kleine . . . Von Vorsicht, von Maßhalten, von allen männlichen Tugenden lernte sie nichts. Sie darf meine Sorge nicht mehr sehen! Sie darf nicht! Sie darf nicht! O Gott, sonst macht sie sich wie die anderen Hirten einen andern goldenen Götzen. Ihr Gott muß in der Wolke sein und daraus donnern und blitzen. Ich muß mich in die Wolke hüllen. Schweigen ist das 46 Geheimnis! Wenn Gott zu ihr reden und sich ihr verständlich machen könnte, so würde sie auch ihn verachten. O Gott, hilf mir im Kampfe gegen dieses gottlose Weib, denn sieh, ich bin fromm. Denn sieh, ich lernte die Grenzen kennen und bin fromm. Sie sagt: Wir müssen alle Gott nachstreben und ihm ähnlich werden. Sie wird es, denn sie will es, denn das Weib ist böse von Natur aus, und durch ein Weib ist die Sünde in die Welt gekommen. Das Weib ist noch Tier, das Weib ist noch Natur, du aber, du Gott und wir anderen Männer alle, wir müssen zusammenhalten. Wir lieben das Leben, wie du Gott die Welt geliebt hast, da du sie machtest mit all ihren Mängeln. Wir lieben, was wir sehen, uns selbst, Franziska liebt, was sie nicht sehen kann, sie liebt sich selbst nicht, und darum ist sie schlecht . . .«

Der Engel des Herrn hörte in diesem Augenblicke zu läuten auf. Großjohann erwachte. »Ich muß wohl ein Weilchen genickt haben«, dachte er, »und allerhand geträumt.« Er wußte gar nicht mehr, was er geträumt hatte, aber es war ihm, als habe es Dinge in ihm gedacht und geträumt, die er selbst nicht habe träumen und denken können; »und so scharf habe ich gedacht, meine ich! Sonderbar, daß man im Schlafe schärfer denken kann als im Wachen und sich doch nicht erinnert! Ich weiß nicht, was es war . . . aber jedenfalls war es etwas Frommes.« Aus dieser frommen Stimmung also beschloß er, christlicher und strenger im Hause und verschlossen gegen Franziska zu sein. »Wie solch ein Angelusläuten doch religiös stimmt!« dachte er. 47

Die hoffnungsvollen Kinder

Es war einige Jahre weiter, im Mai, wenn die Natur ihre höchsten Reize ausspielt, um die Denker, die in den langen Winternächten Zeit hatten, über sie zu grübeln und ihre Nichtigkeit zu durchschauen, an ihrem Verstande irre zu machen und sie von neuem zum Leben zu verführen. Es war der Monat der Blüten, der Monat Marias, der Monat der Jungfrau. Die Kirche feierte ihn durch Marienandachten allabendlich ums Angelusläuten.

Hermann Großjohann ging mit seinen beiden Söhnen Fränzchen und Gabriel in die Kirche der Minnebrüder in der Pfalzstraße. Philipp war vorweggegangen und kniete schon irgendwo in der Tiefe der Kirche, als der Vater mit den Brüdern an die Tür kam. Auf den Stufen stand ein steinernes Weihwasserbecken. Fränzchen langte, auf den Zehen sich erhebend, hinein und bot Vater und Bruder den genetzten Mittelfinger hin, den ihren daran zu netzen. Als der Vater das nur flüchtig tat, hielt Fränzchen den Finger der großen Hand fest und strich ihn ordentlich an. Dann beobachtete er den Vater scharf, ob er auch ein richtiges Kreuzzeichen mache. Großjohann fühlte den Blick seines Kindes von unten herauf, während er nachlässig ein Kreuz schlug, und dachte: »Vor dem Jungen sollte man sich fürchten!« Jetzt reichte Fränzchen wieder ins Becken und machte mit der Hand ein großes Kreuzzeichen über sich, ein ordentliches Kreuzzeichen zwischen Stirne und Nabel, Schulter und Schulter. Währenddessen rief drinnen auf der Kanzel der Prediger mit gewaltiger Stimme: »Was nützen alle Reichtümer und Ehren? Alle Macht 48 und Pracht? Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, aber Schaden litte an seiner Seele?« Großjohann dachte: »Ein wahres Wort! Ein wahres Wort!«

Mit dem wahren Worte hatte der Prediger seine Rede geschlossen und die Kanzel verlassen. Der Priester am großen Altare, schwebend in einer blauweißen Wolke von Weihrauch, sang einen lateinischen Vers. Die hundert Kerzen des Altars flimmerten unruhig, so laut sang er. Die Orgel fiel ein (der Orgelspieler hatte leicht geschlafen und war von dem Gesange überrascht worden, er tastete nach den ersten Tönen) –

»gis! – muß es heißen!« rief da plötzlich eine Kinderstimme von der Tür in die Kirche hinein.

Die Stimme war die Gabriels. Der Knabe stand aufgeregt atmend in der Kirchentür. Fränzchen blitzte den den Kirchenfrieden brechenden Bruder mit unverhohlenem Hasse an, der Vater selbst wollte Gabriel Vorwürfe machen, aber er frug: »Woher weißt du das?« – »Was meinen Sie, Vater?« – »Das mit dem gis! Du bist doch kaum sechs Jahre alt! Wer hat dich das gelehrt?« – »Gelehrt . . .? Ich weiß nicht . . . Oh, der hat so schrecklich falsch gespielt! Haben Sie das denn nicht gehört? Wie kann man das nur nicht hören!« – »Aber du mußt doch wissen, daß das Ding gis heißt!« – »Ich weiß nicht . . .« sagte der Knabe.

Fränzchen drängte in die Kirche und zog den Vater mit, Gabriel blieb, in der Menge unbemerkt, auf der Treppe zurück. Plötzlich stand ein kleines Mädchen neben ihm und schaute neugierig in das geheimnisvolle Lichtergeflimmer hinein. Jetzt faßte Gabriel das 49 Kind bei der Hand und frug: »Bist du denn nicht katholisch?« – »Nein«, sagte das Mädchen. – »Komisch«, meinte der Knabe.

»Du,« sagte er plötzlich, »du gefällst mir!« Er schaute das Mädchen selig an. Es war gleichaltrig, sein Haar war schwarz und das Gesichtchen lang und fein. »Du gefällst mir,« sagte der Knabe, »das ist wirklich wahr!«

»Wahr und wahrhaftig!« bekräftigte er, als das Mädchen noch in seinen glänzenden Augen forschte und seine Kleidung mißtrauisch zu prüfen schien. – »Du gefällst mir auch«, sagte sie schließlich langsam.

»Seid ihr reich?« frug der Knabe, die Kleidung des Mädchens prüfend. – »Ja –« sagte das Kind. – »Das ist fein! Gehört euch der Wagen da?« frug er. – »Ja«, sagte sie. – »Habt ihr auch ein Klavier?« frug er. – »Ja, auch«, sagte sie. – »Du, das ist fein . . . darf ich einmal zu euch kommen und auf dem Klavier spielen?«

Das kleine Mädchen sah ihn sehr freundlich an und – aber sie schaute erst noch mal den Anzug des Knaben an. Der war zwar nicht sehr fein, doch immerhin –, sie sagte: »Habt ihr denn kein Klavier?« – »Nein«, sagte der Knabe traurig. – »Komisch!« sagte das Mädchen.

»Darf ich?« drängte der Knabe aufs neue. – »Wir wollen Vater fragen, komm!« sagte sie.

Ein herrschaftlicher offener Wagen hielt nahebei auf dem Platze, wo die enge Pfalzstraße sich zur viereckigen Pfalz mit den Säulenhallen erweiterte. Ein freundlicher Herr stand neben den Pferden und klopfte ihnen den Hals, der Kutscher saß steif auf dem Bocke. »Nun, hast du in die Kirche 50 hineingeschaut, Traudchen? War's schön? Wen bringst du denn da?« frug der Herr.

»Vater, darf der kleine Junge Klavierspielen kommen?« – »Ei!« sagte der Herr überrascht, »wie heißt er denn?« – »Das weiß ich nicht«, sagte das Kind. – »Wie heißt du denn, kleiner Mann?« frug der Herr.

»Gabriel Großjohann.«

Das Gesicht des Herrn verfinsterte sich. N–ein, wollte er sagen, da aber sah er in das besorgte Gesicht seines Töchterchens, aus dem die dunkeln Augen ihn bittend anschauten. »N–un ja«, änderte er seinen Entschluß. »Was kann man einem solchen Geschöpfchen abschlagen?« dachte er.

Gabriel war schon in den Wagen gesprungen, ihm war Traudchen gefolgt. Er wollte auf den Rücksitz fallen, sie drückte ihn aber schnell auf den Vordersitz hin. Der Vater kam und nahm zur Linken seines Töchterchens Platz.

Ehe der Kutscher anziehen ließ, schaute er über die Schulter in den Wagen hinab und sah, daß der Bursche nicht einmal ruhig sitzen konnte. Er langte mit dem dicken Ende des Peitschenstieles hinunter und berührte die baumelnden Füße des Knaben. »Wenn die Kinder nicht aus feiner Familie sind . . . !« dachte er. Traudchen errötete.

Die zwei blanken Pferde zogen an, die Kutsche rollte davon.

 

Als Großjohann mit Fränzchen die Kirche verließ, war Gabriel nicht mehr da. »Er wird sich allein nachhause finden«, dachte der Vater; »sonderbar, was für ein Gehör der Junge hat! Begabt sind meine 51 Kinder.« – »Gabriel ist an der Kirche vorbeigelaufen«, knurrte Fränzchen und ärgerte sich.

Fränzchen ärgerte sich so, daß er zuhause plötzlich in seine Krämpfe fiel. Er lag auf dem Boden, Schaum stand vor seinem Munde, und er schlug mit Armen und Beinen. Großjohann wandte sich ab und bedeckte das Gesicht mit den Händen, das Elend nicht zu sehen. An seiner Stelle kniete Onkel Franz Xaver neben Fränzchen am Boden, des Knaben Arme und Beine festhaltend.

Als der Anfall vorüber war, sagte Franz Xaver: »Hermann, gib mir mein Patenkind mit nachhause. Meine Frau und ich haben keine Kinder. Laß Fränzchen das unsere sein, ihr habt ja Kinder genug. Wir wollen gut für ihn sorgen.« Er dachte: »Bei dir ist das Kind ja doch verlassen! Wie sollte mein großer Bruder sich mit einem Kinde abgeben, das die Kränke hat!«

Hermann Großjohann atmete auf. »In der Tat,« dachte er, »ich kann das Elend nicht ansehen. – Wenn Franziska nichts dagegen hat –?« sagte er.

Franziska hatte nichts dagegen.

 

Gabriel spielte in der Zeit, wo er nicht mit den Händen auf dem Flügel des Herrn Merlin spielte, in Gedanken in der Schule so viel Klavier, daß er mit dem Rechnen zuhause nicht ins reine kam. Er ging zum Vater und bat: »Helfen Sie mir.« Der Vater saß am Tische vor Blättern mit unendlichen Zahlenreihen und sagte unwirsch, ohne aufzusehen: »Geh zur Mutter.« – »Mutter, helfen Sie mir.« – Die Mutter, mit Karitas nähend, sagte: »Geh zum Vater.« Als jetzt der Knabe zornig weinend zwischen 52 den Eltern stand, lief plötzlich seine Schwester von irgendwoher auf ihn zu, Brigitta, die älteste, die niemals einer Hilfe bedurfte, packte ihn derb am Kragen und zog ihn ins Nebenzimmer.

Der Knabe saß neben der strengen Schwester, vollendete seine Aufgabe und wagte nicht sie anzusehen, nicht einmal, sich bei ihr zu bedanken. »Und wenn die Eltern morgen wieder keine Zeit für dich haben,« sagte Brigitta am Schlusse spöttisch, »kommst du zu mir.« Dann war sie plötzlich verschwunden, als hätte der Boden sie verschluckt.

»Wo ist Brigitta?« rief der Vater durchs Haus. – »Ich weiß es nicht,« sagte Gabriel voll Angst, »eben war sie noch da.« – »Wo ist Brigitta?« rief der Vater durch die Räume. »Wo ist Brigitta?« klang seine Stimme aus dem Hofe.

Im Hofe erhoben sich ein- und mehrstöckige Lagerhäuser von Holz und hohe dreiseitige prismenförmige Bretterstapel. »Wo zum Teufel ist sie?« rief der Vater in immer wachsender Wut. »Hast du Brigitta gesehen, Franz Xaver?«

Franz Xaver war mit dem Ausmessen des Inhaltes eines gewaltigen Eichenstammes beschäftigt. »Ich weiß es nicht«, sagte er ohne aufzusehen, und Hermann erzürnte sich noch mehr, als er sah, daß der Bruder log. Da plötzlich glühten ihn aus dem finstern Grunde des Schuppens Brigittens Augen wie die einer Katze an. Zornig zog der Vater sie hervor und schlug sie. Sie weinte nicht. Als sie unempfindlich blieb, ließ er ermüdet ab.

»Du solltest deine Kinder nicht so schlagen, Hermann«, sagte Franz Xaver schüchtern. – »Haben wir von Vater keine Schläge bekommen?« erwiderte 53 Hermann; »sie sollen mir nicht mißraten!« – »Wir sind nicht mißraten trotz den Schlägen, Hermann. Es müssen schon gute Kinder sein, die der Vater durch Schläge nicht verderben kann.«

»Charaktere wie Felsen sind die Kinder,« dachte Franz Xaver sinnend, »Franziskas Kinder. Wie die Wurzel, so der Baum!«

Franz Xaver aber haßte seinen Bruder mehr und mehr. Er klagte zu Winterfeld: »Ist das noch ein Leben? Das ist kein Leben mehr, das ist Sklaverei! Wer keine Brache kennt, hat schlechte Ernten. Warum hetzen wir so? Mein Bruder treibt's zu arg. Nur Samstags läßt er mich nachhause aufs Land in die Grünstraße zu meiner Frau Lambertina und Fränzchen fahren. Ach, wenn ich nur Zeit hätte! Nicht Reichtum, nicht Macht – nur Zeit! Aber wie soll ein Arbeitsmann, und besonders bei meinem Bruder, Zeit haben? Wer läuft, den jagt man noch!«

Winterfeld sagte nichts, denn er hatte gelernt, daß im Leben oft eine Meinung richtig und ihr Gegenteil doch nicht falsch ist.

»Glaubt Ihr nicht, Winterfeld, daß Zeithaben geradezu mit der Sittlichkeit zusammenhängt? Nur in Muße kann man glücklich, auch nur in Muße gut sein. Das ist meine Meinung.«

Als Hermann am nächsten Tage Überschicht vom Angelus bis Mitternacht befahl, kündigte Franz Xaver ihm zornig den Dienst. Hermann aber lächelte nur, denn Franz Xaver hatte »noch immer keine größeren Aufträge und war noch immer leicht abkömmlich«. Und Franz Xaver blieb.

54 Die langsam-stetig wachsende Familie, das sich vergrößernde Haus, die sich mehrenden Ansprüche des Standes, alles stellte Frau Franziska zufrieden mit Hilfe dieser einzigen Dienerin, der gewesenen Hebamme Karitas Helfereich. Sie gebar auch mit ihrer Hilfe sicher, doch unter vielen Schmerzen ein fünftes Kind, ein erbärmliches Mädchen. Erbärmlich in der Sprache Franziskas, besonders der Karitas, für andere Leute wäre es ein zartes Geschöpf gewesen, aber bei der Geburt war niemand außer der Hilfe zugegen. Das Kindchen hatte sonderbarerweise die Augen schon geöffnet, so tiefe stille Augen, daß es mit dem Verstande eines Erwachsenen auf die Welt gekommen zu sein schien. Mit diesen Augen und diesem Verstande sah es sich diese Welt und diese Familie einige Minuten an, dann schloß es die Lider und schien zu sagen: Dafür danke ich . . . Das Kind war tot, ehe die Mutter es lebend gesehen hatte. Als sie eben, noch halb betäubt, flüsterte: »Ich will nie wieder ein Kind haben«, kündigte ihr Karitas den Tod des Kindes an mit den Worten: »Es wär' nicht nötig gewesen.«

Philipp Emanuel Jakobus – Emanuel aber bedeutet: Gott mit uns! – jetzt ein siebenjähriger Knabe, stand eine Weile stumm am Bette der Mutter. Plötzlich sagte er: »Jetzt haben Sie einen schönen Engel im Himmel, Mutter.« Da war es der Mutter, als sähe sie ihren Sohn als Geistlichen am Wochenbette einer verwaisten Mutter und hörte ihn die Trostworte sagen: Jetzt haben Sie einen schönen Engel im Himmel.

Wenn andere Leute denken: der Knabe könnte Geistlicher werden, wenn er dazu Lust hat, so dachte 55 Frau Franziska: Der Knabe hat Lust zum Geistlichen, oder: der Knabe hat mir Lust zum Geistlichen . . . Der Vater, der den harten trüben Trost hörte, dachte auch: Der Junge könnte vielleicht Geistlicher werden . . . Für die Mutter nahm der Knabe bald etwas von dem Reize an, den die Dinge der Tempelweihe haben. Einzig mit Philipp gab sie sich ein wenig ab, soviel der Drang des Haushaltes und der Geschäfte ihr Zeit ließ, und nährte seinen Geist mit den Geschichten der Bibel. Sie lenkte ihn einen Weg entlang, an dessen sehnsüchtig geschautem Ende der Altar Philipps stand, denn es gehörte sich ja auch, daß eine aufstrebende Familie eines ihrer Glieder unter den Dienern der mächtigen Kirche hatte, und so kam es, daß Philipp in den Jahren, wo der Bart kommt, sich nachträglich freiwillig für den geistlichen Stand entschied. Er wußte nicht, daß sein Beruf das Ergebnis einer Reihe von Wirkungen war, deren erste von ihm ausgegangen war, als er beim Tode der namenlosen Schwester die Mutter zu trösten versucht hatte. Hätte er damals gesagt: Mutter, haben Sie Lust auf Schokolade? – so wäre er vielleicht Konditor geworden.

 


 << zurück weiter >>