Josef Ponten
Der babylonische Turm
Josef Ponten

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Fünfzehntes Kapitel

Mama!

Ein Herr trat auf den Platz vor dem Bahnhofe hinaus und stieg in einen Wagen. »Zum Ubierring.« Der Kutscher dachte, während er den Pferden den Freßsack abnahm: »Aha, mal ein Fremder, der in die Großjohannstadt will.« Und er sagte: »Das kommt selten vor, Meister, daß einer in die Großjohannstadt will, müßt Ihr wissen. Die Großjohannstadt am Flusse ist nicht mehr in Mode, müßt Ihr wissen. Da stehen die Häuser jetzt leer. Was die feinen Leute sind, die ziehen hinauf zum Berge, in die Wälder. Auf einmal will alles in der freien Natur wohnen. Schad' drum, unsere Pferde gehen uns in dem Aufundab nur früher zuschanden. Tja, tja«, machte er auf den Bock steigend und hob die Zügel, durch die eine Welle von seiner Hand zur Gebißstange im Maule der Pferde lief.

»Welche Nummer?« frug im Fahren der Kutscher. – »An der Straßenecke halten!« – »Aha,« dachte der Kutscher, »er will zum Großjohann, Geld holen. Das tun die Gläubiger alle. An der Ecke aussteigen und zufuß vorfahren. Ein armer Gläubiger kriegt eher etwas als ein reicher. Schade um den 347 Großjohann. Er ist doch unsereiner und auch nicht mit einem silbernen Löffel auf die Welt geholt worden. Hat's mal zu was gebracht und kann's nicht halten. Schad' drum!«

An der Ecke stieg der Herr aus. »Ein richtiger Herr,« dachte der Kutscher im Wegfahren, »nicht zu viel und nicht zu wenig Trinkgeld. Ja, der versteht's! Der scheint die Welt zu kennen! Ist doch vielleicht kein Gläubiger für den Großjohann. Ich wünsche es dem! Armer Hals! Die Gläubiger sehen anders aus. Sitzen da wie von Gott und Welt gekränkt um ihre Blutgroschen. Fahre sie gern schon einen Straßenblock um, daß ich sie dem Großjohann ein Vaterunser länger vom Halse halte. Mach' dir nichts draus, Großjohann. Was man geladen hat, muß man ja fahren, aber ein Maul voll Dreck kriegen wir schließlich alle drin, ob wir's nun ohne Zähne oder mit einem goldenen Gebiß kauen müssen. Brr! Schon wenn man daran denkt, wird einem die Kehle trocken! Ein Schnaps wird gut sein. Brr! Hüh!« Aber die Pferde hielten schon von selbst dort, wo das Pflaster stark nach ihrem Wasser roch.

 

»Da bin ich, Mutter!« rief Herkules. – »Ja, da bist du!« sagte Franziska und strahlte.

»Ja, nimmst du mich denn noch immer nicht in die Arme, Mutter,« rief Herkules, »allmählich könntest du doch Verstand annehmen!« Er umfaßte die Mutter stürmisch, obgleich sie rot dabei wurde, aber sie küßten aneinander vorbei in die Luft. – »Da bist du,« sagte Frau Franziska, ihn von sich abhaltend, »und groß und stark!« – »Und nicht ein bißchen grau bist du geworden, Mutter! Ich glaube, du wirst uns alle überleben und noch schwarz zur Grube fahren.« – »Und da ist auch der Vater, Georg«, sagte Frau Franziska, und ihr Gesicht glänzte.

»Ja, da ist ja auch der Vater!« rief Herkules und sah ihn in der Dämmerecke des Zimmers sitzen. »Warum meldet er sich denn nicht?« – »Seit wann schickt sich das denn? Und ›Du‹ sagt er?« dachte erstaunt Großjohann. – »Aber, Vater, Alterchen,« rief Herkules, »der Herkules ist da! Frisch von Amerika!« Es war einen Augenblick still, und man hörte den Blechmantel um den Eisenofen von der Stimme nachklingen. – »Freilich, ich bin auch da, Herkules«, sagte Großjohann. – »Gleich böse sein?« rief Herkules, faßte des Vaters Hand und zog ihn auf. – »Laß, Herkules, wir sind das nicht gewohnt«, sagte Großjohann und folgte halb widerstrebend.

»Mein Gott, Vater, du bist ja so klein! Du wächst ja wahrhaftig in die Erde hinein! Früher, mein' ich, bist du doch ein großer Mensch gewesen. Und ich war doch nur ein paar Jahre fort. Und so dünn ist dein Haar geworden! Hast du soviel Sorgen gehabt?« – »Viel Sohn, wenig Lohn«, sagte der Vater.

»Ach, Alterchen, ich glaub' ja nicht, daß dir das gemeint ist. Wer hat euch diesen Unsinn eigentlich eingeimpft? Wer will die Welt besser machen als sie ist? Leben, vergnügt leben in dieser Hundewelt, mit den Hunden heulen und beißen, meinetwegen, aber schad' ist's doch, von seinen eigenen Einbildungen kahl werden. Nur die Perückenmacher haben Vorteil vom Trübsinn der Menschen. Und nun nicht mehr böse sein, daß ich Zirkusreiter geworden bin! Der eine setzt sich auf das Pferd und der andere auf das. Die Hauptsache ist: reiten können! Du hast dich auf 349 ein hohes Roß gesetzt, Vater, und konntest nicht reiten.« – »So, so? Wenn ich das meinem Vater gesagt hätte, er würde mich totgeschlagen haben.« – »Dann war dein Vater eben ein alter Narr, Gott hab' ihn selig! und sollte zu Moses' Zeiten gelebt haben, wo sie dem gleich die Hand abschlugen, der den Vater ein bißchen derb anpackte, wenn er eine Dummheit gemacht hatte. Für solche groben Geschichten hat man heute keinen Sinn mehr. Ich hätte dir das schon früher sagen sollen, aber ich war zu blöde, und ihr habt mich gut erzogen, ihr beiden. Die alte Wüste hat immer hier in unsere Wohnung hereingereicht, und der Donner von Sinai ist noch nicht darin verhallt. Hinaus mit den arabischen Bibelschrecken und ein freundliches Wort dafür, Vater, ein freundliches Wort! Damit erziehst du mehr als mit Donner und Rauch. Die Eltern müssen mit den Kindern nach der Zeit jung werden, ihr aber habt uns Kinder vor der Zeit alt mit euch gemacht. Für jenes müssen die Kinder sorgen, wenn sie das grüne Holz ausgewachsen haben. Glaub' nicht, daß ich von jungem Wein aufstoße, Vater. Ich habe genug von Menschen gesehen, um mich vor Ekel zu schütteln. Aber ich schüttele mich nicht. Ich steige aufs Pferd, hoch aufs Pferd, blicke über sie hinweg und denke mir: Wer's kann, tu's mir nach! Gemeine Mistfinken, hackt im Dreck herum, den mein Pferd fallen läßt! Für ihre Groschen mache ich ihnen meine Kunststücke vor und verachte sie dafür. Aber ich muß mit ihnen leben und ihre Groschen haben. Nur nicht verzärtelt sein. Diejenigen, die 40 Jahre – ihr versteht die Bibelsprache besser als die Zirkussprache – die 40 Jahre durch die Wüste einer goldenen Wolke nachzogen und die den Turm 350 bauten, waren es auch nicht. Sie hielten sich immer für besser als die anderen, die um die Wüste herum in fetten Fluren saßen und um goldene Kälber sprangen, und darum hießen sie das auserwählte Volk. Wir müssen uns für die Auserwählten halten, um es zu sein. Und sie waren die Auserwählten. Während die anderen noch um goldene Götzen sprangen, tanzten sie um eine goldene Wolke. Das war schon was anderes! Solche goldenen Wolken sind vor den Besten von uns hergezogen, auch vor dir, Vater, ich verstehe heute, was in deiner goldenen Wolke war. Ein Traum, dem wir nachleben und nachziehen, ist das Höchste, Vater. Was tut's, ob er sich auflöst wie die Abendwolke, wenn die Sonne untergeht.«

»Das ist ja so, wie wenn Philipp bei den ›Minnebrüdern‹ predigt,« sagte die Mutter, »nur ein bißchen anders.« – »Philipp? Aha, mein Bruder Pfäfflein!« – »Sag' das nicht, Georg«, sagte streng Franziska.

»Das Wort ist nicht böse, Mutter, wir in der Welt sagen so und denken, jedes Gewerbe anständiger Menschen ist recht. Macht er euch Freude, euer Sohn Emanuel? Und kommt er euch oft besuchen?« – »Er hat soviel zu tun«, sagte die Mutter.

»Ich verstehe, er kümmert sich um alles, nur nicht um die Nächsten. So war das immer bei uns. Aber das soll anders werden, und ihr sollt noch einmal jung werden, ihr Alterchen. Das verspreche ich euch, bei meiner Zirkusreiterehre! Und nicht mehr böse sein, daß ich Zirkusreiter geworden bin! Laßt das Pack reden, das nicht auf einem Maulesel reiten kann. Da, Mutter, ist ein Beutel mit Geld, ich glaube, es ist viel. Und hier sind auch Banknoten, Vater, schwedische, russische und amerikanische, ich habe sie 351 genommen, wie sie kamen. Und nun, da ich euch eine so lange Predigt gehalten habe, die ich euch schon früher hätte halten sollen – wenn ihr sie euch jetzt wenigstens hinter die Ohren schreibt! – so laßt mich einmal auf unser früheres Jungenzimmer gehen und mich etwas besser anziehen, da ich doch zu meinen lieben Eltern auf Besuch gekommen bin.« Er ging hinaus, zog seine feinen modischen Kleider aus und einen Alltagsrock an, denn er hatte gesehen, daß der Vater dürftig gekleidet war.

Frau Franziska umfaßte den Beutel mit krampfenden Händen, betastete ihn um und um, und ein starkes Gefühl ging von dem harten Metalle in sie über. Hermann Großjohann hielt die Brieftasche mit den Noten in der Hand; jetzt ging er zum Tische und übergab sie, ohne sie zu öffnen, Frau Franziska. »Da, nimm du's, Banknoten sind immer so schmutzig.« Er ging in sein Schlafzimmer. Dort stand auf einer Kommode als eine Art Hausaltar, von Franziska im Zimmer des Hausherrn aufgebaut, eine Figur der heiligen Barbara aus Wachs. Hermann Großjohann umfaßte die Gestalt der Heiligen mit seiner großen Hand, das Wachs erwärmte sich allmählich, und immer größer wurde die Figur, immer länger und schlanker die Heilige, ihr Gesicht verzerrte sich, als ob ihr die Luft ausginge, und Hermann sagte: »Es ist nichts mit uns, heilige Barbara, Beschützerin und Heilige der Bauleute; die Welt faßt uns hart an, daß uns der Atem ausgeht, das Leben geht dahin und wirft uns weg – und alles war ein Irrtum.« Die Faust entspannte sich, es entspannte sich auch seine Seele, er warf sich über die Kommode mit beiden Armen hin, und ein Männerweinen 352 erschütterte ihn. »Herkules! Herkules! In der Wiege hat er eine Ratte erwürgt, und nun erwürgt er lachend jedes Selbstgefühl des Vaters. O Schande! O Schande! Von seinen Kindern Geld annehmen müssen . . . !«

 

»Gespannt wie ich sie finde! Gespannt wie ich sie finde!« wiederholte sich Herkules, als er straßauf straßab nach dem Hause suchte, wo Schröders wohnten. Sie waren immer weiter aus der Stadt hinaus und in ihren Häusern immer mehr nach hinten gezogen. Man verwies ihn in ein Hinterhaus, aber auch dort waren sie schon ausgezogen. »Warum hab' ich nicht den Vater gefragt? Aber sieh mal, das brachte ich auch nicht über mich, zu gestehen, daß ich ein Mädchen suche. Oh, wie dick ist die Großjohannshaut! Das muß noch anders werden, alter Herkules, der du über den Rücken der Pferde hinwegturnst. Aber manches Vorurteil steht dir wie ein papierüberzogener Reif noch im Wege, und du gehst drum herum, statt wie im Zirkus mitten hindurchzusetzen, daß die Fetzen fliegen! Gespannt wie ich sie finde!« Und er ärgerte sich, nicht laufen zu dürfen, so schnell strebte seine Sehnsucht dahin. »Aber es schickt sich doch nicht für einen Herrn, auf der Straße zu laufen, auch wenn er schrecklich verliebt ist, und sei es selbst ein Zirkusreiter!« sprach er zu sich. »Geduld, mein Herz, Geduld! Gespannt wie ich sie finde!«

Endlich hatte er sie. Der ehemalige Schlossermeister, der dem Wachsen der Stadt vorauseilend Paläste und überflüssige Wohnungen für noch nicht vorhandene Geschlechter gebaut, hatte schließlich, gejagt von Kapitalisten, Spekulanten und Gläubigern, 353 Ruhe gefunden in einem Gärtnerhäuschen, das der Grundstücksaufteilung einer alten Villa entgangen war – die Ruhe des Habenichts. Wie im Märchen rankten Blumen und Schlinggewächse um das Haus.

»Margarete!« – »Herkules!«

Unwillkürlich breiteten beide einander die Arme entgegen. Da besannen sie sich, daß sie soweit miteinander denn doch nicht waren.

»Ja, so . . .« Herkules lachend und ließ die Arme sinken. Auch sie lachte und ließ die Arme sinken.

Sie sahen sich an, strahlten und lachten sich an. Sie lachten nicht das leere Lachen der Narrheit, sondern das volle des Glückes.

»Da bin ich, Margarete!« brachte Herkules hervor. – »Ich seh's, und ich bin auch da, Georg Herkules Großjohann!« Langsam sprach sie den langen Namen aus, als koste sie ihn.

»Nun also . . .« sagte Herkules und hob von neuem die Arme, ließ sie aber sogleich wieder sinken, denn dazu war es jetzt doch zu spät. Auch ihre Arme hatten sich bewegt, aber auch sie erkannte, daß der rechte Augenblick vorüber war.

»Da wir nun also da sind, so setzen wir uns«, sagte sie mit unterdrücktem Lachen. So saßen sie denn einander gegenüber.

»Wie gut, daß er nichts sagt«, dachte Margarete, und Herkules dachte: »Die Luft klingt noch von ihren Worten nach.«

»Wie eine Sonne ist sein Gesicht,« dachte sie, »und seine Stirn ist rein und frei; da ist nichts Häßliches drüber hingegangen.« – »Wie blau sind ihre Augen! 354 Wie lang sind ihre Wimpern! Wie schön ist das Goldgewirr ihrer Stirnhaare!« dachte er.

»Freuen Sie sich, daß ich wieder da bin, Margarete?« frug er geradeswegs. – »Ja,« sagte sie einfach, »ich freue mich sehr«, legte die Hände in ihrem Schoße ineinander und preßte sie zwischen ihre Knie.

»Und ich freue mich so . . . so . . . so kindisch!« rief er.

Als sie sich nun satt angeschaut hatten, sagte sie: »Sollten Sie nicht etwas zu erzählen haben?« – »Oh, viel! Soviel, daß es schon gar nicht der Mühe wert ist, anzufangen.« – »Sie wollen schon wieder fort?« frug sie schnell und sich vornüberneigend. – »Nein, ich bleibe, lange, einen, zwei Monate, die ganzen Zirkusferien.« – »Das ist schön,« sagte sie, »ja, das ist schön,« und lehnte sich behaglich zurück, »dann lohnt es sich jetzt nicht anzufangen, dann ist noch viel Zeit dazu.«

»Aber Sie sollten mir erzählen, Margarete.« – »Was ist da zu erzählen? Sie sehen ja alles, Georg Herkules. Unserem Wege werden Sie ja straßauf straßab, hausaus hausein nachgegangen sein, denn wie sollten Sie uns sonst hier in unserem Verstecke gefunden haben? Die Mutter ist leider gestorben, das war das einzige Schlimme. Meine Geschwister sind versorgt, die Knaben sind wieder Handwerker geworden, was der Vater war. Jetzt bin ich mit dem Vater allein. Er kann den Sturz nicht vergessen, und das versteht man. Und so schaffe ich denn Brot für uns beide und für ihn noch – er braucht das – den Rausch. Er ist aber ganz ruhig und sanft dabei. Es fehlt nichts, was wir unbedingt brauchen, also haben wir alles. So ist es uns ergangen, die Leute sagen, es 355 sei uns schlecht ergangen. Ich finde es nicht.« – »Herrlich, Margarete! Herrlich! So habe ich mir gewünscht, Sie wiederzusehen – Mama« (er sprach das Wort ganz langsam und süß aus), »wissen Sie noch?« – »Ich weiß noch, lieber Junge«, sagte sie leise, neigte sich plötzlich ihm zu, schloß die Augen und küßte ihn auf die Stirn. – »Mama«, sagte er leise. Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn, hob den goldenen Schleier der Stirnhaare daraus und lächelte irgendwohin.

»Ich verdiene Geld wie Heu, Mama«, sagte er. – »Um so besser für Sie. Wir schulden Großjohanns schon soviel. Ihr Vater ist ein guter Mann, Herkules, und hat uns oft geholfen.«

Schweigen.

»Und nicht ein bißchen verändert ist die Mama. Zwar stattlicher geworden, aber das steht ihr gut, das paßt sich für eine Mama,« meinte er lachend, »und das knappe korngelbe Kleid ist schön; ich freue mich, daß Sie sich gut kleiden, obschon es Ihnen, wie Sie meinen, so gut ergangen ist. Ich mag die Menschen gut gekleidet sehen.« – »Es ist dunkel hier, mein lieber Junge, das tolle Gerank draußen verhängt die Fenster, und der Abend kommt in dieser Jahreszeit schnell, sonst würden Sie die grauen Haare sehen.« – »Graue Haare?« erschrak Herkules, »kommen die auch, wenn es einem so gut geht? Sind in den goldenen Massen graue Haare darin?« – »Wie sollte es nicht? Ich gehe doch auf die vierzig.« – »Vierzig? Nicht möglich!« erschrak Herkules noch mehr. »Das ist ja nicht wahr. Die Frauen machen sich doch immer jünger als sie sind, aber Sie machen sich älter. Sie sind elf, zwölf Jahre älter als ich, warten 356 Sie, also werden Sie sechs . . . siebenunddreißig sein.« – »Nun, heißt das nicht, auf die vierzig gehen?« – »Eine andere würde sagen, das heißt dreißig sein. Warum machen Sie sich älter als Sie sind? Mir scheint, mir gegenüber. Ich mag die Frauen nicht, die anders tun als die anderen Frauen. Dieses Geschlecht weiß so genau über sich Bescheid, und eine außergewöhnliche Frau gerät leicht stillos.« – »Warum nicht Ihnen gegenüber? Ich bin doch Ihre Mama«, sagte sie und sah ihn ernst an.

Wieder Schweigen.

»Was denken Sie, lieber Junge?« frug sie. – »Ich kann es nicht sagen, Margarete, wenn Sie mich lieber Junge nennen«, erwiderte er ernst und sah zu Boden. – »Und warum nennen Sie mich Margarete und nicht Mama? Das ist doch ausgemacht! Ich höre es gern. Also, Herkules?« – »Ich kann es erst recht nicht sagen, wenn ich Sie Mama nennen soll.«

»Aber das ist doch ein schöner Name, Herkules! So recht für uns!« – »Glauben Sie?« frug er und sah sie fest an. Doch in ihren blauen Augen veränderte sich nichts. »Wer von uns ist eigentlich auf den Unsinn gekommen?« frug er. – »Es ist kein Unsinn, Herkules! Übrigens, Sie waren's!« – »Ja, ich war's. Ich erinnere mich. Das sieht mir ähnlich. Und damals, als ich zuerst Mama sagte, war es richtig, denn ich war ein Knabe, aber jetzt –«

Atmete Margarete schneller? »Ich weiß nicht, ob ich mich täusche«, dachte Herkules.

»Margarete, wollen Sie mich heiraten?«

Sie zuckte zusammen. »Heiraten?« Aller Glanz war aus ihren Augen gewichen. »Sind Sie bei Verstande?«

357 »Wollen Sie mich heiraten, Margarete?« frug Herkules ernst.

Sie wurde unruhig, sie stand auf und zündete eine Kerze an, denn der Abend war gekommen.

»Antwort, Margarete!«

»Aber wie soll ich?« rief sie widerstrebend, »ich bin doch Ihre Mama! Wer heiratet denn seine Mama?« Sie setzte sich wieder. – »Strafen Sie mich nicht zuviel, Margarete. Es ist ja Unsinn, ich war ein dummer Knabe . . .« – »Das waren Sie nicht, lieber Junge. Sie waren klüger als Sie dachten, da Sie so sprachen. Widersprechen Sie nicht. Damals, als Sie es noch für klug hielten, da habe ich es, ich will's nur gestehen, einen Augenblick für dumm gehalten. Das ist ja nun schon viele Jahre her. Aber langsam sah ich ein, daß der Geist aus Ihnen gesprochen hatte, mein lieber Junge.«

Sie saßen, die Köpfe gegeneinander geneigt, doch ohne sich zu berühren. Herkules starrte zu Boden. »Ich habe gedacht, wir liebten uns«, sagte er. Die Worte fielen schwer.

Sie streckte die Hand aus und fuhr ihm übers Haar. »Mein lieber Junge. Warum sprechen Sie das Wort aus? Warum entzaubern Sie das Geheimnis? Lieben wir uns denn nicht –«

»Ja, Margarete?« fuhr er leidenschaftlich auf. Aber sie sah ihn nicht an, und jetzt sah sie zu Boden. – »Sie haben das Wort ausgesprochen, das Sie besser verschwiegen hätten. Ja, Georg Herkules, ich liebe Sie! Ich liebe Sie! Ja! Ja! Nicht reden, bitte, ich fürchte, Sie entzaubern noch mehr. Ich liebe Sie – aber ich frage Sie, was hat denn Lieben mit Heiraten zu tun?«

358 Er sah auf. »Darauf weiß ich nichts zu sagen. Wenn das nicht selbstverständlich ist . . .«

»Nein, mein Junge. Eine Frau, deren Haare anfangen grau zu werden, weiß das besser. Wenn ich nicht zwölf Jahre älter wäre als Sie, gleichaltrig oder besser noch zwölf Jahre jünger, dann wär's vielleicht anders. Vielleicht, ich weiß das nicht, da es nun so ist.«

»Ich versteh' nicht, was Sie reden«, sagte Herkules und schüttelte den Kopf.

»Ich wäre eine alte Frau, während Sie noch ein junger Mann wären. Sie sagten vorhin mit Recht, Sie lieben die Frauen nicht, die anders sind als die Mitschwestern. Das war richtig. Die Frauen wissen so genau, was sie tun, wenn sie Männer heiraten, die älter sind als sie. Im Altern kann man schnell jemandem den Rang ablaufen, und die Natur hat die Frau auf ein schnelles Pferd gesetzt, das nach dem Alter rennt. Wenn Sie später an eine alte Frau gekettet wären, wie unglücklich wären Sie! Sie müssen frei bleiben. So ist es, und darum sind Sie mein lieber Junge. Beinahe, freilich beinahe nur liebe ich Sie mütterlich, und ich würde gleich einer Mutter alles für Sie tun, und darum bin ich Ihre liebe Mama. Und nun genug davon.« Sie strich ihm noch einmal flüchtig übers Haar und lehnte sich zurück. Auch er lehnte sich zurück, und sie schwiegen sich an.

»Soweit wären wir also,« sagte schließlich Herkules, »wieder einmal von einer Frau geschlagen!«

»Wieder einmal? Das glaube ich nicht, Herkules. So wie Sie da sind, der ganze Mann, mit seiner großen Güte, die ihm aus allen Ritzen strahlt wie ein Licht aus einer Hütte in der Nacht, mit seinem 359 sieghaften, ganz und gar unwiderstehlichen Wesen, von dem er selbst nichts weiß – ja, ich meine Sie da, Georg Herkules Großjohann! – dem müssen die Frauen zufliegen wie die Nägel dem Magnetberge. Ist's nicht so?«

»Hm . . .«

»Erzählen Sie mir Ihre Liebesabenteuer, ich bin ja Ihre Mama. Ich kenne so wenig von der Welt. Denken Sie, ich bin eine aufgeklärte liebe Mama, die mit ihren Söhnen jung sein will und durch sie die Welt und ihre Streiche kennen lernt. Nun?«

»Nun ja, wenn Sie es denn wissen wollen, die Weiber laufen mir halt nach«, sagte Herkules. – »Erzählen Sie«, drängte sie. – »Was ist da viel zu erzählen?« meinte er. »Lassen Sie mich Faust abwandeln: was man nicht hat, das eben brauchte man, und was man hat, kann man nicht brauchen. Das ist das eine, und das andere ist die alte traurige Erfahrung, daß die schönen Frauen immer schon einem andern gehören.«

»Haha! Das ist gut! Aber nun wohl, Sie werden trotzdem viel Lohnendes erlebt haben. Und erst recht in der großen Welt, in der die Frauen es nicht so genau nehmen. Erzählen Sie mir Ihre Liebesabenteuer«, flüsterte sie und bedeckte die Stirn sich vorbeugend mit der Hand.

»Es ist kaum etwas zu erzählen. Gewiß, das eine oder andere habe ich erlebt, dessen ich mich in der Erinnerung nicht schäme, aber sehen Sie – Mama,« sagte er lächelnd und seiner Zunge einen Ruck gebend, »andere Männer haben viel mehr Glück bei den Frauen! Erleben viel mehr! Ich glaube, ich fange das falsch an. Ich muß da einen falschen Grundsatz 360 haben. Aber ich bin ein junger Mann, der trotz großer Welt und allem, was er gesehen hat, dem Weibe einen heimlichen Thron in sich errichtete. Ich meine immer, es müsse auch etwas von Liebe dabei sein, oder mindestens das Entzücken vor der Schönheit, das die Liebe für Augenblicke ersetzt. Und das alles ist doch nicht so leicht. Ja, wenn man anspruchslos ist . . .«

»Aber, aber . . .« frug es flüsternd hinter den Händen vor ihrem Gesichte. Auch er sprach, obgleich sie allein waren, flüsternd: »Aber, wollen Sie sagen, die Frauen liebten doch, genügt das nicht? Nein, wollen Sie das nicht sagen? Sie schütteln den Kopf. Was denn?«

»Aber . . .« flüsterte sie.

Da fiel der große Junge plötzlich vor ihr nieder, umfaßte ihre Knie, schmiegte seinen Kopf daran und rief: »Aber leiden Sie nicht, wollen Sie sagen? O Sie liebe liebe, Sie gute beste Mama! Ja, ich leide! Warum es nicht gestehen? Ich bin ja voll von den Frauen. Wenn eine mich anschaut – es läuft mir heiß und kalt über den Rücken, und der Geruch von Haaren kann mich toll machen. Nachts in den warmen Ländern, wenn das Fenster offen steht und aus der stillen Straße das Trippeln der Füße einer schönen Frau heraufklingt – eine Frau, die wir nicht sehen, ist nämlich immer schön – dann schlafe ich nicht. Und im Hotel erregt es mich, wenn nebenan eine Frau – wenn wir sagen: eine Frau schlechthin, meinen wir immer eine schöne Frau – wenn ich die Schnallen ihrer Strumpfbänder wider den Stuhl klappern höre, indem sie sich auszieht. Man fühlt das Weib in allen seinen Adern und Fasern. Das Weib ist 361 die Musik in unseren Nerven, das Weib ist der Rausch unseres Blutes! Alles Holde kommt vom Weibe! Alles am Weibe ist süß!«

Er schlang seine Arme um sie, und wie er sie so in seinen Armen hatte, schloß sich ein Stromkreis zwischen ihnen. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen, und er rief: »Bin ich blind oder bin ich blöde? Mama –? Auch Sie –? O Mama!«

Sie sprang auf.

»Du willst nicht, Mama?« frug er wie ein gekränkter Knabe.

Da erlosch plötzlich die Kerze, und er hörte sich im Dunkel flüsternd gerufen.

Neuer Anschlag

Auf des alten Grafen Schreibtische lag ein Brief von Fräulein Merlin. Hastig riß er ihn auf. Er enthielt, unter einigen höflichen Umschreibungen, nur die Worte: »Bitte machen Sie mir Geld flüssig.« Er ließ das Blatt sinken. »Ist es möglich,« dachte er, »daß einem alten Esel das Herz noch klopfen kann wie einem Sekundaner?« Und er lachte so laut, daß das Klavier im offenen Nebenzimmer, in seinen Baßsaiten gleichtonig erschüttert, mitlachte. »Soll geschehen,« rief er grimmig, »ich werde Ihnen Geld schaffen, schönes Fräulein! Soll geschehen!« Er hob den Hörer vom Apparat ab. »Sind Sie da, Silberzahn? Hier ist Graf Wetter . . .« Es knatterte im Hörer . . . »Schon gut! Schon gut! Kommen Sie doch gleich zu mir, Silberzahn . . .« Es knatterte wieder . . . »Schluß!« Indem er den Hörer in die Gabel warf, 362 brummte der Graf: »Ekelhafter Krawattenmacher, mach' deine Kratzfüße und Katzbuckel für dich allein!« Er klingelte. Hubert stand da. »Der Wagen soll vorfahren!« – »Zu Befehl!«

Der Wagen fuhr ab. Der Wagen kam an.

»Aha, Wetter! Bitte Platz zu nehmen.« – »Danke schön, Hagelstange, alter Freund.« – »Du bist ja so erregt, Wetter?« – »Geschäfte!« – »Jaja, was einem das Herz klopfen macht! In der Jugend ist's die Liebe, im Alter ist's das Geld.«

Der Graf verzog das Gesicht. Hagelstange aber fuhr fort: »Seidenröcke knistern wie Banknoten. Bei jungen und alten Knaben will die Begierde erregt sein, denn Begehren bedeutet Leben, aber das Begehren nach den Seidenröcken war edler.« – »Du bist ein Philosoph, Hagelstange, aber du mußt wohl ein schlechter Philosoph sein, weil du ein guter Bankmann bist.« – »Ja,« sagte Hagelstange, »es ist schade, daß das Beste in uns verkümmern muß, wenn wir etwas Gutes sein wollen. Das Beste ist, beschaulich zu werden wie ein Inder. Sechs Schöpfungstage sind schön, aber das Schönste ist doch der siebente, der Ruhetag. Oder besser noch der Samstagabend! Wenn die Straßen gefegt werden und die Glocken, alle Glocken von der großen Münsterglocke angefangen, den Sonntag einläuten, keine Glocke mag da schweigen. Hast du das nie empfunden?« – »Nein!« – »Kann's mir denken. Ob wir die Ruhestunde der Beschaulichkeit noch finden? Oder ob wir in den Sielen sterben werden? Ich gestehe, ich erstrebe es nicht, in den Sielen zu sterben. Das heißt eher als Gaul verenden denn als Mensch sterben.«

363 »Hör' auf, deine Philosophie wird gefährlich!« rief Wetter. – »Laß mich. Du sollst mein Opfer sein. Wo ist in unserer hastigen Welt noch ein geduldiger Zuhörer? Das Geschäft mag einen Augenblick warten. Warum jagen wir denn so hinter dem Gelde her? Weißt du es eigentlich, Graf? Also du weißt es auch nicht. Wir brauchen es nicht, denn wir haben genug. Habgier ist es auch nicht, so tief stehen wir beide wenigstens nicht. Was also dann –? Wer rastet, rostet, sagt das Volk. Ei, warum denn nicht? Wenn's nur Edelrost wird! Die Patina des Alters heißt Weisheit, aber wir lassen ihr keine Zeit, sich anzusetzen. Statt dessen prägen wir Alten billige und zynische Weisheiten wie die, daß guter Stuhlgang noch besser sei als Liebe. Du lachst, alter Jugendsündengenosse. Meine beiden Herren Söhne lächeln auch bereits etwas über ihren schwärmerischen Vater. Sie arbeiten wie die Dreschochsen, und sie werden die Bank noch zu Glanz bringen, der das Vatergeschäft wie die Sonne den Morgenstern überstrahlt. Sie sagen, sie wollen mächtig werden . . .«

»Mächtig,« unterbrach der Graf, »wir wollen mächtig werden! Das ist es! Wir wollen unsere Kräfte wirken sehen. Wir wollen Stadt und Staat sich unter unseren Händen verändern sehen . . .« – »Und ist das nicht ein etwas kindisches Vergnügen?« frug Hagelstange. »Ein Strohhaufen verändert sich auch, zuerst in Feuer, dann in Rauch und zuletzt in Asche, wenn die Knaben Feuerchen legen . . .« – »Entschuldige, Freund,« unterbrach ihn wieder der Graf, »du bist reif für die Ruhe. Du solltest dich wirklich zur Ruhe setzen.« – »Du hast recht. Und ich werde es tun, wenn . . . wenn meine Söhne es mir 364 gestatten.« – »Nun aber zu den Geschäften!« rief der Graf. – »Ja, zu den Geschäften«, sagte seufzend aber folgsam der Bankdirektor.

 

»War das ein hartes Stück Arbeit«, sagte der Graf zu sich selbst, als er wieder in seiner Kutsche saß. »Hagelstange hat an diesem Großjohann einen Narren gefressen. Und Mißtrauisch ist er. Doch diesmal war ich der Klügere. Aber sicher habe ich Interesse an diesem Manne! Aber gewiß geht mir das Schicksal dieses seltenen Menschen nahe! Guter Hagelstange, du ahnst nicht, wie nahe!« brummte er grimmig. »Du wirst es hören, wenn dein Schützling auf der Folter der Henkersknechte Silberzahn, Fingernagel und Genossen stöhnt und ächzt. Ich kann nun einmal den Menschen nicht ausstehen! Gewisse Menschen reizen uns durch ihr bloßes Dasein, und wenn sie in Hinterindien lebten! O schöne Gertrud, wenn du wüßtest, welch eine Waffe du mir in die Hand gegeben hast! Die Liebe ist süß, aber das Nächstsüße ist die Rache!«

 

In der Flurhalle des roten Hauses wartete Silberzahn. Von der Eile erschöpft, ließ er seinen kurzen asthmatischen Schafshusten hören. Hubert schätzte es sicher ab, wer von den Besuchern in das Empfangszimmer zu führen und wer im Flur zu belassen war. Als eine Stunde Wartens vergangen war und Silberzahn ungeduldig wurde, frug Hubert: »Ihr wart wohl nicht Soldat, Herr Silberzahn?« – »Soldat? Gott bewahre, nein! Gott sei Dank, nein! Man muß genug in den Schornstein schreiben, auch noch drei ganze Jahre? Es bringt nichts ein, Soldat zu sein.« 365 – »Oh, wenigstens lernt man warten«, sagte Hubert und lachte schadenfroh. – »Ich danke für das Warten, und wenn der Graf nicht bald kommt . . .« – »Nun, was dann?« frug Hubert. – »Dann . . . dann . . .« drohte Silberzahn. – ». . . dann werde ich eben noch länger warten, wollt Ihr sagen, und Ihr tut ganz recht daran. Seht einmal, Herr Silberzahn, bei den großen Herren ist das ganz anders als bei den kleinen. Sie sagen, die Zeit ist kostbar, aber sie meinen nur ihre Zeit. Damit der große Herr nicht etwa 5 Minuten zu warten braucht, wird der kleine 5 Stunden vorher bestellt. Wie jetzt Ihr! Dann kann es nicht vorkommen, daß der große Herr zu warten braucht. Sagt selbst, Herr Silberzahn, wie würde sich das denn auch schicken? Man sieht, daß Ihr nicht Soldat wart, und das ist ein Mangel, der einem das ganze lange Leben anhaftet. Als ich Soldat war – nun, ich gehörte zu denen, welche 5 Stunden warteten, ich sag' es wie es ist. Auch noch mein Herr Graf, als er Leutnant war, wartete 5/4Stunden. Da fluchte er auch manchmal, so wie Ihr es wohl tun möchtet; aber wenn der Herr Major kam, dann schlug er die Hacken zusammen, daß die Sporen klirrten, setzte das freundlichste Gesicht auf und meldete sich zur Stelle. Er hatte genau so ein freundliches Gesicht, wie Ihr es gleich haben werdet, wenn der Herr Graf kommt. Und wenn der Herr Major gut geschlafen hatte, dann sagte er wohl: Graf, Sie haben warten müssen. Hatte er aber schlecht geschlafen, so sagte er gar nichts.« – »Waren Sie dabei?« frug zweifelnd Silberzahn und sah Hubert auf seine Jahre hin an. – »Das nicht, aber wer Soldat gewesen ist, kann sich das vorstellen. Da verändert sich nichts, und 366 auch der gemeine Mann lernt sich betragen wie ein Feldmarschall.« – »Sie können gut erzählen«, sagte Silberzahn.

»Nun also weiter«, erzählte Hubert; »aber der Herr Graf erwiderte: Nicht der Rede wert, Herr Major, zwei Minuten! Genau so wie Ihr sagen werdet, wenn der Herr Graf gleich kommt.« – »So? So? Was Sie sagen! Werde ich so sagen?« Und Silberzahn sah den Burschen mit kalten Blicken seiner nackten Augen an und biß seine bloße Oberlippe, denn er wußte in seinem Kleinbürgersinne nicht recht, ob ein Kammerdiener eines großen Herrn nicht doch vielleicht zu den großen Herren zu rechnen sei. »Ich will Ihnen sagen, Herr . . . Herr Kammerdiener, was ich sagen werde: Glauben Sie, ich bin ein Hanswurst? Ein Dieb? Ich habe die Zeit gestohlen? Glauben Sie, die anderen Makler schlafen jetzt um Mittag und fischen mir keine Kunden von den Baustellen weg? Das werde ich sagen, Herr Kammerdiener!« – »Oh, ich weiß das besser, Herr Silberzahn! Glaubt Ihr, Ihr seid der erste, der hier wartet? Und glaubt Ihr, ich habe noch nicht solche Reden von anderen gehört, die auf demselben Stuhle saßen? Und die dann nachher sagten: oh, hat nichts zu sagen, zwei Minuten? Ihr hättet Soldat werden müssen. Ich seh' es einem, der warten muß, sofort an, ob er Soldat war oder nicht. Ein Soldat hat ein Etwas im Gesichte. Und was ist denn dabei? Soldat sein ist ein sehr nachdenklicher Beruf. Wer weiß, was für tiefe Gedanken da schon ausgedacht worden sind? Ich weiß es nicht, ich habe nichts gedacht, aber wer weiß es? Und tröstet Euch, es trifft jeden. Der Herr Major, der den Herrn Leutnant warten läßt, muß auch 367 warten, wenn er zur Exzellenz befohlen wird, wenn auch nur 5 Minuten, und – ach, du mein Gott! – erst die Exzellenz, wenn die Majestät sie ruft! Die wartet halbe Tage. Das Warten eines Kavalleristen ist nichts dagegen. Ich z. B. würde mich zur Exzellenz nicht eignen, ich bin noch viel zu ungeduldig, ich sag' es wie es ist. Überhaupt, braucht denn der Mensch etwas anderes als warten zu können? Sich nur nicht vordrängen, das ist das Geheimnis der Vornehmheit.«

Nun horchte Silberzahn auf, denn man wird nie zu alt um zu lernen, und man kann nicht wissen, wozu es gut ist. Er wäre so bittergerne hinter das Geheimnis der feinen Leute gekommen, immer so vornehm zu sein. Sie stehen oft steif da wie ein Holz, während unsereins eine vollendete Verbeugung macht, und sie sagen nichts oder gar etwas Dummes, während unsereins wirklich ganz gescheit redet, und doch, das fühlt man, sind sie die Vornehmen und wir die Gemeinen! »Es ist eine verteufelte Kunst, das Vornehmsein! Ich glaube, es muß einem angeboren sein wie dem Herrn Kammerdiener!« seufzte er in seinem Innern.

Nun warteten sie weiter. Hubert stand an eine alte Truhe gelehnt und schaute auf die Silberschnallen an seinen Schuhen nieder. Silberzahn kraute seinen grauen Bart mit den gelben und braunen Strähnen, der ihm halbmondförmig um das Gesicht und die nackte Oberlippe stand.

»Tja, so ist das«, sagte Hubert. Und Silberzahn sagte nach einer Weile: »Tja, so ist das.«

Es war wieder eine Zeit verstrichen, da sagte Hubert: »Ja, so ist das. Ich sag' es wie es ist.«

368 Silberzahn war schon ein alter Mann, und es war daher nicht zu verwundern, daß die Schläfrigkeit ihn überkam. Er ließ ein paarmal seine Augendeckel fallen, ja, einmal fiel ihm der Unterkiefer herunter, und Hubert sah in ein schwarzes Loch mit braunen Zahnstummeln. Silberzahn riß sich zusammen, aber ein Gähnen konnte er mit keiner Anstrengung unterdrücken. Er machte nach Landesbrauch ein Kreuzchen vor dem Munde und wußte nun nicht, ob es vornehm sei, sich wegen des Gähnens oder wegen des Kreuzchens zu entschuldigen oder nicht. Hubert betrachtete ihn lachend aus seinen grünen Augen.

»Warten ist überhaupt die große Weisheit des Lebens,« sagte Hubert nach einer beträchtlichen Weile, »und die lernt man bei den Preußen umsonst. Oder ist es nicht so? Zuerst wartet man eine geraume Zeit im Leibe der Mutter, ehe man in die Welt hinausgelassen wird. Dann wartet man, bis man einen Bart bekommt, und wenn man einen Bart hat, wartet man manche Stunde an der Straßenecke oder an der verschlossenen Hintertür, ob das Mädchen einen einläßt. Und dann wartet man, bis man ein reicher Mann wird. Das ist das längste Warten. Und wenn man dann genug gewartet hat und das Geld noch immer nicht kommen will, dann wartet man wieder von vorne. Und dann wartet man, bis einem die Haare ausfallen und die weißen Zähne braune Stummeln werden, und dann wartet man, bis der Totengräber mit dem Schaufeln fertig ist. Und dann wartet man, bis die Posaune des Jüngsten Gerichts ertönt und alles Fleisch und Gebein . . .«

In diesem Augenblicke lärmte ein ungeduldiger Schlüssel im Schlosse. Hubert federte blitzschnell von 369 der Truhe auf, vertauschte im Nu sein fröhliches Gaunergesicht mit einem ernsten Kammerdienerantlitze und hatte schon den Türflügel in der Hand.

Der Graf trat ein. Seine Geschäfte standen offenbar nicht übel, denn er war gut gelaunt, und er sagte, während er Hubert Hut und Handschuhe zuwarf: »Ah, Silberzahn! Sie haben warten müssen.« – »Oh, nichts, Herr Graf,« rief dieser sich erhebend, »nicht der Rede wert! Zwei Minuten!« 370

 


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