Josef Ponten
Der babylonische Turm
Josef Ponten

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Zehntes Kapitel

Die »Luft«

Merlins besaßen vor der Stadt auf dem Berge ein Landgut, das »in der Luft« hieß. Durch ein Tor aus weißem Kalkstein stieg Gabriel einen dunklen durchdufteten Gang von Buchsbäumen hinan. Streng standen in ihrem schwarzen Grün die bis zur Erde belaubten Bäume da wie bis auf die Füße verhüllte Frauengestalten. Grünes Moos gedieh im ewigen Schatten der schwarzen Gasse. Gabriel war steigend geschritten, jetzt hielt er an, denn ein Querpfad kreuzte und gab den Blick nach beiden Seiten frei. »Bei der Statue wird Gertrud sein«, sagte Gabriel, nach der moosigen sandsteinernen Frau hinüberlugend, die als Ziel des Querweges aus dem Dämmer der hohen Hecke tauchte. Sie war nicht da. Trotzdem folgte sein Auge ein- oder zweimal dem sorgfältig in die Fläche gezwängten schulterhohen Obstspalier, wo edle Äpfel die ersten Blütenknospen trieben. Er wandte sich um und schaute nach links ein gleiches Spalier entlang. Dort blühte der Rotdorn über einer dunkeln Laube. »In der feuchten Laube gewiß nicht«, dachte er. Er setzte sich wieder den schrägen Mittelpfad aufwärts 262 in Bewegung. »Ob die Erdbeeren dieses Jahr wieder soviel tragen?« sprach er, die bescheidenen weißen Blütchen prüfend, die den Pfad säumten. »Sie wird unter den Zypressen sein«, sagte er ungeduldig und trat auf die zweite ebene, viel breitere Stufe hinauf. Wie schwarze gewaltige Stichflammen leckten die spitzen Bäume in den Himmel. Ihre edelgrauen glatten Stämme bildeten die Säulen eines Rundes, in dessen Mitte ein weites Brunnenbecken sich auftat. Auf dem Brunnenrande hockende Frösche sprangen vor seinem Fuße in das träg klatschende dicke Wasser. Leise plätscherte der Brunnen. Der dünne Wasserstrahl schien sich kaum durch all das Moos und Venushaar hindurchzwängen zu können und setzte von Zeit zu Zeit aus. Einen langen Moosfaden entlang lief das Wasser aus der oberen Schale in die untere hinab. Die Steinbank war leer.

Gabriel setzte sich einen Augenblick nieder und öffnete sein stürmisches Herz dem tiefen Frieden der dunkeln Natur. »Wie schön ist's hier! Wie friedlich ist die Welt!« Bald aber sprang er auf und stieg weiter hinan. In den Beeten seitab standen die jungen Kirschbäume in Blüte, runde Ballen des reinsten Weiß. Dumpf klangen die Hacken, mit denen der Boden unter den Bäumen aufgelockert wurde. Er hörte sprechen. Ein Gärtner sagte: »Sie sollte sich doch nicht so alt werden lassen; ein Apfel nach Pfingsten und ein Mädchen nach dreißig haben weder Lack noch Geschmack.« – »Die zwei sind ja ein Gott und ein Pott«, erwiderte ein anderer. – »Das geht nämlich auf mich«, dachte Gabriel.

»Wo ist Gertrud nur? Sie wird auf der weißen Bank sitzen.« Auf der nächsten Stufe, wo sich rechts 263 und links der junge Wald der Baumschule erstreckte, sprang eine Katze von der weißen Holzbank und schlich Vögel jagend davon. Dort suchte jemand die Stämmchen nach Ungeziefer ab. »Wißt Ihr, wo das Fräulein ist, Matthias?« – »Wo wird sie sein?« sagte der alte Obergärtner, »ich denke in ihren Kleidern«, und sah Gabriel feindlich an. – »Ungezogen wie immer,« dachte Gabriel, »es ist seine Art gegen mich.«

»Sie wird unter der Ulme sitzen.« Gabriel bog im rechten Winkel vom steilen Mittelpfade ab und ging die ebene Terrasse entlang. Er hätte sowieso abbiegen müssen, denn hier erhob sich eine schräge Mauer, welche die nächste Terrasse stützte. Pfirsichbäumchen blühten in zartestem Rosa vor der grauen Steinmauer, welche die Sonnenstrahlen wie ein Schild auffing und sie in die Kronen der Bäumchen zurückstrahlte. Doch jetzt bedeckte sich der Himmel, und die Sonne verschwand. Am Ende der Terrasse unter der Ulme, deren Äste von einem weißen Stabwerk dünner Latten gehoben eine luftige Laube bildeten – »auch hier nicht?« frug Gabriel ins Leere. Er blieb aber einen Augenblick stehen und genoß den Blick, den man von hier über den Weinberg weg die Landschaft und den Fluß bis zur Stadt hinab hatte. Jetzt stieg er eine Steintreppe zwischen Haselnußsträuchern hinauf und trat auf das Ende der nächsten, der Hauptterrasse, hinaus.

Ihre Breite war mit grauem Steinschrott beschüttet. Nahe der niedrigen Brustmauer lief ein blauer Plattenweg. Lorbeerbäume in roten und gelben Thonkübeln säumten sie. An der andern Seite erhob sich das weitläufige Haus mit grünen Fenstern. »Ich 264 will nicht weiter suchen,« dachte Gabriel, »ich will ins Haus gehen und spielen. Sie wird mich hören und kommen.« Da plötzlich kam ihm Gertrud den Plattenweg her entgegen, die beiden weißen Windspiele folgten ihr.

»Gertrud!« rief Gabriel. Sie reichte ihm langsam beide Hände hin und sagte mit einem müden Lächeln: »Ich habe dich kommen sehen, aber ich konnte dir heute nicht entgegengehen.« – »Was ist dir, Trude?« – »Ach, Geliebter! Verzeih, aber ich kann nicht anders, ich bin so traurig! Sieh, die Berge waren nie so blau, fast violett wie heute. Wie schön, wie schön! Aber wenn die Berge so blau und schön sind, gibt es Regen. Wenn etwas sehr schön ist, wird es bald mit ihm zu Ende sein. Komm, Geliebter, geh mit mir auf und ab, und reden wir ein Weilchen nicht.«

Einige Tropfen fielen, doch die Hand in Hand auf dem Plattenwege Schreitenden achteten es nicht. Die Hunde liefen ihrer Herrin zur Seite und sahen sie an, fragend, ob es nicht an der Zeit sei, ins Haus zu gehen. Doch als die Herrin sie nicht beachtete, zogen sie sich wieder hinter sie zurück. In den Gärten setzte für einige Minuten das Geräusch der Hacken und Harken aus, aber der Regen hörte auf, und das Hacken und Harken begann wieder. Die Tropfen trockneten auf den noch warmen Steinplatten schnell auf, die größten wurden von den Hunden berochen und aufgeleckt.

»Wenn ich in die ›Luft‹ herauskomme,« sagte Gabriel, »meine ich ein reinerer und besserer Mensch zu sein. In einer solchen Umgebung müssen weniger Sünden geschehen. Die Schönheit verhindert es einfach. Man gebe dem Volke in muffigen Stuben und 265 in grauen Höfen einen solchen Garten; es müßte, sollte man sagen, von selbst gut werden. Die Schönheit ist die beste Sittenlehre.«

»Sprich, Gabriel, sprich, es tut mir wohl.« – »Als ich ein kleiner Knabe war, bin ich oft hier an der ›Luft‹ vorbeigestrichen – ich wußte nicht, daß sie euch gehörte – habe durch ein Loch in der Rotdornhecke hereingeschaut, ich konnte ja noch nicht drüber wegschauen, und habe mir gedacht: wie glücklich müssen die Leute sein, die da drinnen wohnen! Sie können sich nicht quälen! Sie können sich nicht hassen! Das verbietet der schöne Brunnen da! Das erlaubt nicht die steinerne Frau dort!« – »Das denkst du in deine Knabenjahre zurück, Gabriel!« – »Mag sein, daß ich die Worte und Gedanken zurückdenke, aber das Gefühl, aus dem sie entsprangen, denke ich nicht zurück. Das hatte ich damals. Wenn es bei uns zuhause garstig war, schlich ich mich hier heraus. Dann lag ich dort hinter der Hecke und träumte. Der alte Matthias, der mich nicht kannte und den ich nicht kannte, konnte mich damals schon nicht leiden und jagte mich fort, so oft er mich erwischte.« – »Ist Matthias unhöflich gegen dich?« frug Gertrud stehenbleibend; »soll ich ihn wegschicken?« – »Nein, nein!« sagte Gabriel, »er ist wenigstens ein ehrlicher Kerl. Laß ihn da, einen alten Mann schickt man nicht mehr weg, selbst wenn er wirklich etwas verfehlte. Damals habe ich dich übrigens nie hier im Garten gesehen, Gertrud.« – »Vater liebte das Land nicht, er fühlte sich am wohlsten in der Stadt, in seinem alten Hause und unter seinen Büchern. Das weißt du ja.« – »Damals«, fuhr Gabriel fort, »dachte ich: es ist doch ein Glück, daß es so schöne Häuser in der Stadt und 266 auf dem Lande so wunderbare Güter gibt. Und ich war froh darüber, daß glückliche Leute solche Güter besaßen, wenn ich auch nicht zu ihnen gehörte.« – »Wirklich, Gabriel, warst du nicht neidisch?« – »Nein, ich glaube nicht . . .« – »Das habe ich von dir erwartet!« rief Gertrud. »Das ist auch Großjohannisch. Ich glaube, ich wäre neidisch gewesen.« – »Beschäme mich nicht, Trude.«

Sie wandte sich ihm rasch zu, nahm seinen Kopf in ihre Hände und küßte ihn. »Du Guter«, sagte sie. Die Hunde sahen Gertrud mit erhobenem Kopfe an. »Ja, ihr auch, ihr auch!« rief Gertrud und nahm die Köpfe der Hunde zwischen ihre Hände, »ihr seid auch gut. Ja gewiß!« Nun nahm das Hundepaar zufrieden seinen Weg hinter dem Menschenpaare auf.

»Wenn ein solches Besitztum mein wäre . . .« sagte Gabriel . . . – »Es ist ja dein! Es ist ja dein, Gabriel!« – »O Trude!« rief Gabriel und küßte ihre weiße Hand.

»Wir sollten auch einmal vom letzten Willen Vaters sprechen«, sagte Gertrud. – »Noch nicht, Trude, noch nicht.« – »Fürchtest du dich?« frug sie. – »Nein, aber wenn ein Gestorbener sein letztes Wort gesagt hat, ist er ganz tot. Solange sein letztes Wort noch aussteht, wähne ich, daß er lebt, daß er nur verreist ist und daß er eines Tages kommen wird, das letzte Wort zu sagen.« – »Du weißt wohl, daß es dir nicht günstig ist?« beharrte Gertrud.

»Ich weiß das, ich weiß das. Er hat bis zuletzt geglaubt, daß du sein leibliches Kind bist, und er hat zwischen Merlin und Großjohann eine deutliche Scheidelinie ziehen wollen. Ich denke mir, er hat dir nicht die freie Verfügung über das Vermögen in die 267 Hand gegeben. Er hat uns vor uns selbst beschützen wollen.« – »Nun weißt du es also!« sagte Gertrud. – »Wieso?« – »Genau so lautet es, wie du sagst,« nickte Gertrud, »du könntest dabei gewesen sein, als es verlesen wurde.« – »Genug! Genug!« – »Aber von dir müssen wir jetzt endlich einmal sprechen,« sagte Gertrud und setzte sich auf die Brüstung, »was soll aus dir werden? Du bist jetzt 27 Jahre alt. Wir haben geglaubt, wie alle Welt, du wirst Musiker werden, und du arbeitest für dich allein ja schon lange darauf hin neben der Betätigung im Geschäfte deines Vaters. Aber die Musik fordert den Menschen ganz. Und du willst nur deswegen nicht aus der Stadt zu höherem Studium fortgehen, weil es deinem Vater, fürchtest du, an Geld mangelt. Aber Vater hat dir genug in seinem letzten Willen zur Verfügung gestellt, wie er es schon bei seinen Lebzeiten getan hat, damit du in eine Hauptstadt gehen und lernen kannst«

»Wirst du mich verstehen, Trude? Also nein! Ich werde das Geld nicht gebrauchen! Und . . . und ich werde auch nicht Musiker werden!« – »Nicht, Gabriel?« – »Nein, Trude, das heißt, fürs erste nicht. Fürs erste gibt es einen wichtigeren Beruf. Was kommt es in der Welt auf einen mittelmäßigen Musiker mehr oder weniger an? Aber darauf kommt es an, ob eine ganze Familie von edlen, aber unglücklichen Menschen in Jammer und Haß ihr Leben verbringt. Welches Unglück können sie verbreiten, wenn jeder von ihnen wieder ein solcher Großjohann wird wie der Vater und seine Grundsätze des falschen Spartanertums und des stummen Leidens in der Welt fortzeugt? Nein, dort in dem trüben Hause 268 Großjohann ist mein Beruf! Ich habe ja schon oft versucht, den Frieden in unser Haus zu bringen, immer vergebens. Aber ich habe es wohl schlecht angefangen oder bin zu früh ermüdet. Zum Erfolge gehört, sich von Mißerfolgen nicht schrecken lassen. Jetzt werde ich die Arbeit wieder aufnehmen, von unten anfangen und geduldig Stein auf Stein setzen und soviel Zeit dranwenden als nötig ist. Meine alten Eltern sollen nicht mit Enttäuschung von dieser Welt und meine Brüder nicht mit Haß und Spott aus dem Vaterhause gehen. Wenn es mir schnell gelingt, nun gut, so werde ich noch etwas in der Welt, Musiker meinetwegen; gelingt es mir nicht schnell, nun so werde ich eben nichts, aber gelingen wird mir's!«

»Großjohann! Schrecklicher Großjohann!« rief Gertrud, und die Hunde begannen zu knurren und Gabriel bedrohlich anzusehen, »du liebst mich nicht, du liebst nur deine Familie! Ihr Großjohanns liebt euch alle, nur euch liebt ihr, nur euch, ob ihr auch sagt, daß ihr euch haßt, ob ihr ohne Gruß aneinander vorbeilauft und wie in einem Hotel als Fremde beieinander haust. Nur euch liebt ihr! Ihr seid eurer würdig im Guten und Bösen. Ihr bedürft keines andern und verachtet alle anderen als weibische Athener, denn ihr seid euch selbst genug und schlachtet euch, wenn's not ist, einer für den andern. Wie jetzt du!«

»Schlachten! Schlachten! Wer gebraucht solche Worte!« – »Ich gebrauche sie!« rief Gertrud, »ich! Gebrauche ich sie nicht zu recht? Warum sollst denn du gerade das Opferlamm sein, du, der Klügste, Beste der Großjohanns? Warum nicht dein Bruder 269 Philipp, der Pfaffe? Dessen Beruf es wäre, sich zu opfern?« – »Warum nicht ich?« frug Gabriel.

»Etwas Freudloses ist um euch. In euch ist ein dumpfer Wille zum Leiden, und ihr seid glücklich in all eurem Jammer, wenn niemand euch hindert zu leiden. Der dumpfe Wille zum Leiden ist das Trostlose und Freudlose an euch.« Sie weinte. Die Hunde leckten ihr die herabhangende Hand. Unten vor der Terrasse ging der Gärtner Matthias vorüber. Gabriel fing einen zornfunkelnden Blick des Alten auf.

»Trude, es ist besser für dich: laß mich gehen! Trenne deinen Weg von dem meinen. Du bist jung, bist schön, bist reich . . .«

Sie umschlang seinen Hals und sagte: »Ich kann dich ja nicht lassen! Ich will dich nicht lassen! Ich will ja leiden mit dir! Wie du! Ich habe auch schon halb diesen Willen zum Leiden. Nicht ganz, denn ich bin ja zur Hälfte eine Merlin, aber zur andern bin ich eine Großjohann, das glaube ich nun doch wieder trotz dem Vater. Und es wird euch wohl gelingen, die halbe Merlin auch noch zu verschlingen und mich zu einer ganzen Großjohann zu machen. Geh nicht von mir, Bruder! Geliebter!«

Der Blaue Reiter

»Hei, im Zirkus! Das ist doch eine andere Welt als die starre steinige der Stadt! Da ist nichts anspruchsvoll für die Ewigkeit gebaut, mit Fundamenten im Grunde der Erde festgelegt und mit eisernen Trägern eins ans andere geschmiedet! Das kommt und geht, die Stadt der Buden und Zelte tut sich auf und lebt und wimmelt von tausend Menschen und fliegt 270 davon wie eine Schar von Vögeln. Wie der Sturm die Leinwand knattern und die Fahnen flattern macht! Trifft der Wind das Zelt von vorne – so ein Stadthaus steht dann dumm und blöde da, und ein schlimmer Zug ist auf seinen Stiegen und Treppen – so wenden wir das leichte Haus um, denn der Wind ist uns nicht gefällig, sich zu drehen. Und wie das riecht aus den Ställen, wo die Pferde stehen! Und der Teer der Planken, wenn die Sonne darauf scheint, und abends das Pech in den Pfannen, wenn die Leute zur Vorstellung kommen! Da muß man seine Nase aufsperren, wissen Sie! Und der leichte Schweiß von Rossen und Reitern, und der trockene Geruch des Sandes aus der Arena, hei!«

So redete Herkules zu Margarete, und sie hörte ihm mit glänzenden Augen zu – –

Margarete war noch immer nicht überzeugt. »Als was wollen Sie denn überhaupt auftreten?« – »Als Blauer Reiter«, sagte er. – »Ein sonderbarer Titel«, meinte sie. – »Ich habe ihn selbst gewählt,« fuhr Herkules fort, »und der Direktor ist damit zufrieden. Jeder Titel muß einfach sein, und man muß sich darunter sofort etwas vorstellen können. Er muß gefällig auffallen. Und das tut der Blaue Reiter. Zu so blödem Zeug wie Witzereißen gebe ich mich nicht her. Auch Tierbändigen nicht. Löwen und Tiger bändigen, das ist roh, und Fische und Flöhe abrichten, das ist langweilig. Gewichte stemmen und so was, das ist auch nicht fein, aber reiten, müssen Sie wissen, reiten! Es gibt nichts Schöneres!« – »Das kann ich verstehen!« stimmte Margarete bei.

»Nicht wahr?« rief er ermutigt, »das können Sie sich denken. Oh, Sie gute Margarete. Einstmals sind 271 die Edelsten des Volkes vor allem Volk geritten, heute ist auch das gemein geworden. Aber deswegen darf man sich nicht abschrecken lassen. Und das mit dem Blauen Reiter ist so: da ist ein Schimmel, ein Apfelschimmel, der aber sozusagen blau ist. Ein sonderbarer und doch herrlicher Anblick. Ich kleide mich nun auch ganz in blau – –«

Plötzlich schwieg er. Sie sahen sich an. Sie dachten dasselbe.

»Aber – –« sie sprachen das Wort zu gleicher Zeit aus.

»Er wird es nicht erfahren«, setzte Herkules das ohne Worte Gesprochene leise fort. »Eben deswegen kleide ich mich blau, verkleide ich mich blau, auch Hände, Gesicht und Haare werden blau. Man wird mich nicht erkennen.«

»Sind Sie sicher, Herkules?« – »Ganz gewiß!« rief er. – »Ihrem Vater dürfen Sie das nicht antun! Nie! Ihr Vater ist ein guter und edler Mann.« – »Ich habe keine Sorge. Man wird mich nicht erkennen. Ich trete eben nur unter dem Namen »Der Blaue Reiter« auf. Der amerikanische Direktor hat versprechen müssen, meinen Namen niemandem mitzuteilen. Er sagte, er täte es gerne, weil der Blaue Reiter mystisch sei.«

»Dem Vater nichts antun!« war Margaretes letztes Wort beim Abschiede.

 

In demselben Augenblick, als Herkules so sprach, gingen durch die Presse einer Druckerei die Plakate, auf denen der amerikanische Zirkus seine erste Vorstellung ankündigte, deren letzte Nummer hieß: »›Der Blaue Reiter‹, auf Vollblut, Reiter der jugendliche 272 Herr Herkules Großjohann.« So wurde in großen Buchstaben blau auf gelb gedruckt. Der Direktor sagte sich: »Ein Wort ist nur ein Wort, Geschäft aber ist Geschäft. Dieser stadt- und landbekannte Name, wie die Leute sagen, wird die Bänke zum Brechen füllen.« Und am nächsten Tage las man auf allen Anschlagsäulen der Stadt: »Der Blaue Reiter Herkules Großjohann.« So stand da blau auf gelb.

Noch am selben Tage teilte der Agent Silberzahn mit, daß das alte Fräulein Rosenkranz, mit dem die Unterhandlung wegen der Beleihung der Häuser am Ubierring so gut wie abgeschlossen war, plötzlich abgesprungen sei. Großjohann begab sich sofort auf den Weg zu Silberzahn, um nach den Gründen dieses Ereignisses zu fragen, das ihn übel traf, denn der Graf Wetter forderte stürmisch seinen Bauvorschuß zurück.

Da fiel sein Auge auf die Plakatsäule, auf welcher »Der Blaue Reiter Herkules Großjohann« angekündigt war, blau auf gelb.

Großjohann traute seinen Augen nicht. Er wischte darüber hin, um das Trugbild zu verscheuchen. Aber das Trugbild blieb, und nun sah er das wahre nicht mehr, denn Tränen trübten seine Augen. »Nie hätte ich das von Herkules gedacht, niemals!«

Als er nachhause kam, fand er wie immer bei solchen seinen Ruf erschütternden Ereignissen seine Schwelle belagert von Bäcker und Schlächter, Schuster und Schneider, die mit angstvollen Gesichtern ihre kleinen Rechnungen vorzeigten. Sie wurden sofort bezahlt.

»Das kommt davon, wenn man im Größenwahn seinen Kindern solche verrückten Zirkusnamen gibt 273 statt der unserer guten Schutzpatrone und Heiligen«, sagten die Damen im Teekränzchen bei der Gemahlin des Obersten Bürgermeisters. – »Solche Schande!« rief Frau Mechtild Hagelstange, »was wird mein armer Philipp darunter leiden!«

In diesem Augenblick saß Herkules neben Margarete am Boden, hatte sein Gesicht in ihren Schoß gedrückt, und weinte. Am Boden lag ein zerknülltes Telegramm. Die hohe Schule Gottesruh hatte ihm eben mitgeteilt, daß er entlassen sei. »Was gehen mich diese Pfaffen an! Aber der Vater und die Mutter! Der Vater! Der Vater!«

Margarete Schröder strich dem Jüngling, der trotz seinen großen Gliedern und mächtigen Muskeln gleich einem Kinde in ihrem Schoße lag, über die Haare. Bei jeder Gemütsbewegung gingen ihr, wie man sagt, die Augen über, eine Schicht von Salz und Tränen legte sich über ihre Augäpfel, das Aufwallen der Gefühle wurde sichtbar. Um ihre Stirn stand das blonde Gelock, in einzelnen Haaren brach sich das Tageslicht, sodaß ein zarter Regenbogen über ihrem Haarkranze stand.

Des Herkules Tränen versiegten. »Daß Sie mir keinen Vorwurf machen, das ist lieb von Ihnen – Mama . . .«

»Ja, ich will Ihre Mama sein, Herkules«, flüsterte sie und küßte ihn leicht auf die Stirn. Und stürmisch rief er, als entdeckte er erst jetzt den Sinn seines Wortes: »Ich will Sie von nun an Mama nennen! Eine Mutter habe ich, aber keine Mama. Ich will Sie Mama nennen!«

»Was denn nun, Herkules?« frug Margarete. – »Ich werde auftreten!«

274 »Doch auftreten?« – »Ich habe den Direktor einen aasigen Hund, ein pestiges Vieh genannt, aber er hat nicht einmal die Hand erhoben, um zuzuschlagen. Solche Menschen haben keine Ehre. Er antwortete lachend: Hoffentlich hat sich Ihre Aufregung bis heute abend gelegt, Herr Großjohann, denn aufgeregt reiten ist schlecht und gefährlich. – Rotziges Luder, habe ich gesagt, ich werde also auftreten. – Schimpfen Sie nur, lachte er, das Publikum wird mich dafür mit Gold entschädigen.«

»Bei einem solchen Menschen würde ich nicht auftreten!« meinte sie. – »Jetzt ist es schon das beste,« widersprach er, »der Schaden kann nicht mehr gutgemacht werden. Es scheint mir ein Schicksalsruf zu sein. Ich werde doch wahrscheinlich bald meine Eltern ernähren müssen, und da ist es das beste, ich fange gleich an, mache mir einen Namen und verdiene Geld. Warum lange zögern? Ich bin ja nun Zirkusreiter, und ich bin es gerne. Aber wie kann es nur so schlechte Menschen auf der Welt geben? Wie kann es nur? Verstehen Sie das, Mama? Aber sei's, ich werde mit ihnen fertig!« rief er aus, sprang auf und ballte die Fäuste.

Der Rat der Alten

Der Rat der Alten tagte heute auf den geschwungenen Stufen, die zu dem Becken des Pfalzbrunnens hinauftraten, in dessen Mitte der grünspanene Kaiser stand, mit beiden Händen gleich einem Kegler die Kugel der Erde haltend. Es war so heiß, daß selbst die Tauben sich im Schatten des alten Pfalzgemäuers hielten und von dort aus mit ihren 275 roten Äuglein die alten Männer betrachteten, wann etwa einer aus der Hintertasche seines Rockes eine Brotrinde hervorgraben, sie zerkrümeln und die Krumen ausstreuen würde. Dann bemühten sich wohl die jüngeren Tauben zu einem kurzen klatschenden Fluge, die älteren aber blieben sitzen. Die alten Männer lagen auf der Brunnenseite windab, wohin ein leichter Luftzug einen Staubregen des aus allen Brunnenmündern und Tierköpfen rauschenden Wassers trieb. Der dünne kühle Schleier wehte über die Männer hin, und seine Perlen trockneten sogleich auf den welken Gesichtern, den alten Röcken und den heißen Steinen.

Jetzt sagte einer: »Er läuft den Berg herab.« Und der gewesene Flußschiffer meinte: »Geld und Gut ist Ebbe und Flut.« Der ehemalige Maurer nahm auf: »Hab' ich's nicht immer gesagt? Was nutzt, aus hohen Fenstern schauen? Andere Leute konnten auch was, aber solange das Handwerk noch ehrlich war, arbeiteten sie. Heute will ja keiner mehr arbeiten, alles will gleich den Herrn spielen.« Der Maurer ärgerte sich und spuckte in weitem Bogen aus, sodaß eine Taube sich täuschen ließ, aus dem Schatten herausflatterte, aber bald dem Betrüger stolz den Bürzel weisend zurücktrippelte. »Schaum auf dem Wasser!« behauptete kräftig der Schiffer.

»Das konnte man sich an den Fingern abzählen, daß das windschief kommen wird«, sagte hitzig der mürrische Maurer. – »Wenn man wüßte, daß man fiele, dann legte man sich da«, meinte der Zimmermann. – »Schaum auf dem Wasser!« rief der Schiffer. – »Er konnte wirken und sich redlich nähren«, grollte der Maurer. – »Wer nichts brät, dem 276 brennt auch nichts an«, sagte ein gütiger Bäcker. – »Schaum auf dem Wasser!« rief der Schiffer. – »Wer Unglück haben soll, der bricht einen Finger im Reisbrei«, verteidigte der Bäcker. Das veranlaßte den Schiffer, auch einmal über den Schaum hinauszudenken, und er versuchte: »Wenn einer Leck hat . . . Leck hat . . . Leck hat . . .« aber da ihm nichts Rechtes einfallen wollte, so rief er wieder: »Schaum auf dem Wasser!«

»Bauen ist Aventüre«, sagte hinter den Alten die Stimme eines Mannes, der stehend und den Rand der Brunnenschale in die Achselhöhle pressend die Hand im Wasser badete. Die Alten drehten sich langsam im Sitzen herum und sagten über die halbe Schulter hin: »Ah, Eulenspiegel, bist auch mal wieder da?« – »Wie ihr seht!« sagte Eulenspiegel und badete auch die andere Hand in dem grünen Wasser.

»Jaja!« sagte jetzt ein ganz Würdiger und Weiser und dachte sich viel dabei, wußte von all dem aber nichts mitzuteilen.

Jetzt mischte sich der alte Invalide, Franziskas Freund, hinein und sagte: »Jedes Ding hat zwei Seiten und ein Ziegelstein ihrer sechs. Ist nicht alles einerlei? Wenn das Theater aus ist, dann geht man nachhaus. Der eine hat an der Rampe gestanden und laut getobt, der andere hat einmal ja! gesagt und der dritte gar nichts, und alle zusammen haben das Schauspiel gemacht. Und wenn man nur ein Diener war, der einmal die Tür aufmachen durfte, so soll man nichts über die Großen vor den Lampen sagen, das sieht wie Neid aus.« – »Das ist für dich«, sagte halblaut der Zimmermann zum Maurer. Der spuckte wieder in einem großen Bogen aus, aber die Taube 277 ließ sich diesmal nicht täuschen. Der Kahnschiffer rief: »Schaum auf dem Wasser!«

»Ganz richtig! ganz richtig!« sagte der gütige Bäcker, »es regnet nicht immer Rosinen in den Reis. Der eine ißt ihn gerne kalt, der andere lieber heiß.«

»Und Eulenspiegel sagt gar nichts?« frug der Invalide über die halbe Schulter weg. – »Zuhören ist das beste beim Streite«, sagte Eulenspiegel und suchte in kindlichem Vergnügen die goldenen Fischchen in der Bronzeschale zu schnappen.

Jetzt tat die Münsterglocke langsam fünf dunkle würdige Schläge, und die Rathausglocke trippelte mit fünf hellen schnell hinterdrein, als ob die Zeit in der Welt schneller liefe als in der Kirche. Die Alten zerstreuten sich, und unter den Pfalzlauben verhallte der Ruf des Schiffers: »Schaum auf dem Wasser!« 278

 


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