Josef Ponten
Der babylonische Turm
Josef Ponten

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Neuntes Kapitel

Margarete

Seit der Taschenspielerei Georg Herkules Großjohanns waren sich Margarete Schröder und Herkules häufig zufällig begegnet, so gesetzmäßig zufällig, wie sich diejenigen treffen, die sich finden wollen. Die Freundschaft zwischen dem Knaben und der Jungfrau war nun schon einige Zeit alt, aber keins von beiden wußte eine schönere Erholung von dem garstigen Leben, das jedes zuhause führte, als ihr zufälliges Begegnen.

Es war auf einer Wiese am Flusse. Die hochgewachsene Margarete saß, und der nicht kleine Herkules ruhte neben ihr im Grase, den Kopf auf ihr Knie gelegt. Der ein' oder andere Spaziergänger dachte wohl: »Sieh' da, das ist ein zärtliches Geschwisterpaar! Wie Verliebte sehen sie nicht aus, und der Knabe ist auch wohl zu jung dazu.«

»Wir müssen uns was erzählen, Herkules, nicht so in den blauen Himmel starren. Etwas erzählen, so was Ordentliches, Richtiges erzählen, was vor sich gegangen ist und geschieht.« – »Ja, Margarete, man wird ganz blöde von Gefühlen.«

»Von Gefühlen?« dachte Margarete errötend. – Herkules aber rief heftig und sich zum Sitzen 247 aufrichtend. »Geld müssen wir verdienen, Fräulein Margarete!« – »Sie auch?« flüsterte Margarete erschrocken, »ich dachte, Ihr Vater ist unermeßlich reich?« – »Es scheint, es scheint, aber ich weiß es besser«, sagte Herkules. – »Ach, dann kann ich ja meinen Vater weniger bedauern, wenn es selbst beim großen Großjohann an Geld mangelt.« – »Es mangelt nicht eben an Geld zum Leben«, meinte Herkules. – »Bei uns mangelt es an allem«, sagte Margarete leise. – »Es handelt sich bei uns nur um den Schein«, erklärte Herkules. – »Bei uns handelt es sich auch um den Schein, ich meine den, welchen jede Woche der schreckliche Bote von der Bank vorzeigt«, klagte Margarete.

»Also, wir wollen überlegen, wie wir Geld verdienen können!« rief Herkules, legte sich wieder auf ihr Knie nieder und starrte in die Luft. – »Überlegen wir«, sagte Margarete. Ihre Augen folgten denen des Knaben und verloren sich mit ihnen in der Bläue des Himmels . . .

Warum?

Gertrud kam aus dem Flügel des Vaters in den Hof. Die Windspiele lagen wie gewöhnlich auf der Freitreppe. Sie regten sich nicht, sondern schauten Gertrud an und schienen zu fragen: wie steht's? »Wie steht's?« frug in Wirklichkeit der Hauswart von Winterfeld, der eilig mit gedämpften Schritten den Hof heraufkam. – »Ich glaube, es geht zu Ende mit dem Herrn«, erwiderte Gertrud mit zuckenden Lippen. Und plötzlich war der ganze Hof belebt von Gesichtern der Diener, Mägde und Waschfrauen, die 248 an den Fenstern der Zimmer, an den Rauten der Waschküchen im Keller und an den Dachluken erschienen. »Wie steht's mit dem Herrn –?«

»Es steht schlecht,« sagte Gertrud, indem sie die Treppe zu ihrem Flügel hinaufstieg, »ich kann nicht mehr, ich muß einen Augenblick allein sein.«

Plötzlich stand der alte Gärtner im Hofe, er nahm den Hut in die Hand und sprach: »Ist man aus der Not, dann kommt der Tod. Das ist so. Jaja, leider Gottes! Der letzte Winter war schlecht. Nasse Winter geben einen fetten Kirchhof.« Der Kutscher aber meinte: »Vielleicht wird er doch noch dem Tode von der Karre springen.« – »Wißt ihr, woran er stirbt?« frug die Waschfrau aus dem Kellerfenster, »er ist doch nicht von Gott aus krank, sondern man weiß nicht warum. Und hat doch immer gelebt wie ein Vögelchen im Körbchen!« – »Er stirbt am Tode«, sagte jemand. – »Aber der Tod will doch ein' Ursach' haben!« forschte weiter die Waschfrau. – »Er hat eben das letzte Hemd an,« meinte eine alte Magd, »der gute Herr.«

Das Fräulein kam verstört und unruhig zurück, und die Weiberköpfe verschwanden. Winterfeld war allein im Hofe, und er frug: »Woran soll denn der Herr sterben, Fräulein?«

»Die Ärzte brauchen fremde Wörter und heben die Schultern. Der Vater selbst sagt, er sei nun doch schon siebzig Jahre.« – »Eine Zahl ist doch keine Krankheit!« meinte der Alte davonschlurfend. Gertrud eilte ins Krankenzimmer zurück.

Der Hof war leer, das Fenster stand offen, und drinnen wurden die Worte gesprochen: »Du bist eine Merlin, Gertrud. Das weiß ich jetzt. Was brauch' 249 ich heute noch Zeugnisse von Briefen und von Toten, die nicht mehr reden können? Du bist keine Großjohann, denn du verstehst nicht das Leiden um seiner selbst willen. Du würdest dich anpassen. Du bist zu tüchtig fürs Leben. Das war auch deine Mutter, selbst ich war es. Die Großjohanns sind nicht tüchtig fürs Leben trotz ihrer geräuschvollen Tätigkeit in der Welt. Wie sie fortwährend sterben, sterben wir an ihnen. Die Merlins in der Welt sterben alle an den Großjohanns. Wenn man dich fragt, woran dein Vater gestorben ist, so weißt du es.«

So lauteten die Worte. Eine Weile nachher wehte der leichte Mullvorhang im leisen Luftzug zum offenen Fenster heraus; es war, als ob ein Geist davonflöge. Wenig später wurden die Vorhänge an allen Fenstern herabgelassen und die grünen Läden geschlossen.

Freundschaften

Das Rechnen, Buchführen, Vermehren von Gold und Silber, danach stand Hermann Großjohann der Kopf nicht. Bauen war Planen, Entwerfen, Ausführen im großen Stile – das Rechnen mit Mark und Groschen überließ er Franz Xaver und Franziska. Bauen hieß Räume herstellen, in denen Menschen wohnen konnten, Stadtviertel gründen, in denen Geschlechter sich niederlassen sollten – aber wenn die Räume zum Bewohntwerden und die Stadtviertel zur Niederlassung gebaut waren, erlosch der Anteil des Baumeisters an ihnen. Am liebsten hätte Großjohann ohne Vorteil gebaut, gebaut für die Obdachlosen, die im Sommer am Feldrain und im Winter 250 in Polizeistuben nächtigten, für die Kranken, die in aussichtslosen Höfen und Kellergruben aus Sehnsucht nach der Sonne sterben. Aber das Gemeine ist mit dem Edlen verkettet, wie Tag und Nacht ineinander verflochten sind. An dem Gemeinen erfrischt sich immer das Edle, und das Edle bedarf geradezu des Gemeinen, um zu sein. So mußte Großjohann Geld für die Wohnungen nehmen. Aber das dreckige, von jedermanns warmen und schweißigen Händen umgereichte Geld zu berühren war ihm eine Pein,. und so war es denn ganz von selbst gekommen, daß an jedem Monatsersten Frau Franziska mit einer schwarzen Ledertasche ausging, es einzukassieren.

Auch Franziska hatte ein mildes Herz und gab den Armen und Arbeitslosen wohl einen Monat Ausstand. Aber bei neuer Zahlungsunfähigkeit kündigte sie ihnen mit ruhigen Worten: »Es tut mir leid, liebe Leute. Aber auch ich muß am Vierteljahrsersten pünktlich meine Zinsen zahlen. Die schlafen nicht! Ihr seid besser dran als ich. Ihr habt dafür zu sorgen, daß ihr eure paar Mark beieinander habt, ich muß ebensoviel Tausende für den Herrn Soundso bereit haben. Ihr müßt ausziehen.« Nur ganz selten einmal stand sie davon ab, den die Miete schuldigen Armen die Möbel verkaufen zu lassen, und sie sagte: »Ich bürge dem Herrn Soundso mit dem Hemde, das ich auf dem Leibe trage, also müßt ihr mir wenigstens mit eurem Bett oder eurer Bank bürgen.«

Der Erlaß des menschenfreundlichen Gesetzes, daß man den Armen die notwendigen Geräte, Bett, Bank, Tisch und Stuhl nicht pfänden lassen könne, bedeutete für das Baugeschäft Großjohann eine fühlbare Einbuße. Nur dadurch, daß Frau Franziska von nun 251 ab die Butter zum Brote einsparte, konnte sie den Ausfall wieder einbringen. Ein sozialistischer Arbeiter erklärte Frau Franziska mit aufgeregten Worten: Jetzt sei das Gesetz der Unpfändbarkeit der Möbel erlassen worden. Das bedeute ja noch nichts im Verhältnis zu dem, was kommen werde, aber es sei doch ein guter Anfang. Ob sie, Frau Großjohann, die ja noch nicht die schlimmste sei, denn glaube, daß sie, um die Miete für den Ersten zusammenzusparen, etwa keine Butter zum Brote essen sollten, während sie sich an Schinken und Austern verfräßen? Wie? Ob sie das wirklich verlange? Wie? Was? Haha! Dann hätte sie sich in den Finger geschnitten! Die Stunde der schmarotzenden Hausbesitzer habe geschlagen! Frau Franziska mußte Tränen hinunterwürgen, aber sie hütete sich, etwas zu verraten, wodurch sie sich ihrer Würde als Hausherrin begeben hätte.

So verfolgte Frau Franziska ihren Weg, hausein hausaus, treppauf treppab. Bei den reichen Leuten in den Wohnpalästen, die mit Banknoten oder Schecks bezahlten, hatte Hermann Großjohann einkassiert. Als er dort aber von Damen hatte klagen hören, daß das Gehalt des Mannes zu niedrig sei und daß überhaupt die Beamten zu schlecht bezahlt würden, daß er, der Besitzer von unzähligen Häusern, sich nicht denken könne, wie es am Vierteljahrsersten einer Beamtenfamilie zumute sei, die würdig auftreten, jährlich ein großes Essen geben, ihre Söhne zu Offizieren oder Richtern machen und die Töchter anständig ausstatten müsse – ihre Töchter seien auch schon ernsthaft gefragt worden! – da hatte er schließlich die Aufgabe an die Bank übertragen, welche 252 einkassieren ließ durch den Boten mit dem Hute, der röhrenförmig doch kein Zylinder war. Darauf erhob sich in den Wohnpalästen Zetern und Jammern, es wurde viel gekündigt und geräumt, bis schließlich eine Beamtenfrau es Frau Großjohann klagte. Sie schilderte das Schreckensregiment der Bank und forderte von ihr bei ihrer Ehre, bei aller Christenpflicht und ihren Muttergefühlen, daß dem blutsaugerischen Treiben der Bank Einhalt getan werde. Ob Frau Großjohann denn wirklich glaube, daß sie der bloßen Miete wegen bei ihrem Jahresessen auf die Trüffeln verzichten könnte, welche die Frau Landgerichtsdirektor letzthin sogar zweimal habe herumreichen lassen? Sie habe doch Söhne, welche Offiziere würden, und Töchter, die anständig ausgestattet werden müßten! Ihre älteste Tochter sei auch schon ganz ernsthaft gefragt worden! Ob sie, diese kluge umsichtige und wie alle Welt sage so tüchtige Frau Großjohann denn wirklich glaube, sie sollten in dem Monat nach dem Jahresessen, wo letzthin auch der Herr Oberste Bürgermeister dagewesen sei und sogar der Herr Regierungspräsident sich habe entschuldigen lassen, keine Butter zum Brote essen? Aber nein, gewiß nicht! Frau Franziska hörte das alles schweigend an und wußte in der Art der Fürsten die Unterredung mit einigen unverbindlichen Worten aufzuheben. »Eine unheimliche Frau!« dachte die Beamtengattin.

Frau Franziska hatte keine Freundin. Wenn es ihr aber besonders schwer ums Herz war und sie das Bedürfnis nach Zuspruch empfand, ging sie auch außer dem Monatsersten in eine ihrer großen Kasernen, wo ein Invalidenpaar wohnte, das noch nie die Miete schuldig geblieben war. »Jaja, so ist 253 das Leben«, sagte der Alte. »Nur die Kranken werden krank, das sage ich immer, Frau Großjohann, und nur die Alten altern. Das Herz, Frau Großjohann, das ist das Rätsel! Bei den meisten Dummen fällt Pfingsten vor Ostern, und so schlagen sie sich beide Feste um die Ohren, und das Jahr ist um, hastenichtgesehen! Wenn der liebe Gott mir noch einmal 75 solcher Jahre voll Leid und Drangsal im irdischen Jammertale gäbe, ich küßte ihm die Hand und sagte: Gnädiger Herr, da tust du gut dran! Wenn es ein bißchen reichlicher ausfallen sollte und du mir zum Brote auch die Butter geben wolltest, so bin ich nicht der, nein zu sagen, aber ich habe doch Scham im Leibe, Gnädiger Herr, und danke auch vielmals. In der Jugend lebt man in Saus und Braus, im Alter hält man Haus, es ist nur schade, daß das Leben nicht von hinten anfängt. Dann hielte mancher seine Jugend besser in Ehren. Aber kommt der Mensch zum Wissen, ist er schon verschlissen.«

Solche erbaulichen Gespräche hörte Frau Franziska häufig bei den Invaliden und kehrte in das Haus Großjohann erquickt und zu neuen Taten gestärkt zurück, sozusagen gereinigt zurück. Wenn eine Reine wie sie noch gereinigt werden konnte.

 

»Es ist die Eifersucht!« sagte sich Hermann Großjohann, »die Eifersucht plagt mich! Aber ist es denn nicht wahr? Habe ich nicht recht? Wo geht sie hin? Wo läuft sie herum? Am Ersten ja, dann hat sie zu tun. Aber außer der Zeit? Untertags und während des Monats? Wohin geht sie dann? Niemand weiß es! Zu niemandem sagt sie etwas! Zu mir nicht und zu den Kindern nicht. Ich habe dieses Weib zu 254 freundlich behandelt. Nun habe ich die Strafe. Sie hat einen . . . Pfui! Sie geht zu einem . . . Pfui! In den Jahren, pfui! Sie sollte ihre Pflicht tun!«

Aber seinem Weibe und ihrem Pfui! nachzuspüren, dazu war Hermann Großjohann zu stolz, das verbot sich für ihn von selbst.

 

Wohin ging denn nun Hermann Großjohann selbst, seine Freuden zu suchen und seine Leiden zu vergessen, da doch jedes Glied seiner Familie draußen in einer Stiefheimat und nicht im Hotel Großjohann sein Glück fand? Er ging zum Freiherrn von Winterfeld.

Großjohann hatte eine Vorliebe für den Adel. Ein adliger Name empfahl ihm einen Menschen, wie eine schöne Hand oder ein schönes Gesicht einen Menschen empfiehlt. Es war ihm ein Glück, adlig zu sein, wie es ein Glück ist, eine feine Hand und ein edles Gesicht zu haben. »Nur weil heute alles so tüchtig geworden ist,« sagte er zum Freiherrn, »will niemand das Glück gelten lassen. Man ersetzt Glück durch Tüchtigkeit und Verdienst. Kurzsichtig das! In meinen grünen Jahren war ich selbst so kurzsichtig. Schließlich ist die Welt selbst auch nur ein Glück und unser Dasein ein unverdientes Geschenk. Wie der eine vor mir den Glücksfall erlebt hat, adlig zu sein, so bin ich so glücklich gewesen, ein Mensch und nicht ein Pferd geworden zu sein.« – »Und zudem noch Hermann Großjohann!« ergänzte geruhig der Freiherr.

Freiherr von Winterfeld war nicht jener Meister in Großjohanns Diensten, sondern dessen Bruder, der Türhüter bei Merlins. Vor dem Tode des Herrn Merlin hatte ihn Großjohann nie im Hause Merlin 255 besucht. Wie sollte er in dem Hause den Türsteher besuchen, in dem sein Sohn mit der Herrschaft verkehrte? Nach dem Tode des Herrn Merlin aber hatte Fräulein Merlin das Stadthaus fürs erste geschlossen und war aufs Land gezogen, der Türhüter war Hauswart geworden.

Freiherr von Winterfeld rauchte lange Zigaretten aus einer silbernen Dose, auf der sein Wappen eingegraben war. Die Männer schwiegen, und Großjohann spielte mit der Dose, auf der er den über dem Meere abwärts sinkenden Stern mit Schweif bewunderte. Er schaute von der Dose auf und zum Fenster hinaus und bemerkte dasselbe Wappen im Giebel des Merlinschen Hauses. Zuerst glaubte er an eine Täuschung der Augen – aber da stand wirklich das Wappen ausgehauen im Giebel über dem Hauptbau. Der Stern war vergoldet, und das Meer war blau. »Was ist das, Winterfeld?«

»Ja, es ist so«, sagte der Alte. – »Wie ging denn das zu? Ums Himmels willen!« – »Ganz einfach ging es zu. Unsere Familie mußte verkaufen, und das Stadthaus kam an den Großvater der verstorbenen Frau Merlin. Sie hatten eben einen aufsteigenden Stern im Wappen und wir einen absteigenden. Jetzt sind wir tief unten ins Meer der Vergessenheit getaucht. Übrigens,« setzte er fast erschrocken hinzu, »Merlins wissen nichts davon, daß sie in meinem Hause wohnen, sagen Sie auch nichts Ihrem Sohne.« – »Oh, ich kann sehr gut vor meinem Sohne ein Geheimnis bewahren,« lachte bitter Hermann Großjohann, »er bewahrt es auch vor mir.«

»Nichts ist beständiger als das Unbeständige,« sagte lächelnd der Alte, gemächlich an seiner Zigarette 256 saugend, »und nichts dauernder als die Ewigkeit. Von Ewigkeit zu Ewigkeit ist eine lange Nacht, und das Leben dazwischen ist ein schmaler Lichtspalt, der die Finsternis zerteilt wie der Sonnenstrahl, der in ein abgeblendetes Zimmer fällt. Dahinein fliegt nun alles, was sich regen kann, die Mücken – wir Mücken! – tanzen darin auf und nieder, man sonnt sich, und das nennt man dann das Leben. Für mich ist eben das Leben Sichsonnen, und so habe ich denn einen Beruf gewählt, in dem ich mich ausgiebig sonnen kann. Welcher Beruf hat mehr Sonne als der eines Türstehers? Auf meiner weißen Treppe sitzen und mich sonnen, mehr braucht's mir nicht.«

 

Wieviel Freunde hat ein erfolgreicher Mann? Sind die überhaupt zu zählen? Was hängt sich einem nicht alles an? Und ob es auch »Freunde« sind, die man nur mit Handschuhen berührt und mit Anführungszeichen nennt, so bewundern sie und preisen sie und richten dich auf, wenn dein Selbstgefühl zu wanken beginnt – falls du nicht vergissest, alle freizuhalten und reich und gut zu spenden!

»Ich will euch erzählen, wie der Papst Sixtus den Obelisken auf dem Petersplatz aufrichten ließ! 500 000 Kilogramm . . .« – »Uff! Uff!« machten die Trinker und Zechgenossen . . . – »500 000 Kilogramm ist das Biest schwer, und der Architekt Fontana hatte eine Berechnung in der Mechanik gemacht, nach der er das Ungetüm aufrichten wollte. Auf dem ganzen ungeheuren Petersplatze – ihr habt sicher schon Bilder davon gesehen –« – »Ja! Ja! Gewiß! Haben wir!« – »– war ein Dutzend Göpelwerke tief im Boden festgemacht. Jeder Göpel wurde an jeder 257 seiner vier Kreuzstangen von vier Paar Pferden bewegt, an jedem waren also 32 Pferde. Das war nur in Rom möglich. Warum ist hier in unserem Krämerlande niemand unter den Geldleuten, Erzbischöfen und Fürsten, der sich einen Obelisken aus Ägypten kommen läßt? Ich würde ihm schon den Platz des Bernini anlegen und Fontana genug sein, den Obelisken inmitten aufzurichten«, prahlte er. – »Aber sicher!« schrien die Zechgenossen, »aber gewiß! Es lebe Großjohann, Berlini und die Fontäne! Sie soll aber kein Wasser geben, hu! hu! Wein! Wein! Wein!« – »So ruft den Wirt, daß er neuen Wein bringt«, sagte Großjohann. – »Es lebe Großjohann, und seine Feinde sollen verrecken!«

»Dem Architekten Fontana war es selbst nicht geheuer. Zahllose Taue und Flaschenzüge lagen auf dem Platze. Nun sollten die Pferde anziehen, und es sollte dadurch mit einem Schlage Ordnung in das Gewirr der Taue kommen. Fontana stand auf einer Bühne und hatte eine rote Winkfahne in der Hand. Der Papst lehnte am Fenster des Vatikans und sah zu. Die Volksmenge stand wie gepflastert Kopf an Kopf außerhalb eines Kreises, den die Schweizer mühsam offen hielten. Fontana aber hatte solche Angst, daß der Schrecken in der Menge vor dem sich erhebenden Ungeheuer ausbrechen, daß das Volk schreien und die Pferde scheu machen würde, daß er den Papst zu dem Gesetze bestimmt hatte: Wer einen Ruf ausstößt, muß sterben! Fontana winkte mit der Fahne – das erste Zeichen! Da traten zwölf rotgekleidete Henker mit nackten Schwertern auf und verlasen der Volksmenge noch einmal den Befehl des Heiligen Vaters. Wer fürchte, sich nicht beherrschen 258 zu können, der solle sich entfernen. Die Menge aber stand unbeweglich, und es rührte sich ebensowenig ein Kopf in ihr wie ein Stein im Straßenpflaster. Die Henker traten ab. Nun gab Fontana ein neues Zeichen. Die Treiber riefen, die Pferde zogen an, Peitschen knallten, und Staubwolken stiegen über jedem der zwölf Göpel auf. Aller Lärm aber wurde übertönt durch das furchtbare Knarren des Holzes in den Göpeln. Ich sage Ihnen, meine Herren, das muß man gehört haben! Das kann man nicht beschreiben! Das Holz schreit förmlich! Mit Menschenstimme! In dem Göpel steckt als Achse ein Baumstamm, ein Eichenstamm, Kernholz und lange im Wasser gelagert. Um den winden sich nun die Taue, und er stöhnt geradezu vor Anstrengung. Fontana wischte sich in einem fort den Schweiß, und ich muß sagen, er machte keine gute Figur da oben. Langsam, ganz langsam, hob sich der Kopf des langen Ungetüms, dessen Fuß im Sande knirschte. Die zwölf Wolken über den Göpeln haben sich schon zu einer düstern Wolke vereinigt, die über dem Platze liegt, daß darin die große Kuppel des Domes verschwindet. Auch die Sonne verschwand, und es wurde uns allen kalt, obgleich wir wie Fontana und der Papst Schweiß auf der Stirn hatten. Ein Kind ächzte, und seine Mutter stopfte ihm vor Angst das Ende ihres Kleides in den Mund. Ein alte Frau fiel in Ohnmacht – sie fiel und blieb doch stehen, so dicht standen die Menschen. Langsam, langsam hebt sich der Stein. Die Pferde rühren weniger Staub auf, denn sie haben sich schon fußtief in den Boden hineingestampft, und Schweiß trieft ihnen so von den Leibern, daß er den Staub bindet. Jetzt kommt der schwierige 259 Augenblick, wo nämlich der Stein sich auf seinen Fuß stellen soll. Fontana scheint eben einen Fehler in seinen Berechnungen zu entdecken, denn er greift nach der Brüstung seiner Bühne, als ob er ohnmächtig werden will. Und in der Tat, der Stein bewegt sich nicht mehr! Die Pferde stehen, die Treiber schreien, der Papst neigt sich weit zum Fenster hinaus. Die Taue spannen sich, werden dünner und dünner, und plötzlich . . . und plötzlich sehe ich . . . – hm, sehe ich, meine ich Rauch von dem Tau an dem Göpel aufsteigen zu sehen.« – »Oh! Ah! Ha!« riefen die Trinker. – »Ruhe, meine Herren, der Tod dem, der spricht! Aber da kann ich nicht anders, ich schreie: Wasser auf die Taue!

Laut hallt meine Stimme über den ganzen Platz bis zum Vatikan hinauf, denn die Pferde haben erschöpft innegehalten, und die Treiber sind verstummt. Aber der am Göpel kommandierende Werkmeister läuft mit einem Eimer Wasser herzu, der zum Tränken der Pferde bereit steht, und gießt das Wasser auf das Tau. Wie er tun alle Werkmeister an ihren Göpeln. Lauter Jubel in der Volksmenge, die Pferde nehmen das für spornende Anrufe, ein wuchtiger Zug – da ist das Umsturzmoment, sagt man in der Statik, im Steine überwunden, der Schwerpunkt liegt schon innerhalb seiner Fußplatte und rückt nun schnell vom Rande nach der Mitte hin. Noch ein paar Umdrehungen der Göpel – der Stein steht! Fontana fällt in diesem Augenblick vor übergroßer Anstrengung in Ohnmacht. Der Papst segnet das ganze Volk. Die Pferde stehen schweißtriefend mit fliegenden Flanken und lechzenden Zungen, aber es ist für sie kein Wasser mehr da.

260 Am nächsten Tage läßt der Papst bekanntmachen, daß derjenige, der den rettenden, das Tau vor Brand bewahrenden Ruf ausgestoßen hat, sich im Vatikan melden soll. Er soll nicht nur nicht sterben, sondern der Papst will ihn, sei er wer er sei, zum St. Georgsritter schlagen, ihm eine Baronie in Sizilien verleihen und seine Söhne zu Bischöfen machen. Ich meldete mich aber nicht, denn nichts ging mir über das Vergnügen, unerkannt als der wandernde deutsche Handwerksbursche durch die Straßen Roms zu streifen, nachts auf den mondbeglänzten Petersplatz hinauszugehen, den kalten rosaroten Granit zu klopfen und ihm zu sagen: Freund aus Ägypten, ohne mich ständest du nicht da! Auch Sie schweigen, meine Herren, sonst, Sie wissen, der Tod steht darauf!«

Gierig schlürfte Großjohann die bewundernden Blicke der Zechgenossen . . .

Der Agent Fingernagel erzählte zuhause die Geschichte, so gut er konnte, seinem Sohne, dem Lateinschüler. Der sagte: »Siehst du, Vater, ich habe dich immer vor diesem Wirtshaussitzer Großjohann gewarnt, du hast nicht hören wollen. Ich sehe nicht gerne, daß du mit ihm verkehrst. Er hat euch einfach einen Bären aufgebunden. Das ist vor 300 Jahren geschehen. Er wird den Stich von Piranesi gesehen haben.« – »Dann hat er aber gut gelogen,« sagte der Vater-Agent, »es war doch gerade, als wäre er dabei gewesen.« 261

 


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