Josef Ponten
Der babylonische Turm
Josef Ponten

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Achtzehntes Kapitel

Ahnungen

Am selben Sonntagnachmittag schritt Gertrud Merlin auf der obersten Terrasse des Gartens der »Luft« auf und ab. Sie trug ein leichtes Sommerkleid von der Farbe rotgelben Sandes, und einen breiten weichen Strohhut, dessen Seitenkrempen eingedrückt waren von einem Bande, das straffgespannt unter dem Kinn herzog. Die Hunde gingen neben ihr. Ab und zu legte sie ihre Hand auf den Kopf eines der Tiere, das sich leicht dagegenstemmte.

Vor der Mitte des Hauses war die grüne Wand der Lorbeerbäumchen unterbrochen, ein Balkon mit einem zierlichen vergoldeten Gitter baute sich hinaus. Gertrud beugte sich über das Gitter hinüber: in dem bemoosten Brunnen voll grünen Frauenhaares unter dem Balkon stieg ein starker Wasserstrahl herauf und floß in dünner Glaskuppel über den Beckenrand. In einem offenen Steinkanale rauschte das Wasser den Mittelgang nieder. Auf jeder Stufe des Gartens zweigten Kanäle ab und entführten das Naß zu den 395 Beeten ihrer Stufe. Der Kanal versiegte auf der untersten Stufe im Tale. Dort unten lag in einer Platanengruppe ein Becken mit einem Wasserauslaß nach dem Flusse hin. Aber der Überlauf war trocken, der weite Garten trank in dieser Sommerzeit das ganze Wasser. Gertrud stand auf dem Balkon, hörte das Wasser rauschen und nach unten allmählich verrauschen. Sie hörte, wie die Poren der trockenen Erde sich mit leisem Klingen öffneten und das Wasser schlürften.

Nachen kreuzten auf dem Flusse, mit bunten Herren und Damen besetzt. Der leichte Wind trug abgerissenes Lachen herauf. Auf dem zur Stadt führenden pappelbestandenen Steinwege rollte und verrollte ein Wagen. Fußgänger belebten die Straße, aber alles strebte fort, zur Stadt hinab. Niemand kam herauf.

In der Tiefe der Landschaft vor der starren vieltürmigen Steinstadt dehnte sich im Flußbend die bunte leichte Zeltstadt aus. »Man fühlt sich so einsam,« dachte Gertrud, »wenn man bunte Flaggen sieht. Man kommt sich ausgestoßen vor, wenn das ganze Volk fröhlich ist, auch wenn man sich selbst ausgeschlossen hat. Warum kommt Gabriel nicht?«

Ein Böllerschuß rollte – aber ferne, ein Lachen klang – aber nahe, jenachdem die Laune des leichten Windes die Laute dahintrug. »Unser Herz ist wie ein eingesperrter Hund, der am Sonntag in Klagetönen im Zwinger heult, wenn die Herrschaft davongegangen ist und er menschliche Laute hört. Wir streben alle zueinander, ob wir uns lieben und anbeten oder hassen und verachten. Allein im Paradiese war auch Adam unglücklich und in Gesellschaft 396 glücklich auf dem Distelfelde. Die Menschen gehören zueinander und gehen nicht ungestraft in die Einsamkeit.« So dachte Gertrud, neigte sich über den Blumenkorb, der auf der weißen Holzbank neben dem goldenen Gitter stand und grub mit den nackten Armen in den Rosen. Aufgewühlt dufteten sie stärker – »wie die Menschen! wie die Menschen!« dachte Gertrud – und silberne Tröpfchen blieben an ihren Armen hangen. »Wir sind nicht auf dem rechten Wege, nicht wahr, ihr schönen Kinder Floras, wir beiden Menschenkinder sind auf einem falschen Wege. Was da unten an Arbeitern und Bauern zur Stadt strebt zu derbem Vergnügen, wie mag es mich beneiden! Dieser Garten und dieser Balkon und alles dieses hier, wie mag es ihnen als höchstes Ziel des Wünschens erscheinen! Aber der Wunsch ist nimmer müde, ist immer auf dem Wege und kommt niemals an.«

Sie ging auf den Plattenweg zurück und sah am Ende, wo neben den Treibhäusern die Treppe hinabging, den alten Matthias stehen. »Und sei es auch nur mit Matthias, ich muß mit jemandem sprechen.« Sie schritt zu ihm hin. Der Gärtner trug einen schwarzen Rock und auf der Brust die Kriegsdenkmünze. Seine Hände lagen auf dem Rücken, und er schaute mit den nichtssagenden Augen des arbeitenden Mannes in die Landschaft hinaus.

»Nun, Matthias, hast du keine Lust, zur Kirmes zu gehen?« frug Gertrud und wies zur Stadt hinab.

»Da paß ich nicht mehr hin, Fräulein.« – »Warum hast du eigentlich nicht geheiratet, Matthias?« – »Ja, Fräulein, warum nicht? Aber man kann ebensogut fragen: warum wohl? Es ist ja mal eine 397 Zeit, da ist etwas in einem, das sagt: man muß. Aber übersteht man sie glücklich, dann kommt nachher eine Zeit, und da sagt es mit demselben Rechte: man braucht nicht. Mein Garten ist meine Frau, und die Bäume sind meine Kinder. Ich habe viele mit dem seligen Herrn gepflanzt, sie machen genug Sorge, und man hat immer zu tun mit Raupen und Ungeziefer. Und dann, wenn man abends so hundemüde ist, dann braucht man keine Frau. Höchstens Sonntagnachmittags brauchte man eine. Aber dann mußte ich im Sommer auf die Schleusen aufpassen und im Winter die Treibhäuser heizen. Da geht es denn vorüber. Nein, heiraten ist etwas für Leute, die Zeit haben und nicht müde sind. Aber das Fräulein sollte heiraten!«

»So? Meinst du!« sagte Gertrud und holte nachdenklich aus der dunkelgrünen Kuppel des Lorbeerbaums ein vergilbtes Blatt. Des Gärtners kühle Augen folgten mißvergnügt ihrer Hand. »Da ist der Herr Graf,« sagte er, »der jetzt öfter zu uns kommt. Das würde der alte Herr Merlin auch gern gesehen haben, denn er sagte einmal zu mir: weißt du, Matthias, meine Tochter ist für keinen Grafen zu gut.« – »Ich glaube nicht, Matthias, daß der Vater das so gemeint hat. Das hast du mißverstanden. Das ist nur so gesagt, man denkt sich nichts dabei, und er hat sicher nicht an den Grafen Wetter gedacht. Wenn es nun Krieg gibt?« brach Gertrud ab, »hast du die Zeitung gelesen?« – »Das macht nichts,« sagte Matthias, »es sind sowieso zuviel Menschen auf der Welt. Die Kriege schickt Gott wie die Sündflut und die Heuschrecken in Ägypten. Ich war 70 auch mit und der andere Gärtner, der 398 Lambert, auch, das Fräulein hat ihn nicht mehr gekannt. Der Lambert war so rechthaberisch, und ich sagte schon zu dem Herrn: ich werde mit den Tagelöhnern allein fertig. Aber der selige Herr wollte nicht, und Lambert ist gefallen, und da war es denn offenbar.«

»Ist man im Alter immer so hart und selbstsüchtig?« frug Gertrud streng. – »Der alte Tag macht nicht schöner, aber klüger«, sagte der Gärtner; »ich muß die Schleusen schließen, der Garten ersäuft sonst.« Er ging die Treppe hinab, um die Terrassenmauer herum, und Gertrud hörte ihn unten dahinschlurfen.

Sie ging zum Balkon zurück und setzte sich auf die Bank. Die Hunde stiegen in einem Anfall von Zärtlichkeit mit den Vorderpfoten auf ihren Schoß, leckten ihre Hand und schmiegten sich mit den Köpfen wie Kinder unter ihren Hals. »Ja, ihr guten Tiere,« sagte Gertrud, »nicht wahr, wir können es nicht. Auch ihr langweilt euch und wünscht, daß er da sei, obgleich auch ihr ihn nicht leiden könnt. Wir müssen einen Menschen haben, und sei es nur, um uns an ihm zu ärgern. Ich wollte mich hier mit euch einspinnen und eine alte Jungfer werden, und bin unglücklich, wenn er am Sonntagnachmittag ausbleibt.« Sie stand auf, schaute wieder vom Balkon die Landschaft hinunter, machte ihre Augen klein und die Pupillen groß – nichts! »Nichts!« sagte sie traurig.

Sie ging von der Gartenseite des Hauses hinüber auf die Landschaftsseite. »Vielleicht kommt der Graf heute angefahren?« Ihre Augen folgten dem Fahrwege, wie er sich von der Terrasse den Hügel hinab, durch den Tannenschlag hindurch, um die 399 Krähenhaine herumwand und in der Parklandschaft verlor. Nichts! »Auch hier nichts!« rief sie und stampfte zornig mit dem Fuße auf, daß die Hunde plötzlich glaubten, es habe ihr jemand etwas Böses getan, nervös umherschauten und ein heiseres Gebell aufließen. Die Tränen kamen ihr aus Zorn.

Die zwischen Busch und Hain, Flur und Rain verstreuten alten Landhäuser der guten Familien schienen heute auch verlassen. Alles war in die Stadt gegangen. Durch das grüne Gewoge und Gewelle der Hügel fuhr wie ein Schiff das rote Dach von Gottesruh. Vom Turme läutete es nicht wie sonst an Sonntagnachmittagen zur Vesper; auch der Glöckner schien davongegangen zu sein, sein weltliches Vergnügen zu suchen. Der breite blaue Strich des Gebirges über dem grünen Vorlande trug eine weiße Wolke – die Gebirgsbahn brachte die Oberlandbauern zur Kirmes in die Niederlandstadt herab.

»Ich bringe es fertig,« rief Gertrud heftig aus, »hinabzulaufen, unter die Mädchen zu gehen und für einen Groschen Karussell zu fahren, wenn er nicht bald kommt!«

Vergebens entfaltete das schöne Land all seine Reize vor ihr. Die hohen Halme auf den Äckern legten sich im leichten Winde auf die rechte, auf die linke Seite, daß der Acker bald hellgrün, bald dunkelgrün erschien. Die Geheimnisse der Natur, die in Pappeln und Espen wohnen, raschelten und rauschten durch die Blätter. Leise Ahnungen säuselten durch die Tannenwipfel. Aber die Herrin verstand das alles heute nicht!

Die neuen Villen, die von der Stadt her das Vorland erkletterten, hatten Gertrud nie gefallen. Sie 400 hatte eine heimliche Wut auf sie von Gabriel übernommen, denn sie waren der Ausdruck einer neuen Mode, nach der alles, was Geld hatte, auf dem Lande wohnen wollte, und ein Zeichen der niedergehenden Gunst, in der Großjohann und die von ihm erbaute Stadt standen. Ein jüngeres Geschlecht von Bauleuten hatte sie erzeugt, das nach Großjohann nichts mehr frug. Heute fand sie sie bunt und abgeschmackt. »Alles ist häßlich und töricht!« rief sie – da hörte sie auf der Gartenseite das eiserne Tor zufallen. »Da ist er!« Sie flog auf die Gartenseite zurück.

Gabriel stürmte den Baumgang hinan. Da sah er auf, denn den Kanal herab kam ihm eine Rose entgegengeschwommen. Und wieder eine! Und viele! Jetzt, da er nahe der Terrassenmauer war, regnete es Rosen vom Himmel, und als er in die Höhe schaute, sah er am lichten Firmamente einen großen Engel mit breitem Hute angeheftet, dessen Gesicht strahlte und der einen Korb Rosen und Narzissen über ihn ausschüttete. Rote und gelbe Rosen, weiße und gelbe Narzissen legten sich vor seine Füße. »Da ist er! Freut euch! Hallelujah!« jubelte es über ihm in der Luft: wie von Stimmen der Engel.

Gabriel erhaschte die schönste Rose im Falle, dann lief er dem Seitenkanale entlang zwischen der Terrassenmauer und der Spalierhecke. Er nahm die flachen tiefen Stufen der Treppe am Ende zwei oder drei mit einem Sprunge – da flog ihm Gertrud die Treppe herab entgegen in die Arme. Die Haselnußsträucher wölbten ihre Äste um das Paar.

Er lehnte sich an die bemooste Steinbrüstung der Treppe und zog sie auf sein Knie. »So 401 stürmisch ist mein Liebling! Und die Wangen so heiß! Und die Augen sind naß! Und das Haar ist kühl!« – »Wo warst du, Geliebter? Dein Arm ist so stark, deine Hand ist so weich und deine Schulter so fest – im Winkel deiner Schulter ist's wohl. Ich war so einsam und so traurig. Wo warst du so lange? Eine Ewigkeit warst du nicht mehr da, Gabriel!« – »Eine Ewigkeit, Kind? Und war doch gestern da, wie alle Tage!« – »Gestern? War es wirklich gestern?« sagte sie und hielt ihn von sich ab, um ihn wie etwas Fremdes zu bestaunen. In ihren feuchten Augen brach sich sein Bild, und in ihren Wimpern zerlegte sich das Licht, sodaß er ihr wie mit Regenbogenfarben umflossen erschien. – »Was ist dir? Was ist dir?« flüsterte er. »Was bedeutet das?« sagte er plötzlich angstvoll, »hast du mir ein Unglück zu sagen?« – »O armer Gehetzter! Immer wittert er Unglück. Nichts ist, als daß ich dich liebe und mich freue, daß du da bist!« – »Nichts ist? Oh, ich segne dich, Trude! Verzeih mir.«

Sie zog ihn an der Hand die bequeme Treppe hinauf, der Hut hing ihr, vom Bande unter dem Halse gehalten, wie ein Schild im Rücken. »Komm, komm,« rief sie, »wir wollen fröhlich sein! Alles ist fröhlich. Ich muß sterben, wenn ich traurig bin.«

Sie eilten über die Terrasse dahin. Die Hunde drängten sich an Gertrud. Sie schob sie fort. »Ich habe keine Zeit für euch! Wo warst du?« frug sie schnell, nahe unter sein Gesicht tretend. – »Nun, Trude, Herkules ist doch da!«

»So? Dein Bruder ist gekommen?« – »Ja, von Spanien über Antwerpen. Da mußte ich doch eine Stunde zuhause bleiben. Er ist so frisch; wie 402 unberührtes Obst und junger Wein ist er. Ganz so wie ich nicht bin. Er ist so, wie wir Großjohanns hätten sein sollen.«

»Warum hast du ihn nicht mitgebracht? Ich möchte ihn kennenlernen.« – »Das konnte ich doch nicht, ohne die Herrin zu fragen . . .« – »Ach, rede doch nicht so! Du bist hier ebenso Herr wie ich.« – »Und dann glaube ich auch,« sagte Gabriel, »es drängte ihn, zu jemandem zu gehen. Ich weiß nicht, wer es ist, wir fragen einander zuhause nicht danach, er fragt auch nicht nach dir, obschon er, scheint mir, weiß. Aber er ist ein lieber Mensch. Dem Vater gab er einen knisternden Briefumschlag. Der gute Alte steckte ihn unbesehen und fast heimlich in die Tasche. Für Philipp hatte er ein Päckchen mit Reliquien, in alte Goldfäden und verblichenen Damast eingewickelt, Gebeine der elftausend Jungfrauen, sagte er, aber ich sah, daß es Hühnerknöchlein waren, denn er kann Philipp nicht leiden. Und für mich eine Geige, Jakobus Steiner, mit einem Ton so tief wie eine Glocke und so weich . . .« – »Du spielst auch Geige, Gabriel? Das weiß ich doch noch nicht?« – »Ja, seit einiger Zeit, aber es ist noch nichts Rechtes mit dem Spielen, ich mochte nicht davon sprechen.« – »Ihr seid alle solche Heimlichtuer, ihr Großjohanns!« – »Nein, Trude, es ist noch nichts damit. Das Unzulängliche muß man verbergen wie das Häßliche. Man muß auch voreinander Geheimnisse haben, ich möchte fast sagen: vor sich selbst.« – »Ja, ihr Großjohanns . . .« sagte sie leise und andächtig.

Er küßte ihre Finger, und sie gingen weiter Hand in Hand über die Terrasse. An deren Ende kehrten sie um und kamen zurück. Und gingen wieder hin. 403 Und gingen immer schneller. Schließlich liefen sie fast. Immer heiterer wurden sie. »Wie wohl das tut!« rief sie, »wir sitzen zuviel. Das Blut wird dick vom Stillsitzen.« Die Hunde liefen mit ihnen, und der Wind erhob sich hinter ihnen. Als sie drüben umkehrten, blies er ihnen kräftig entgegen. Sie stürmten gegen ihn an. Als sie sich aber hüben gewandt hatten, liefen sie mit ihm. – »Beobachtest du, Trude, wie windstill? Und wie es stürmt, wenn wir gegen den Wind jagen?« – »Ja,« lachte sie, »ich beobachte, alter Naturforscher!« – »Mit dem Winde gehen,« sagte er stehenbleibend, »das ist das Geheimnis des einfältig-glücklichen Lebens.« – »Und willst du das wohl beherzigen, eigensinniger Großjohann?« drohte sie stehenbleibend scherzhaft mit dem Finger.

Etwas atemlos sagte sie: »Deinen Bruder bringst du mir bald einmal her!« – »Gerne!« – »Höre, denn ich habe etwas Großes vor«, sagte sie bedeutsam. – »Nun bin ich aber gespannt!« – »Darum will ich auch gebeten haben«, sagte sie gewichtig. »Ich kann nun mal nicht stillsitzen und überlasse es den Indern, ihren Nabel zu bestaunen.« Sie nahm seinen Arm, legte ihn in den ihrigen und sagte: »Ganz im Ernst! Wir wollen noch etwas durch den Garten gehen, und ich will dir erzählen.«

Nun waren ihre Stimmen da und dort aus dem Garten herauf zu hören, wenn sie Arm in Arm schreitend und Fuß vor Fuß setzend aus einer Laube oder einer Baumgruppe heraustraten. Es war auch zu sehen, wie sie einzelne Plätze, besonders die Brustmauer der großen Terrasse, durch die zur Röhre zusammengelegte Hand betrachteten. Besonders lange standen sie beratschlagend bei der sandsteinernen 404 Frau und wiesen mit den Händen hierhin und dorthin. Jetzt gingen sie hinab zur Platanengruppe. Schon weil der abendliche Wind den Hügel hinab ins Tal wehte, waren ihre Worte auch hier nicht zu verstehen; zudem hatte Matthias die Seitenschleusen geschlossen, alles Wasser strömte in das Sammelbecken unter den hohen Platanen und fiel rauschend über den Überfall in den Fluß hinab. Die Sonne fühlte langsam wie mit lebensroter warmer Hand die bleichen, durch die sich abschälende Borke geschunden aussehenden Platanenstämme hinauf, eine lange Weile lag sie auf der breiten Laubkuppel und zündete in den Spitzen der schwarzen Zypressen auf der Mittelstufe roten Abendbrand an – dann verschwand sie mit einem kurzen Entschlusse, als wollte sie sagen: einmal muß alles ein Ende haben! Gleich darauf wurde es kühl, das Licht bleich, und der Fluß fing an zu rauchen. Mit dem leichten Nebel kamen Gabriel und Gertrud auf dem kürzesten Wege den Mittelgang herauf.

Jetzt, in der Nähe des Balkons, war deutlich Gabriels Stimme zu hören: »Also eine platonische Akademie! Wohl! Wohl! Das läßt sich hören! Eine platonische Akademie, nicht mehr und nicht weniger willst du gründen.« – »Eigentlich wollte ich dich überraschen, aber alle Überraschungen, selbst die mit Geschenken, tun in einem gewissen Sinne und ganz innerlich weh. Findest du nicht auch?«

Da traten sie auf die Terrasse herauf und kamen langsam näher. Gertrud schmiegte sich an den größeren Gabriel. Ein Mädchen im grauen Leinenkleide mit einem weißen Zierhäubchen auf der Haarkrone kam aus dem Hause und brachte der Herrin einen 405 Schal. »Danke, Bärbchen, ja, man kann ihn brauchen, es ist kühl.« Und sie legte den Schal um die fröstelnden Schultern. »Willst du nicht auch etwas anziehen, Gabriel?« – »Nein, danke, mir ist nicht kalt.« – »Ja, die Großjohanns sind Spartaner«, sagte Gertrud. Sie rief das Mädchen zurück. »Bärbchen, warum bist du nicht auf die Kirmes gegangen? Ich hatte dir und den beiden anderen doch freigegeben.« – »Die Köchin und das Zweitmädchen sind gegangen, Gnädiges Fräulein,« sagte Bärbchen, »aber ich wollte nicht, ich . . .« Sie wurde rot. – »Kein Vergnügen verschmähen, Bärbchen; wenn du alt wirst, bereust du. Ich habe nicht gern, wenn die Mädchen älter tun als ihre Jahre.« Bärbchen glättete mit den großen roten Händen das weiße Schürzchen, dann sagte sie leise: »Mein Schatz ist da.« – »So, so? Dann freilich! Das ist besser als Kirmes. Na, dann geh nur, ich brauche dich nicht. Und grüße ihn von mir.« Bärbchen nickte schnell und verschwand.

»Also hierhin, dachte ich mir,« sagte Gertrud und legte die Hand auf die Brustmauer, »kommt die nackte pfeilschießende Frau. Was meinst du dazu?« Gabriel nickte. »Und drüben auf die entsprechende Stelle ein nackter Mann, der eine Lanze in der Hand wiegt, oder so etwas. Ich überlasse das dem Künstler. Nun rate mir und strenge deine Fantasie an, ich will noch mehr Gestalten hier auf die Brustmauer stellen.« – »Verlange nicht meinen Rat, Gertrud. Meine Gedanken waren bisher auf schöne Dinge nicht gerichtet. Man muß mit schönen Vorstellungen aufwachsen wie mit Geschwistern, um mit ihnen zu leben.« – »Du mußt dich mit Gewalt von den trüben Gedanken losreißen, Geliebter,« sagte Gertrud 406 nahe an ihn herantretend, »mit Kraft und Entschluß! Sieh,« sagte sie ablenkend, »das lange Haus! Da vor der japanischen roten Rebe an der weißen Mauer täte eine Steinfigur wohl.« – »Voller Pläne! Voller Pläne!« sagte Gabriel und schüttelte lächelnd den Kopf.

»Oh, es kommt noch ganz anders!« sagte Gertrud, »unsere platonische Akademie, wie du sagst, ist noch lange nicht fertig. Warum sollen die Bildhauer allein bedacht werden? Die haben sowieso keine schlechte Zeit. Wir wollen morgen bei besserem Lichte die Wände unserer großen Halle prüfen, wie man Maler drauf loslassen könnte. Als ich mit dem Vater in Toskana war, habe ich daran schon gedacht. Das wollen wir morgen überlegen.«

»Du solltest hineingehen, Trude, dir wird kalt. Ihr Athener friert leicht, wenn die Sonne fort ist«, lächelte Gabriel. »Ich freue mich darüber,« sagte er, als sie langsam quer über die Terrasse der Hallentür zuschritten, »daß du neue Kunst anschaffst.« – »Ja, ich würde für alte Kunst nichts ausgeben. Ein altes Bild, so schön und berühmt es sein mag, es spricht nicht zu mir wie ein neues. Und für das Geld, das man für ein altes Bild ausgeben muß, kann man hundert neue kaufen. Wenn ich genug Geld hätte, ich würde mit einigen Millionen aus unserer Stadt ein neues Florenz machen, denn ich meine, daß nicht so sehr die Künstler als die Auftraggeber die großen Zeiten gemacht haben. Das ist mir in Florenz klar geworden. Na, fürs erste wird mir der Graf Wetter Geld schaffen für die Gartenbronzen.«

»Der Graf Wetter?« frug Gabriel plötzlich ernst und, einen Fuß schon auf der Treppe, stehenbleibend. 407 – »Ja, warum überrascht dich das? Du bist ja fast bleich! Was ist dir, Gabriel?« – Gabriel griff an den Kopf. »Plötzlich seh' ich den Zusammenhang! Plötzlich seh' ich den Zusammenhang!« rief er. – »Was siehst du? Was ist?« Aber Gabriel grübelte noch. »Was kann daran sein?« setzte Gertrud fort, »Vater hat ja gewollt, daß der alte Graf Wetter mir in Geldangelegenheiten zur Seite stehen solle. Habe ich dir das nicht gesagt?« Gabriel schüttelte verneinend den Kopf. – »Nein? Ich glaubte doch!« fuhr Gertrud fort, »nun, dann bin auch ich in den Großjohannschen Fehler verfallen, zu verschweigen. So höre denn jetzt. Der Graf ist ein ausgezeichneter Geschäftsmann, sehr gewandt und beweglich, und so habe ich denn freiwillig seine Vollmacht erweitert, weil ich fürchtete, ich würde durch meine geschäftliche Ungeschicklichkeit manchen kleinen Leuten, die Geld von mir haben, Schwierigkeiten bereiten.« – »Ja, gute Gertrud, und hast gerade das Gegenteil davon erreicht«, sagte Gabriel bitter lächelnd. – »Wie das?« – »Hatte Vater nicht vor vielen Jahren, damals, als es bei uns anfing schlecht zu gehen, viele der Verpflichtungen meines Vaters vom jungen Leo erworben?« – »Ja, ich glaube.« – »Und hat nicht Vater Merlin damals die Sache der Hagelstangeschen Bank übergeben?« – »Ja, er liebte Geschäfte nicht.« – »Ich sehe . . . ich sehe . . .« nickte Gabriel; »und nun will ich von hinten erzählen, das Loch in der Mitte wird sich dann von selbst schließen. Es ist mir letzthin aufgefallen, als wir wieder einen Angriff abzuschlagen hatten, die Mutter und ich, einen ganz gefährlichen Anschlag zunichte machten, daß alle die unsauberen Makler, mit denen wir uns 408 herumschlugen, Papiere hatten, die durch die Bank Hagelstange gegangen waren. Überall standen die Stempel der Bank darauf. Jetzt sehe ich klar! Der Graf, der alte Hund, hat deine Vollmacht benutzt, um die Papiere Herrn Hagelstange zu entlocken. Herr Hagelstange, der meinem Vater wohlgesinnt ist, wird sich gesagt haben, es sei ohne Gefahr für meinen Vater, denn er hat sich nicht denken können, daß du – du bist nämlich die Eigentümerin dieser Papiere und es sind die von deinem Vater erworbenen – daß du einem Großjohann Schwierigkeiten machen könntest. Der Graf wird ihm vorgestellt haben, daß du von allem wüßtest. Ha, ich sehe nun ganz klar! Es waren Hypotheken darunter, die abgelaufen waren und gekündigt werden konnten, die Herr Hagelstange aber mit deinem stillschweigenden Einverständnisse ungekündigt hatte weiterlaufen lassen. Nun hat der Graf sie gekündigt! Die Kündigungen regneten uns ins Haus. Den Grafen selbst vermutete ich nicht im Hintergrunde, denn sein Name wurde nie genannt. Er schickte Strohmänner vor, Silberzahn und Fingernagel, schmutzige Agenten. Wir haben eine schwere Zeit durchgemacht, die Mutter und ich, denn der Vater kümmert sich um nichts mehr. Wir haben verkauft und verkauft, ohne Gewinn oder gar mit Verlust verkauft. Ich mußte den Vater im Weinhause vielemale beschwatzen, die Unterschrift zu geben. Jetzt besitzen wir nur noch wenige Häuser von dem ganzen Viertel, das mein Vater gebaut hat. Es ist alles klar! Sonnenklar!« rief er in bitterem Triumphe.

Gertrud war starr vor Schrecken. Sie war noch weißer als gewöhnlich.

409 »Und ich,« sagte Gabriel, »ich habe das alles gefördert, indem ich dir zu außergewöhnlichen Anschaffungen riet. Ich habe mir selbst den Strick gebunden, der für meinen Hals bestimmt war.«

Gertrud weinte. Gabriel umfaßte sie, ihr Haar streichelnd, und sagte: »Weine nicht, Geliebte. Du kannst ja nichts dafür. Du hast das alles nicht gewollt. Und es ist ja auch jetzt keine Gefahr mehr. Die Kapitalisten umspannen uns mit einem unsichtbaren Netze, uns Idealisten.«

Gertrud trocknete die Augen und sagte leise. »Ich glaube, ich reiche Frau werde Sozialistin.« – »Ja, es ist kein Kinderspiel,« sagte Gabriel, »im Zeitalter des Mammons zu leben.«

»Ist denn auch wirklich keine Gefahr mehr, Gabriel?« – »Nein, keine mehr!« – »Alles was ich habe, steht dir zur Verfügung. Nimm's! Nimm's!« – »Es ist nicht nötig, Trude.« – »Aber warum hast du mir nichts gesagt? Alles hast du allein getragen, armer Geliebter.« – »Ich wollte allein damit fertig werden, ich und die Mutter, die Heldin! Die habe ich dabei erst ganz kennengelernt.«

»Von deiner Mutter habe ich gar kein Bild, ich sah sie nie. Das wenige, was du mir von ihr erzählt hast, hat fast übermenschliche Maße. Ich gestehe, ich fürchtete mich etwas vor ihr.« – »Sie war nicht überlebensgroß, Gertrud, nur herb, sehr herb.« – »Aber den Vorwurf kann ich dir nicht ersparen, Gabriel: du bist an allem schuld. Für meine Bitten, mich mit den Deinen bekannt zu machen, hattest du nur ein hartes Ohr. Wenigstens seitdem Vater tot ist, der etwas gegen euch hatte, hätte ich alle Sorgen von euch nehmen können.« – »Es war besser so wie 410 es war, Trude. Jedes Ding muß sein natürliches Ende haben.« – »Aber dem Grafen werde ich sofort die Vollmacht entziehen,« sagte sie heftig, »ich traue dem Menschen nicht mehr. Dann brauche ich aber einen andern männlichen Sachwalter . . . was meinst du, Gabriel?« – »Du bist Manns genug, Trude.« – »Nein, ein Mann kann das doch viel besser machen. Was meinst du, Gabriel, wenn . . .« – »Nun, wenn?« – »Wenn du mein Sachwalter würdest –?«

»O du Schlaue!« – »Du würdest dir ja nichts mehr vergeben, Gabriel, denn, wie du sagst, besteht keine Gefahr mehr –« – »So ist es«, bestätigte er, »kurz und gut, da ich sehe, daß ich auf die Dauer unterliegen werde, so ergebe ich mich lieber gleich« – »Das ist recht! Das ist recht!« rief sie und klatschte in die Hände. »Und nun komm hinein, ich will dir etwas zeigen, was ich gefunden habe, es wird dir Freude machen.«

Sie gingen hinein.

 

Nach kurzer Zeit aber kamen sie wieder heraus, ein großes entrolltes knatterndes Papier zwischen sich tragend und schleifend. »Die Halle ist wahrhaftig zu klein dafür«, sagte Gertrud. – »Wo, sagtest du, hast du es gefunden?« – »Ich räumte einen Schrank aus, in dem alte Kleider der Mutter sich befanden. In der Ecke lehnte die Rolle.«

»Nun wollen wir aber sehen, was es ist«, drängte Gabriel. – »Du wirst Augen machen!« – Gabriel nahm das Ende der Rolle in die Hand und ging senkrecht zum Hause rückwärts gegen den goldenen Balkon der Terrasse, während Gertrud in der Tür 411 stehenblieb. Gabriel las unten in der Ecke die geschriebenen Worte: »Der Babylonische Turm. Versuch einer Wiederherstellung. Von Hermann Großjohann.«

Er schüttelte den Kopf. »Es steht noch mehr da geschrieben«, sagte Gertrud. Gabriel las weiter: »Auf Notre-Dame vollendet an meinem Geburtstag, den 1. Juli 1873, als ich 22 Jahre alt war. – Von seinem Leben auf den Türmen hat mir der Vater erzählt,« sagte Gabriel, »aber die Arbeit an dieser Zeichnung hat er verschwiegen. Ob er sie vergessen hat?«

»Es steht noch mehr da«, sagte Gertrud. Da fand Gabriel unten in der Ecke mit anderer Tinte geschrieben: »Frau Gertrud Merlin übergeben aus ganzem Herzen!«

Die Röte überwallte sein Gesicht, er sah Gertrud an. Auch ihr Gesicht flammte auf, und das Schweigen mit der Kraft von tausend Worten dehnte sich zwischen ihnen aus. Gabriel legte das Ende der Rolle über die weiße Bank und beschwerte es mit dem Blumenkorbe. Dann ging er langsam an der Zeichnung entlang auf die Hallentür zu. Er schüttelte den Kopf. Als die unverständliche Zeichnung des riesenhaften Gebäudes sich in der noch zusammengerollten Masse in den Händen Gertruds verlor und er sie fragend ansah, sagte diese: »In der Quere ist es nicht ganz zu übersehen, wir müssen es der Länge nach auf die Terrasse legen.«

Stumm ging Gabriel zurück, stellte den Blumenkorb von der Bank herunter, nahm das Ende der Rolle auf und ging die Terrasse entlang. In der Nähe der Treppe unter den Haselnußsträuchern legte 412 er es nieder. Durch mehr als ein Menschenalter eingerollt gewesen entlief das Ende des starken Papiers sofort, er mußte hinterher eilen, es einzufangen. Er brachte es zurück, setzte seinen rechten Fuß darauf, griff nach links und rollte eines der Topfbäumchen heran, das Stämmchen in seinen Händen drehend und den Topf auf dem untersten Eisenreifen laufen lassend. Er stellte es auf die Ecke des Papiers und ging dann, einen zweiten Lorbeerbaum auf die andere Ecke zu rollen. So mit Lorbeer geschmückt lag das Fundament des Turmes fest. Langsam, Schritt vor Schritt, ging Gabriel den Turm hinauf. Er begann zu verstehen. Hier und da hielt er an, kopfschüttelnd, staunend, fragend. Gertrud stand vor der Hallentür, die sie nun zur Linken hatte, den Rest des Papieres haltend. Jetzt schritt sie langsam rückwärts, und die Stockwerke des ungeheuern Turmes entströmten ihren Händen. Das Papier rauschte und knatterte. Langsam folgte Gabriel. Die Hunde liefen unruhig hin und her, bald hinter des Fräuleins Rücken, bald draußen auf den nackten Streifen der Terrasse. Oft lagen Gabriels Blicke schwer auf dem Papier, oft eilten sie die Schräge hinauf ungeduldig in Gertruds Hände. Dort an der Grenze des Sehbereiches angelangt tauchten sie einen Augenblick in Gertruds Augen, staunend, fragend. Gertruds Blicke forschten nur hin und wieder in der Zeichnung, mehr in seinen Augen. Jetzt öffnete sie ihre Lippen, aber Gabriel streckte, Schweigen beschwörend, die Hand aus.

Die Zeichnung war zu Ende, die Spitze des gotischen Turmes stach in den Himmel, und Gertrud, am Ende der Terrasse, dort wo es zu den 413 Treibhäusern hinabging, angelangt, legte das Ende zu Boden. Sie setzte ihren schmalen Fuß darauf, und Gabriel rollte die beiden letzten Lorbeerbäumchen der Reihe auf die Ecken. Er nahm Gertruds Hand, und schweigend gingen sie die Länge des Turmes zurück und kamen sie schweigend wieder herauf. Und das einigemale.

Gabriel stand aufrecht neben der Zeichnung. Mächtig quoll es in ihm auf. »Gertrud,« rief er, »ich glaube . . . ich meine . . . es ist nichts geschehen, was deiner Mutter und meinem Vater Unehre machen und deinen Vater kränken könnte! Es würde einfach zu allen dreien nicht passen!« – »Ich glaube das schon lange«, sagte Gertrud und breitete ihm lächelnd die Arme hin.

Sie ließen sich fahren. Gabriel eilte mit den Augen die zusammengeleimten Stücke der Zeichnung entlang und »Das ist also der Vater!« war das einzige, was er sagte.

Er ging hinüber zu der weißen Bank und saß da den Arm auf die Lehne und das Kinn in die Hand gestützt. »Das ist der Vater«, sagte er, und die warmen Tränen rannen ihm über die Wangen. Gertrud kam heran, setzte sich neben Gabriel und legte den Arm um ihn.

»Werden wir jetzt deinen Vater in unsere platonische Akademie aufnehmen, Gabriel?« – »Jaja! Das werden wir! Wir sind ja alle Stümper gegen ihn. Und wenn die Figuren und Bronzen unsern ganzen medicäischen Garten bevölkern und die Freskenmänner im Hause die Wände auseinanderdehnen werden, wenn du Dichter berufst, die ihre Werke vorlesen, und Musiker, die einen Himmel von Tönen hier 414 herabziehen werden – dann sind wir alle noch immer Stümper gegen den Vater. Jetzt sitzt der arme Alte und klebt Bauwerke zusammen. Seit Mutter tot ist, hat er Platz. Aber die schlimmen Jahre haben die Quelle seiner Einfälle nicht versiegen gemacht, sondern sie nur verschüttet. Er fängt an – denk' dir, Gertrud, und nun verstehe ich es! – in den letzten Tagen fing er schüchtern an, zu zeichnen und eigene Erfindungen zusammenzubauen. Er schneidet nicht mehr Vorlagen für Knaben aus, was zu sehen mir immer so weh tat – nun verstehe ich es! Seine Fantasie ist wieder erwacht!«

»So, nun genug von Traum und Tränen,« sagte Gertrud aufstehend, »es ist wirklich kalt, und die volle Nacht ist da. Laß uns hineingehen. Matthias soll den Turm zusammenrollen.« Sie gingen Arm in Arm ins Haus.

 

Auf der Terrasse an der Landschaftsseite knirschten Wagenräder im Kiese. »Der Graf!« rief Gertrud. – »Gut, daß er kommt,« sagte Gabriel, »ich bin in Stimmung, Musik zu machen.«

Graf Alexander kam durch die weiße Seitentür herein. Er küßte dem Fräulein die Hand, und Gabriel fühlte seine Hand von der knochigen des Grafen mit festem zuckenden Griff umschlossen.

»Sie sehen besorgt aus, Graf?« meinte Gertrud.– »Ja,« sagte Alexander mit seiner hohen Stimme, und sein Gesicht zuckte von der Anstrengung, sprechen zu müssen, »ich bin hierher sozusagen geflohen. Eine dunkle Stimmung ist in der Stadt. Schlechte Nachrichten, glaub' ich, sind angekommen. Als der Wagen in der Masse des Volkes, das von den Benden in die 415 Stadt zurückströmte, langsam fuhr, hörte ich, daß Sonderblätter der Zeitungen ausgerufen wurden.« – »Und haben Sie keins mitgebracht?« frug das Fräulein. – »Ich fürchtete mich, eins zu kaufen, man erfährt das Unglück früh genug.« – »Ich hätte eins gekauft,« sagte Gertrud, »was kommen muß, kommt; warum den Kopf davor in den Sand stecken?« – »Auch ich habe mich gefürchtet, die Mittagszeitung zu kaufen«, sagte Gabriel. »Es stand eine dicke Überschrift am Kopfe. Vor den dicken Überschriften der Zeitungen fürchte ich mich immer.«

Alexander nahm in einem Sessel Platz. Er war so groß, daß seine Oberschenkel nicht auf der Sitzfläche blieben und seine mageren Knie spitz in die Luft stachen. Gabriel und Gertrud rauchten Zigaretten, Alexander rauchte nicht. Die drei saßen unter der verhängten Lampe, und der aus dem Dunkel der Halle sich ausschneidende Lichtkegel schloß sie in seinen goldenen Körper ein.

»Man hat ein Gefühl,« sagte Gabriel, »als ob die Zeit reif, überreif sei. Es ist Herbst in der Welt geworden, die Frucht hängt so reif am Baume, daß ein Hauch genügt, sie mit dumpfem Fall ins Gras zu legen.« – »Unsern Freund bedrückt noch etwas anderes«, sagte Gertrud, die den Grafen beobachtete. – »Ja,« sagte Alexander – »danke,« nickte er Gertrud zu – »ich habe eine Auseinandersetzung mit meinem Vater gehabt.« – »Darf man fragen, weshalb?« – »Er hat unsern Garten verkauft.«

»Den schönen Garten!« klagte Gertrud. – »Parzellieren«, stieß Alexander hervor, »nennt er das! Er spricht auch von Aufteilen und Verwerten. Jetzt nimmt unser altes Haus und der Garten den ganzen 416 Block ein. Aber bald werden mir die Hinteransichten von Mietshäusern mit trocknenden Lappen nahe rücken.« Er schüttelte sich.

»Warum denn nur?« frug Gabriel. – »Warum? Warum? Das habe ich ihn auch gefragt. Er hob die Schultern, lachte roh und sprach von totem Kapital. Ich ginge ja doch nicht in den Garten. Aber wenn er nicht für meine Füße da war, so doch für meine Augen! Ich sprach auch von den Lungen der Stadt, was ich einmal gelesen habe, und daß doch die armen Leute in den Steinhöhlen der Nachbarstraßen eine Augenweide an unserm Garten hätten. Er rief: Was gehen mich die anderen an! – Ich kann ihn nicht hindern.« Die Knabenstimme krähte fast.

»Sie sind wahnsinnig geworden, alle miteinander, die ganze Welt!« rief Gabriel zornig, indem er den glimmenden Stummel seiner Zigarette in die Aschenschale warf. »Geld oder Schweiß, das ist ihr Leben! Und wofür? Für Hekuba! Die Welt überfrißt sich allenthalben im Leben und in der Politik. Beim ganzen Volke nennt man es Imperialismus, beim Einzelnen Größenwahn.«

Das Mädchen trat durch die weiße Seitentür ein, ein Papier in der Hand. Als es den Herrn sprechen hörte, blieb es stehen. Gabriel sah in seinem Eifer das Mädchen nicht und fuhr fort: »In den letzten zehn Jahren ist eine schwüle Stimmung langsam angewachsen – das wird ein furchtbares Gewitter geben! Soviele Kräfte sind gespannt und bereit – entsetzlich, wenn sie aufeinanderstoßen! Aber vielleicht wird es diese unerträgliche Schwüle verjagen, daß man wieder frei und froh atmen kann. Eine allgemeine Reinigung täte not, eine 417 Erneuerung unten und oben. Ein Bad für die ganze Welt – aber ich fürchte, man wird in Feuer baden.«

Alexander nickte lebhaft, auch Gertrud nickte Gabriel zu und sagte halblaut: »Entschuldige, Gabriel. Was wünschest du, Bärbchen?« – Bärbchen sagte: »Wir dachten, das Gnädige Fräulein wird es wissen wollen, die Köchin hat ein Zeitungsblatt aus der Stadt gebracht, da steht: Deutscher Panthersprung nach Marokko.«

Alle drei sprangen auf. Gertrud streckte die Hand aus: »Jetzt nichts davon! Wir danken, Bärbchen, aber geh und nimm dein Blatt mit dir. Wir musizieren jetzt, nicht wahr, ihr Freunde? Gabriel, du wirst die Geige spielen – der Heimlichtuer spielt nämlich auch Geige,« erklärte sie dem Grafen – »wir wollen hören, was du kannst, und ich versuche, dich auf dem Flügel zu begleiten. Wollen wir?« – »Versuchen wir's«, sagte Gabriel.

Sie spielten ein kleines Konzert für Geige und Klavier, in welchem dem Klavier eine bescheidene Aufgabe zufiel. Gertrud hatte es weise gewählt. Gabriel spielte hingegeben. Seine Saiten sangen wie die Stimmen von Menschen, die viel erlebten, von tiefer Qual, von Sehnsucht ins Unendliche hinaus und abendlicher Verklärung. Sie kamen an ein piano, und Gabriel unterbrach: »Bitte, Trude, das noch einmal, aber leiser . . . Noch leiser,« sagte er nach einer Weile, »die ganze Welt muß versinken . . . Noch leiser,« unterbrach er wieder unbefriedigt, »du sollst hören, wie das klingt! Wie Abendwind bei Sonnenuntergang muß es sein. Noch leiser! Noch leiser! – So, nun ist es richtig! Hörtest du, Gertrud, wie es klang?«

418 Aber Gertrud hatte gar nicht mehr gespielt. Ihre Hände hingen neben dem Stuhle herab. Sie lächelte ihn an. Auch Gabriel mußte aufsehend lächeln. »So muß ein musikalischer Mensch hören,« sagte Gertrud aufstehend, »hören, wo alles stumm und still ist.« 419

 


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