Josef Ponten
Der babylonische Turm
Josef Ponten

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Achtes Kapitel

Das Fest

Der Türsteher stand auf dem Sperrblock, links von ihm fuhren die Wagen durch das geöffnete Tor hinein, rechts hinaus. Im Hofe hielten sie vor der Freitreppe und gossen die Herrschaften aus. Diese schritten, während der Wagen abrollte, die Freitreppe hinauf, auf deren oberster Stufe Gertrud Merlin stand, für den Vater die Ehren des Hauses erweisend.

Wie eine Göttin stand! Sie trug ein Kleid aus wasserblauer Seide. Durch das schwarze Haar hatte sie einen goldenen Reif geflochten. Das weiße Gesicht, der magere sehnige Hals, der frei aus dem Kleide emporstieg, die festen bis zum Ellenbogen nackten Arme, ihre beiden Windspiele, die etwas aufgeregt neben ihr standen, nicht zum mindesten der Mond, der den Hof erleuchtete, das alles rief in den Besuchern das Bild der Göttin Diana wach.

Währenddessen stand Herr Hagelstange neben seinem Wagen, in dem Frau Hagelstange schon saß, vor seinem Hause und trat unmutig von einem Fuße auf den andern. »Er wird halt noch was Wichtiges zu tun haben,« sagte Frau Hagelstange, »er ist so 225 eifrig. Sei nicht ungeduldig, Maximilian.« – »Er sollte doch zur rechten Zeit kommen!« brummte Herr Hagelstange. – »Da ist er!« rief Frau Hagelstange. Herr Hagelstange sprang in den Wagen und gab das Zeichen zur Abfahrt seines Wagens, ohne auf den zweiten zu warten, der die Söhne mit Philipp bringen sollte.

Philipp Emanuel, nun schon im Priestergewande, flog heran, daß die Enden seines langen schwarzen Kleides wie Engelsflügel hinter ihm herflatterten. Er kam nicht von Hause – er hatte nun ein eigenes »Zuhause« in der Nähe seiner Kirche – sondern aus irgendeiner Hütte der Armen, um auf das Fest der Reichen zu gehen. »Ich hatte bis zum letzten Augenblicke zu tun«, sagte er mit leisem Schnauben zu den jungen Hagelstanges, die ihn geduldig auf dem Vorderplatz ihres Wagens sitzend und Zigaretten rauchend erwarteten. Er hatte auch wirklich viel zu tun, war immer in Eile, die Armen und Elenden aufzusuchen, die auf den Dachböden oder in den Kellern hausten. Er mußte alte Jungfrauen beraten, wie sie am besten ihr Vermögen anwändten, Schulkinder mit einem Frühstück zu versehen, nackte Negerknaben zu kleiden oder Kirchen zu heizen; er hatte brüchige Ehen in Bürgerkreisen zu flicken, indem er die Ehefrauen mit strengen heißen Worten auf die Unlösbarkeit der Ehe hinwies, und ging auch meistens von den verschüchterten Frauen mit einem Erfolge eilends weg, um schnell noch in einer verbleibenden Viertelstunde in einer Nachbargasse eine arme Seele zu retten. Er breitete sich jetzt im Rücksitz des Wagens aus. Der Kutscher erhob die Peitsche, da aber fiel ihm Philipp mit der Hand in den erhobenen Arm, 226 rief den zum Abschied grüßenden Türsteher des Hauses Hagelstange heran und ließ sich schnell noch von »seinem« Zimmer, das er auch im Hause Hagelstange innehatte, ein Schnupftuch holen. Als der Türsteher mit dem Tuche herangestürmt kam, frug der Kutscher: »Können wir nun fahren, Hochwürden?« – »Noch nicht«, sagte Hochwürden. – »Der Herr Bankdirektor wird nicht wenig böse sein«, wollte der Kutscher rufen, aber er verschluckte es, denn er fürchtete den Herrn Großjohann. Die beiden Hagelstanges zündeten eine neue Zigarette an, nachdem sie Philipp gefragt hatten, ob es ihn nicht störe. »Woher kommt der Wind?« frug Philipp. – »Von hinten.« – »Na, dann raucht nur, wenn ihr es nicht lassen könnt.« – »Das sind ungemütliche Leute, die Nichtraucher«, dachten die Hagelstanges, dachten es aber nur. – »Klaus,« rief Philipp dem Türsteher zu, »hol' mir noch das Buch, das bei der Gnädigen Frau auf dem Tische liegt, das schwarze mit dem roten Schnitt, es heißt: Morallehre. Aber schnell!« Der Türsteher sprang die Treppe hinauf und murrte: »Warum springt man vor Seiner Hochwürden? Er gehört doch nur halb zu den Herrschaften! Er sagt auch Du zu mir, während selbst die Herrschaften Sie sagen. Du! Klaus! Tu' dies und das! Aber schnell! Ich glaube, ich habe Angst vor ihm.« Die jungen Hagelstanges sogen währenddessen bedächtig an ihren Zigaretten, und als das Buch gekommen war, sagte Philipp zu ihnen: »Es ist nämlich möglich, daß man in der Vorhalle warten muß, bis die Damen sich aus ihren Mänteln gewickelt haben. Da ist es gut, ein Buch zur Hand zu haben, um keine Zeit zu verlieren. Das Leben ist so kurz.«

227 »Können wir nun fahren?« frug Fritz. – »Fahren wir!« antwortete Philipp. – »Fahr', Karl!« sagte Heinz zum Kutscher.

Der Kutscher schlug auf die Pferde, und der Wagen stob davon, daß die Funken den Hufen und Rädern entsprühten und man in der Dunkelheit des Abends glauben konnte, ein neuer Prophet Elias fahre auf feurigem Wagen davon.

Der zweite Wagen Hagelstange holte den ersten bei der Einfahrt zum Merlinschen Hause ein, wo jeder Wagen ein Hindernis fand. Der Aufenthalt währte lange genug, daß der in einem Wagen sitzende Herr Zeit hatte, etwas Hartes in die Hand des Türstehers zu legen. Der erste Wagen hatte eben das Hindernis genommen, und der zweite stutzte an der Schwelle. Die jungen Hagelstanges griffen gleichmütig in die Tasche und gaben jeder dem Türsteher eine Mark. Philipp sah es und zog einen Taler aus der Tasche, den er dem Türsteher schnell überreichte. Die Pferde zogen nun an. Der alte Merlinsche Türsteher betrachtete das Talerstück eine Weile, bis er zu sich sagte: »Der ist sicher nicht aus seiner Familie, sonst würde er nicht soviel geben.«

Der nächste Wagen war der gräfliche von Wetter. Er war der einzige, für den es kein Fahrhindernis an der Torschwelle gab, denn der gräfliche Kutscher war mit dem Merlinschen Türsteher verfeindet. Dieser bog vor den in der Nacht heranschnaubenden Rappen mit den roten Mäulern und glühenden Augen erschrocken zurück. »Daß der Winterfeld, der alte Knochen, doch mal durch seine Schuld unter meinen Wagen geriete!« dachte der gräfliche Kutscher.

Gertrud begrüßte die beiden jungen Hagelstanges 228 ziemlich flüchtig, denn ihre ganze Neugierde war dem schwarzen Jüngling zugewandt, der langsam die Treppe heranstieg. Jetzt stand Philipp Emanuel vor ihr. Er schaute sie an und wartete. Fast unhöfliche Neugierde sprach aus Gertruds Gesicht mit den hochgezogenen Augenbrauen, und sie reichte dem Gaste langsam die Hand. Gertrud verwunderte sich über die Ruhe dieses Weltmannes. »Ja – wir Großjohanns!« dachte sie. Der Gast verbeugte sich, und als er sich aufrichtete, las Gertrud in seinem glühenden Auge, was jedem Weibe sofort verständlich ist, wenn der Strahl seiner Schönheit in einen Mann niedergefahren ist.

Sie schloß einen Augenblick die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war Philipp Großjohann den Hagelstanges ins Haus nachgefolgt, und vor ihr standen die beiden Grafen Wetter, deren leerer Wagen eben den Platz vor der Freitreppe räumte. Eine weißseidene Weste umspannte unter dem hochmodischen Frack knapp den stattlichen Leib des alten Grafen. Der fingerkopfdicke Brillant eines großen Ordens, am orangenfarbenen Bande unter der Halsbinde getragen, strahlte ihr entgegen. Der junge Graf war ebenso groß wie sein Vater, aber krankhaft schlank. Sein Kopfhaar war voll und stark, doch von der Fülle und Stärke von Treibhauspflanzen. Nach den Grafen kam der Oberste Bürgermeister, ein großer ergrauender Mann mit dem strengen Gesicht halb Kaiser Karls halb eines preußischen Hauptmanns, mit Frau und Tochter. Und die anderen.

Im Saale lachten Stimmen und glitzerten Diamanten. Der Saal im Mittelbau war weißes und vergoldetes Rokoko, venezianische Kugelleuchter unter 229 der Decke trugen mild flammendes Kerzenlicht, die Steine leuchteten rot und kalt, die nackten Schultern und Rücken der Damen weiß und warm. Ein allgemeines bestrickendes Geschwätz durchrauschte die Luft. Herr Merlin saß in einem Sessel nahe der Tür und begrüßte die Gäste.

War das Herr Merlin? Er war so abgemagert, daß die Kleider sich falteten, und er konnte sich nicht erheben. Ein spät kommender Arzt – Ärzte kommen immer in Gesellschaft zu spät – flüsterte ihm zu: »Sind Sie des Teufels, Merlin?« Merlin lächelte. »Lassen Sie, Doktor. Es ist bald zu Ende. Zwei Stunden Glanz und Licht, dann mag es zwei Wochen früher finster werden.«

Alte Musik des 17. Jahrhunderts klang leise und fremdartig aus einem halb mit Teppichen verhängten Nebenraume.

»Graf,« sagte Herr Merlin, als die alten Herren einer nach dem andern bei ihm die Runde machten, denn er liebte keine Massengespräche, »ich danke Ihnen für die Bereitwilligkeit, die Sie meiner Tochter ausgesprochen haben. Ich lebe nicht mehr lange. Ich war Ihnen ja immer zu aufgeklärt, ich weiß, aber mit mir stirbt ein halber Mensch. Innerlich mag das Leben so kühn fortschreiten wie immer, aber das äußerlich Unbequeme und Gefährliche fürchte ich. Darum möchte ich meiner Tochter nicht das Vermögen ganz in die Hand geben. Sie könnte es in Edelmut verschleudern. Man muß die Jugend vor ihrem guten Herzen behüten – sehen Sie, solch ein heimlicher Fuchs bin ich. Darum danke ich Ihnen, daß Sie sich um die Verwaltung etwas kümmern wollen, das heißt, Sie sollen sich nicht darum 230 kümmern, das Kind soll sich lediglich bewußt sein, einen Hemmschuh zu haben, und Sie sind ja wohl Hemmschuh genug. Ihre bekannte klassische rückständige Gesinnung wird ihr stürmisches Herz schon beruhigen.« – »Die Alten sind nicht mehr liebenswürdig«, dachte der Graf im Weitergehen.

Im Saale wurde von nichts anderem als von Traudchen Merlin und Gabriel Großjohann gesprochen.

Diener in weißen Strümpfen gingen mit perlenden Getränken und Speisen klein wie Vogelbissen umher. Die Musik spielte einen Adagiosatz aus einem Mozartschen Quintett so unirdisch, daß Gabriel in einer unnennbaren Mischung von Glück und Unglück die Augen feucht wurden und er sich, um es zu verbergen, zum Balkonfenster wandte. Er schaute in den Hof hinab, wo Wagen, Pferde, Kutscher und Menschen standen, und es war ihm einen Augenblick, als habe er das vom Schein der Torlaterne beleuchtete Gesicht seines Vaters gesehen, der langsam auf der Straße vorüberging und ein halbes Auge zu den Fenstern heraufwarf. »Ich kann mich aber auch geirrt haben«, dachte Gabriel wehmütig.

Herr Merlin sprach: »Wissen Sie auch, Herr Bürgermeister – bitte ziehen Sie sich doch einen Stuhl heran –, daß wir Sklaven in unserer Stadt haben? Daß da Leute sind, die wir ausbeuten, als wären sie im Homerischen Kriege gefangen? Sie staunen! Nicht wahr, welch herrliche soziale Gesetzgebung haben wir! In unserem Staate stirbt niemand mehr Hungers! Ich weiß! In unserem Staate entbehrt niemand des Arztes! Ich weiß! Ich kenne alle die Phrasen! Und wissen Sie, daß es doch Leute gibt, die nicht wissen, 231 ob das hartverdiente Stück Brot, das sie essen, das ihre ist? Ich meine natürlich nicht die Arbeiter. Sie sind versorgt und versichert. Auch Sie und Ihresgleichen auf den gepolsterten Stühlen meine ich nicht«, (»Was für eine Schärfe ist plötzlich in diesen sonst so liebenswürdigen Mann gefahren!« dachte der Oberste Bürgermeister) – »auch uns Reiche wahrhaftig nicht, die wir noch weicher auf unseren Geldsäcken hocken.« (»Er verschont sich selbst nicht, er war immer ein überlegener Geist«, dachte der Oberste Bürgermeister.) »Aber dazwischen gibt es eine Klasse, die nicht mehr Arbeiter und noch nicht Herren sind. Sie kennen Herrn Großjohann?« – »Ich kenne ihn. Eine Zierde der Stadt, ein strebsamer Bürger, ein begabter, sagen wir genialer Bauherr . . .« – »Haha, daß ich nicht lache! Bauherr, sagen Sie? Bauherr ist gut! Bausklave, wollen Sie sagen! Wissen Sie, daß der Mann elender ist als die Israeliten, die unter den Peitschen der Ägypter die Pyramiden bauten? Die wußten doch, daß sie jeden Abend ihr Laib Brot und ihr Bündel Zwiebel bekamen. Sie werden einwenden: warum blieb er denn nicht Arbeiter, denn diese Bauunternehmer waren Schreiner, Maurer, Kalkbrenner, Schlosser oder Dachdecker. Wohl! Aber wir wollen doch, daß sie da sind! Die Stadt braucht Häuser! Und was sollen wir mit unserem Gelde machen, wenn niemand da ist, der durch unser Geld für uns arbeitet? Ist es Ihnen nicht aufgefallen, daß die Hälfte dieser Leute untergeht? Und sprach ich lieblos, bedenken Sie, das tun alle Stimmen aus dem Grabe.«

Der Oberste Bürgermeister war froh, frei zu sein. »Vielleicht hat er gar recht,« dachte er, »aber Recht 232 und Recht ist zweierlei, es gibt ein Recht der Stimmen aus dem Grabe und eines der Stimmen der Lebendigen. Dieses allein ist das wirkliche. Dieses ist das der Männer der Tat, die das Mögliche, jenes das der Träumer, die das Unmögliche wollen. Das öffentliche Recht muß immer eine oberste Grenze, sozusagen ein idealer Fall bleiben.« Da hörte er in einem Kreise von Herren, der sich vor dem Marmorkamin gebildet hatte, einen jungen Mann eben sagen: »Das öffentliche Recht kann immer nur eine Grenze nach unten, ein Mindestmaß von Recht, ein grober Fall sein. Was für alle gelten soll, kann niemals dem einzelnen genau passen. Seien Sie versichert, meine Herren, wenn in der Welt nur das Recht geschähe, die Welt wäre ein Räuberhaus.« – »Sie haben recht, Gabriel Großjohann«, stimmte Herr Hagelstange eifrig bei.

»Dafür hat uns Gott ja die Lehre Christi offenbart als das dem gemeinen Rechte Übergeordnete«, sagte der Sanitätsrat. – »Ja, wenn wir die Lehre Christi noch rein hätten!« meinte ein Privatgelehrter. – »Die Lehre Christi ist rein, ist rein erhalten in unserer Kirche«, sagte eifrig Philipp mit schönen Handbewegungen. – »Es ist unnütz, Philipp Emanuel, in Gesellschaft von dem zu reden, worin man erfahrungsgemäß nie einig wird«, sagte der Bankdirektor; »aber König und Vaterland, meine Herren . . .« – »Das Christentum . . .« warf Philipp ein. – »Im Rechte«, sagte jetzt der Oberste Bürgermeister, »setzen wir uns sozusagen noch einmal, als eine vollkommene Form unseres unvollkommenen Wesens, das moralisch unzulängliche Subjekt setzt sich selbst als ideales moralisches Objekt. Wir errichten uns selbst eine Schranke, der an sich passive Intellekt macht 233 durch das Medium des Rechtes aus sich eine aktive Kraft, und das Recht wandelt sich in Pflicht . . .« – »Das Christentum . . .« suchte Philipp zu unterbrechen – ».  . . die Pflicht«, setzte der Oberste Bürgermeister fort, indem er Philipp Großjohann einen erstaunten Blick zuwarf, »ist das geleistete Recht und das Recht die genossene Pflicht.« – »Und die Übung unserer Väter, meine Herren!« sagte Graf Wetter nach dieser von niemandem verstandenen juristischen Vorlesung. – »Das Christentum . . .« suchte Philipp einzuspringen . . . Aber der Graf ließ sich denn doch durch den grünen Bengel von Großjohann, wenn er auch im Priesterkleide war, nicht unterbrechen, sondern nahm ruhig und bestimmt seine Rede auf: »Und die Übung unserer Väter, meine Herren? Sind wir denn etwas außer ihnen? Jeder von uns ist doch nur die Fortsetzung dessen, was seine Väter waren, auch wenn er im besonderen Sinne keine Väter hat. In uns leben doch ihre inneren Werte fort, die Grundsätze der Erziehung und die Sicherheit des Handelns in allen Lebenslagen, kurzum die Kinderstube.«

Der Graf hatte sich in solchen Zorn geredet, daß nur die angeborene unverwüstliche gute Sitte, kurzum die Kinderstube, ihn davon abhielt, jemandem etwas gar Deutliches zu sagen. Sein Gesicht war rot, und er brach kurz ab.

»Nun, das Christentum als oberstes . . .« begann Philipp Großjohann, doch Gabriel Großjohann sagte: »Laß das Christentum, Philipp, Vaterland, König und Kinderstube. Sprechen wir einfach vom Anstand. Vom Bewußtsein, das Gute und Schöne tun zu müssen auch auf unsere Kosten. Wenn diese 234 Gesinnung bei allen Menschen verbreitet wäre, so hätten wir kein Gesetz und keine Strafe, kein Recht und keine Pflicht nötig. Nur Anstand!«

Die Gruppe löste sich auf, denn in einer sich vergnügenden Gesellschaft sind Gruppen nicht beständig. Fortgehend sagte der Oberste Bürgermeister zum Grafen: »Der junge Herr ist einfach ein Anarchist.« Und Graf Wetter meinte: »Eine ganz gefährliche Bande sind die Großjohanns; man muß sie mit allen Mitteln niederhalten.« Der Bankdirektor blieb eine Weile stehen, zwischen den Brüdern Großjohann hin- und hersehend, dann wandte er sich zu Gabriel und sagte: »Da haben Sie sehr recht gesprochen, Gabriel Großjohann.« Dann ging auch er weg.

Philipp fühlt Eifersucht in sich aufsteigen. Aber Gabriel, Philipp lächelnd ansehend, sagte: »Es ist doch sonderbar, Bruder« – wie schwer wurde es Gabriel, Bruder und nicht einfach Philipp oder gar Flipp zu sagen! – »daß wir seit Jahren zum erstenmal allein in diesem Saal und zum erstenmal ernsthaft miteinander vor fremden Menschen gesprochen haben.« Philipp sagte: »Du bist immer sehr hart zu mir gewesen, Gabriel, und hast nie ein freundliches Wort für mich gehabt. Nun ja, ich vielleicht auch nicht. Aber du redest so schön und übst selbst davon so wenig.« – »Jaja,« rief Gabriel aus, »aber muß ein richtiger Prediger nicht eigentlich zuerst sich selbst predigen? Darum mag ich auf euren Kanzeln die nicht leiden, die immer »ihr« und nie »wir« sagen.«

Gabriel hatte nie eine Predigt Philipps gehört, sodaß er nicht wußte, daß Philipp einer war, der auf der Kanzel immer »ihr« und nie »wir« sagte. 235 Philipp fühlte sich tief verletzt und wandte sich kurz ab, und die neue dünne Brücke zwischen den Brüdern stürzte schon ein.

»Wenn man wüßte, was im Dunkel der Nacht geschieht!« sagte zitternd Frau Bankdirektor Hagelstange; »da gehen sie mit falschen Schlüsseln, da werden Türen heimlich geöffnet, und die ungetreuen Kassierer schleichen durch die Gewölbe.« – »Sie hat etwas an sich,« sagte die Frau Oberste Bürgermeister, »sie hat etwas an sich! Von Fräulein Merlin erzählt man sich alles mögliche in der Stadt, sogar daß sie heimlich verlobt sei. Aber ich glaube es nicht, und wenn es wahr ist, ich weiß nicht, sie sieht so aus, als ob sie auch das dürfte.« – »Von Ihnen, Frau Bürgermeister, muß man das hören?« spottete leicht die Frau des Privatgelehrten. Die Frau Oberste Bürgermeister sah die Frau des Mannes ohne Stellung sozusagen etwas erstaunt an, und sie sagte: »Ja, was Fräulein Merlin auch tut, es scheint, als ob sie immer recht habe.« – »Recht?« erwiderte Frau Hagelstange, »hat denn ein junges Mädchen schon recht zu haben?« – »Sie hat eben eine andere Weltanschauung«, meinte die junge Frau des Privatgelehrten. – »Weltanschauung? Braucht denn ein junges Mädchen eine Weltanschauung? Sie braucht Schönheit, gesittetes Wesen, etwas Bildung und eine gute Schneiderin. Das braucht ein junges Mädchen. Die gute Schneiderin zwar hat sie . . .« – »Würden wir nicht«, sagte wieder die junge Frau, »milder gegen unsere Töchter sein, wenn unsere Eltern gegen uns nicht so strenge gewesen wären?« – »Aber wie können Sie so reden!« eiferte Frau Hagelstange; »gewiß, man weiß ja, daß Sie für gewisse Freiheiten 236 sind, aber das Herz des Menschen ist böse von Natur aus. Wohin kann das alles führen? Was würden wir alles getan haben, wenn unsere Mütter uns nicht behütet hätten? Und dieses Mädchen hat keine Mutter gehabt.« – »Daß Sie gegen die Verbindung sind, Frau Hagelstange,« sagte die junge Frau, »wundert mich sehr, denn Sie beschützen doch einen der jungen Großjohanns.« – »Ja, den! Philipp Großjohann! Philipp Emanuel!« erklärte Frau Hagelstange, »der würde nie sein Auge über sich erheben, denn er ist tief durchdrungen von dem, was sich gehört. Der andere ist das gerade Gegenteil, und dem soll Gertrud nun verfallen sein?« – Die Frau Oberste Bürgermeister aber sagte: »Lassen wir Gertrud Merlin. Wir sind übrigens Gäste ihres Hauses.«

In diesem Augenblick kam Gertrud bei ihrem Rundgang durch die Gesellschaft zu den Damen, und Frau Hagelstange rief mit entzücktem Gesicht: »Da kommen Sie, liebes Kind! Wir haben eben von Ihnen gesprochen! Nur Gutes hört man über Sie . . .«

Gertrud Merlin machte sich bald von den Damen los und ging hinüber gegen das Fenster, wo Gabriel allein stand. Aller Augen folgten ihr.

»Warum bist du so traurig, Gabriel?« – »Man wird so leicht unter Bürgern zum Pharisäer, Trude. Man kann doch beim besten Willen nicht anders, man muß sich für klüger und ehrlicher als diese Wortmacher und Dummköpfe halten. Es ist so traurig, die Menschen verachten zu müssen.« – »Du lieber guter Mensch«, sagte Gertrud, und es kam plötzlich ein unbesiegbares Verlangen über sie, das Ungewöhnliche vor diesen Bürgern zu tun – sie fuhr leicht mit der Hand über die Wange Gabriels.

237 Ein leises Uff! ging durch den Saal. Gabriel erschrak und errötete. Gertrud war stolz auf ihre Kühnheit, sie ging mit glänzenden Augen durch den Saal.

»Warum verloben sie sich denn nicht einfach öffentlich?« flüsterte Frau Hagelstange; »wenn es denn sein muß?« – »Es war sicher ungehörig,« sagte die Frau Oberste Bürgermeister, »aber man hat doch das Gefühl, daß sie es durfte.«

In der Gruppe der jungen Mädchen rief eines leise: »Wie sie sich lieben!« – Ein anderes: »Das täte ich auch!« – Ein drittes: ». . . wenn die Mama es nicht sieht!« – Und alle: »Ah! Oh! Oh!« Die junge Frau, deren Mann die Reinheit des Christentums bezweifelt hatte, war bei den jungen Mädchen wohlgelitten. Sie widersprach oft ihren Müttern, sie sah mit Schmerz und Heimweh ihrer entschwindenden Jugend nach, während die Mütter froh zu sein schienen, nicht mehr jung und grün zu sein. »Nach zwanzig Jahren,« sagte sie, »werden die meisten von euch genau so über eine Gertrud Merlin reden, wie eure Mütter es tun.« Das wollten die Töchter aber durchaus nicht wahr haben! Da irrte die Frau Doktor aber sehr! Da sollte sie nur zwanzig Jahre warten! Nie! Und ei! Und wieso? Da waren sie aber mächtig entrüstet!

»Das Weib«, sagte die junge Frau, »fürchtet sich so vor sich selbst, daß es um der kleinsten Freiheit willen jede Genossin für einen Verbrecher hält. Ich habe einen Hund und eine Hündin. Sie liegen stets auf der Treppe im Sonnenschein. Der Hund rührt sich keines Hundes wegen; kommt aber eine Hündin vorüber, hurtig macht die meine sich auf und fällt 238 die andere ohne jeden Grund an. Das könnt ihr überall beobachten. Bei uns Frauen ist es nicht viel anders.« Das hörten die Mädchen mit achtungsvollem Schweigen und nicht eben viel Verständnis an. »Das Weib ist immer des Weibes ärgster Feind, und der natürliche Freund des Weibes ist der Mann«, sagte die Frau Doktor. Dem stimmten die Mädchen nun eifrig wenn auch errötend zu. Die Frau Doktor hatte eine so milde und bedeckte Altstimme und in den Augen eine gewisse Trauer. Doch wußte man, daß sie sehr glücklich verheiratet war. Überhaupt, sie war gütig, lieb, klug, eben himmlisch! »Übrigens«. sagte die Frau Doktor, »war es vielleicht nicht eben geschmackvoll von Gertrud Merlin. Warum die Leute reizen? Gertrud Merlin hat etwas Trotziges.« – »Sie darf tun, was sie will, man nimmt es ihr schließlich nicht übel«, behauptete die Tochter des Obersten Bürgermeisters. – »Überhaupt, sie ist himmlisch!« erklärten die Mädchen.

Während im Saale ein Sänger auftrat und das surrende Gespräch schwächer wurde, ging Gertrud hinaus, um zu sehen, ob auch die Diener ihren Anteil am Feste der Herren hätten. Als sie auf den Treppenflur trat, fiel eine solche Müdigkeit über sie, eine solche plötzliche Gleichgültigkeit gegen Leben und Sterben, daß sie sich auf einen Stuhl niederließ. Die Stimme des Sängers klang gedämpft aus dem Saale, und von unten kamen breite und gemächliche Laute herauf, aus dem Kleiderbewahr und dem Vorflur, wo die Dienerschaft sich aufhielt. Jetzt horchte sie auf. Sprach da nicht der Gärtner? Was sagte er? Wie?

»Kleine Kinder treten in den Schoß, große ins 239 Herz. Daß das möglich ist!« – »Wer wird denn so was erzählen!« tadelte die Stimme des alten Türstehers. – »Volkes Stimme ist Gottes Stimme«, erwiderte die erste, worauf die andere halblaut, doch zornig sagte: »Volksklatsch ist Teufelsklatsch.« – »Oh! Oh! Keine Gotteslästerungen!« beschwichtigten die übrigen; »wie war es doch? Erzählt, Jardenierer.«

Das war jetzt wieder des Gärtners Stimme: »Ich erzähle es mit blutigen Tränen. Daß so einer das Fräulein heiraten soll! Aus dem Hause? Wißt ihr, was für ein Haus das ist? Da ist keine Kinderstube. Was lachst du denn, Winterfeld?« – »Oh, weil ich Freude an dir habe!« erwiderte der Türsteher. – »Erzählt, erzählt!« riefen die Weiber laut. Da machte ein Mann plötzlich sehr laut: »Pst!« und es war einen Augenblick totenstill.

»Die Kinder haben keine Erziehung! Die Kinder wissen nicht, was sich gehört. Sonst würde nicht einer von ihnen die Augen zu unserem Gnädigen Fräulein aufheben!« – »Ach, Erziehung,« sagte die ältere Frauenstimme, »Jardenierer, Ihr seid ein Junggeselle und ein dürres Holz, was wißt Ihr von Erziehung? Man kann nicht gegen den Willen der Kinder.« – »Der Kinder ihr Wille steht hinter der Tür,« rief der Gärtner, »es ist der Stock!« – »Man schlägt einen Teufel aus dem Kinde 'raus und zehn hinein«, seufzte die Frauenstimme. Darauf war es wieder still. Es hustete einer.

»Jaja«, seufzte ein Mann, und dann war es wieder still. Im Saale endete der Sänger, und das Stimmengewirr brauste wieder auf.

Der Merlinsche Kutscher hielt sich für so vornehm, daß er nicht in das Geplänkel zwischen Türhüter und 240 Gärtner hinabsteigen mochte. Er hatte bisheran geschwiegen, nun aber versetzte er doch dem Türhüter: »Der Türhüter läßt nichts auf feine Leute kommen, man sagt ja, daß er ein Baron ist.« – »Wer sagt das?« frug zornrot der Türhüter. – »Wer? Man! Wolken und Winde!« – »Wer? frag' ich!« rief der Türhüter. – »Frag' lieber, wer nicht!«

»Winterfeld fühlt sein Geheimnis verraten, das darf nicht geschehen, das darf ich nicht zulassen,« dachte Gertrud, »der Mensch wird schlecht, wenn er kein Geheimnis mehr hat.« Sie stand auf, aber sie war so müde, daß sie stehenbleiben mußte und sich wider das vergoldete Geländer lehnte. »Hergelaufenes Volk!« rief der Freiherr, »euch armen Hälsen tut der Schlund weh, wenn ihr einen andern trinken seht. Ihr gönnt anderen nicht das Weiße im Auge! Freuen solltet ihr euch, daß einer euresgleichen über euch hinauskam, denn er hat bewiesen, daß ihr nicht alle an die Kette gebunden seid!« – »Ihr? Ihr?« frug man da, »und Kette? Wer liegt mehr an der Kette als der Hund an der Türe, Herr Türhüter, hn?« Da hörte Gertrud, wie jemand hinausging.

»Ich hab' ihm doch nichts Böses gesagt? Wie?« frug der Gärtner, »ich wollte ihm nicht wehtun, da sei Gott vor!« – »Man fühlt eine grobe Hand durch sieben Handschuhe«, sagte der Kutscher der Bankleute; der gräfliche aber meinte: »Die Hauptsache ist, daß er den Hieb weg hat.« – »Ksch! ksch!« hetzte jetzt einer, und alle lachten, doch gedämpft, versteht sich, wie es sich für Herrschaftsdiener gehört, bis die Köchin halblaut rief: »Das Fräulein!« Gertrud kam die Treppe herab.

Aller Gesichter wandten sich nach der Treppe. 241 »Rank und schlank wie eine junge Buche«, sagte strahlend der Gärtner.

»Habt ihr was bekommen, Leute?« frug das Fräulein alle, und leiser die eigenen: »Habt ihr ihnen auch aufgewartet? Zuerst an die fremden denken.« – »Wie ist sich das nun?« frug der Gärtner, »wenn man das Fräulein fragen darf? Kommen wir nun bald mit den Füßen unter den Tisch?« – »Jaja . . . wenn man fragen darf?« frugen halblaut und ehrerbietig alle. – »Wie meint ihr?« gab Gertrud nicht ohne Verlegenheit zurück. – »Ich meine, werden wir nun bald in den langen Rosenkranz gereiht . . . nichts für ungut . . . wenn ich fragen darf? Aber da die ganze Stadt voll davon ist, dürften auch wir wohl . . .« – »Ist die Stadt voll davon?« unterbrach Gertrud schnell. – »Sie läuft über! Sie läuft über!« versicherte mit wichtigem Kopfnicken der Gärtner. – »Jaja . . . nichts für ungut . . .« murmelte es halblaut in der Dienerschar. Das Fräulein schwieg.

»Ehe ist Wehe,« sagte der Gärtner, um etwas zu sagen, »der Ehestand ist ein Bräukessel voll Leid und ein Fingerhütchen voll Freud'.« – »Der muß es nämlich wissen, der Junggeselle, der Gärtner«, sagte die Köchin. – »Ja, ist es denn nicht wahr?« frug dieser die älteren Dienstfrauen. – »Schon wahr! Schon wahr!« flüsterten die und machten bedeutende Gesichter. – »Ja, ich weiß, im Volk sieht man alles schwarz«, gab das Fräulein zurück;»und ob es nun so traurig ist, so tut ihr es doch alle.« – »Jaja,« erwiderten die Älteren, »das gehört sich so.« – »Nur der Gärtner tut's nicht«, rief halblaut die Köchin, worauf herzlich, doch gedämpft diejenigen lachten, die Bescheid wußten.

242 »Und das Fräulein!« frug der Gärtner. – »Ach, ich weiß nicht . . .« sagte Gertrud, fuhr sich mit der weißen Hand über die schmale Stirn und ging langsam die Treppe hinauf.

»Sie . . . weiß . . . nicht . . .?« sprach langsam der Gärtner, als das Fräulein auf dem Treppenabsatz verschwunden war, »was ist denn das?« – »Sie ist gar nicht stolz,« lobten die für heute in Dienst genommenen fremden Leute, »sie ist umgänglich.« – »Sie . . . weiß . . . nicht . . .«

Sie wähnten das Fräulein oben in den Saal zurückgekehrt. Aber Gertrud fühlte bleierne Last in den Füßen, als sie die zweite Treppe hinaufstieg. Sie mußte halten und sich sammeln. »Ein Glas voll Wein und ein Eimer voll Tränen, das ist das menschliche Leben«, sagte sie, und sie mußte lachen, als sie bemerkte, wie sie nach den paar in der Gesellschaft des Volkes verbrachten Minuten in des Volkes Weise zu denken und zu reden begann. Sie rieb sich die Augen, spannte etwas die Muskeln des Gesichtes und öffnete die Tür zum Saale.

Zuerst erschien ihr alles im Saale gelb. Dann machte sich das, was weiß war, auffällig, die weißen Kragen und Hemdenbrüste der Herren fielen mit verdoppelten Umrissen aus dem Farbenmeer heraus. Und plötzlich kam ihr das ganze Vergnügen so windig vor. Sie hatte sich doch wirklich gefreut! Es war doch unleugbar schön, diese allgemeine Übereinkunft, sich freuen zu wollen! Das Blitzen der Augen, das Lächeln der Lippen, das Strahlen der Diamanten und Orden berückte doch, diese ganze künstliche Welt, für einige Stunden aufgebaut aus Licht, Seide, 243 Steinen, nackten Schultern, Tönen und Wein – aber sie hatte plötzlich allen Geschmack daran verloren; das Glitzern der Edelsteine schien ihr eisig kalt, das Rot darin dünkte sie grausam-blutig, das Lächeln der Lippen verzerrt, die Worte verlogen, die bloßen Schultern und Arme gemein – »es sind doch alle übereingekommen, zu lügen, es wird doch nie soviel gelogen wie auf Gastereien, und nur, wenn die Menschen lügen, können sie fröhlich sein«.

Gabriel stand allein am Fenster. Als Gertrud weggegangen war, hatte er hinausgeschaut, sich das Treiben des im Ehrenhof zugelassenen Volkes anzusehen, das zu den goldenen Fenstern des Saales heraufstarrte. Das Licht spiegelte sich in der Nacht wider in den schwarzlackierten Herrschaftswagen und im Geschirr und glatten Fell der Pferde. Jetzt sah er da unten ganz deutlich seines Vaters Gesicht, der in umgekehrter Richtung die Straße daher- und zurückkomnend über die Schulter weg heraufschaute, indem er einen Augenblick stehenblieb. Gertrud stand hinter Gabriel, und auch sie sah das Gesicht, auch Philipp war herangetreten und sah das Gesicht. Da wandte sich Gabriel entschlossen ab. Er warf Gertrud einen Abschiedsblick zu und entfernte sich unauffällig.

In diesem Augenblick dachte dort unten Hermann Großjohann: »Auch Gabriel schämt sich meiner. Wenn es Philipp wäre! Auch – Gabriel – schämt sich – meiner –. Gabriel hat sich fortgewandt, um seines Vaters Gesicht nicht sehen zu müssen . . . und hat ja schließlich recht getan. Ich könnte doch nicht in die Gesellschaft der feinen Leute hinaufgehen. In diesem Augenblick scherzt er und lacht er –«

Da legte sich ein Arm in seinen Arm, und Gabriel 244 sagte: »Kommen Sie, Vater! Kommen Sie fort von hier.«

In diesem Augenblick stand Gertrud oben am Fenster und Philipp neben ihr. Philipp redete mit feinen Bewegungen seiner langen Hände: »Gabriel hat unrecht getan, wegzulaufen. Gabriel hat gleich das Feuer im Dach. Er ist ein unklarer Denker. Was soll das? Was erreicht er damit? Er kann doch den Vater nicht in die Gesellschaft heraufholen! Er würde ihn nur beschämen! Es gibt nun einmal einen Unterschied zwischen dem Vater und uns, Gott hat ihn gewollt. Es muß doch ein Stolz für den Vater sein, uns hier zu sehen! Das muß ihm doch genügen! Man darf in dieser Welt der Unvollkommenheit nicht überzärtlich sein. Ich verstehe Gabriel nicht.« Gertrud erwiderte: »Sie reden recht, Hochwürden, aber Sie reden auch widerwärtig.« Damit ging sie fort und ließ ihn stehen. Unwillkürlich krochen ihre mageren Schultern in den Ausschnitt des Kleides zurück.

»Das Fräulein Schwägerin hat auch gleich das Feuer im Dach«, meinte Philipp ihr nachschauend. »Diese neumodischen Aufgeklärten sind so verzärtelt. Sie sollten mehr die Bibel und ihre eiserne Sprache lesen. Warum sagte sie übrigens Hochwürden und nicht Schwager, oder auch Philipp –?«

 

»Kommen Sie, Vater, wir gehen in ein Weinhaus,« sagte Gabriel, »ja? Ich möchte mit Ihnen eine Flasche Wein trinken! Ich möchte mit Ihnen fröhlich sein!« Oh, welche Anstrengung kostete es, so zärtlich mit dem Vater zu reden! Aber ein tiefes Genügen war über die Züge des Vaters gebreitet. Da, als sie in der stillen, um die Mitternachtsstunde leeren 245 Straße waren – da fiel Großjohann Gabriel um den Hals, Tränen stürzten aus seinen Augen, und er rief: »Sohn! Sohn! Warum müssen wir so unglücklich sein?« Vater und Sohn sahen sich an, und beide erglühten in Scham. Gabriel rief: »Ja, warum müssen wir unglücklich sein? Warum sind wir zuhause wie die Bestien zueinander?« – »Deine Mutter! Deine Mutter, Gabriel!« – »Nichts von der Mutter! Nichts Böses von der Mutter!« – »Das ist ein . . . ! Das ist . . . !« – »Nichts Böses von der Mutter!« rief jetzt Gabriel und stieß mit dem Fuß auf. – »Deine Mutter . . .«

»Ins ›Himmelreich‹ gehen wir, ja, Vater? Ich war noch nicht in dem Weinhaus, aber ich habe viel Rühmendes davon gehört. Tun Sie mir die Ehre an, eine Flasche Wein mit mir zu trinken. Ja? Gehen wir!«

Der Vater nickte. Jeder von beiden bemühte sich, vor dem andern heimlich die nassen Augen zu trocknen, und Gabriel fing an zu scherzen, zu scherzen, um die Leere des Weges und die peinliche Stunde zu füllen: »Wir wollen uns auch freuen, nicht wahr, Vater? Lassen wir die da bei Merlins ihre höflichen Gesichter schneiden und wie die Vögelchen von Tellern und aus Kelchen nippen. Wir heben einen ordentlichen Humpen, was?« Er lachte laut und burschikos auf, denn es war ihm in diesem Augenblick so jammerschwer ums Herz. »Diese Kleber und Streber da! Diese Affen und Pfaffen! Haha!«

Über die nachtleere Straße an der alten Pfalz hing an einem langen eisernen Arme eine schmiedeeiserne Laterne mit grünem Licht. Dort war das »Himmelreich«. Dort traten sie ein. 246

 


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