Josef Ponten
Der babylonische Turm
Josef Ponten

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Viertes Kapitel

Der junge Leo

Der alte Leo war wirklich ein liebenswerter und kluger Mann. Ganz zuletzt kam es ihm selbst vor, daß die Großjohann erwiesene Wohltat ein furchtbares Geschenk, des Bauherrn Verderben sein könne, denn Leo sah ein, daß es plötzlich mit ihm zu Ende ging. Er lag aber schon auf dem Sterbebett.

Der junge Leo, drahtlich aus dem Bade zurückgerufen, hatte vor dem Krankenbett des Vaters zuerst getobt, als er die heimtückische Tat des Alten erfuhr. Plötzlich aber, als er sah, wie der Alte bleich und blau wurde, änderte er seinen Ton, denn er erkannte, was ihm nützlich war. Der Alte nahm es für Liebe, und es verschönte ihm die letzten Augenblicke. Sein Leben lang hatte ihm der Sohn nur Kummer gemacht, er verzieh es ihm alles wegen der Freude, die jener ihm in den letzten Minuten bereitete. Trotzdem rief er nach dem Notar. Der Notar kam. Der alte Leo erhob sich mit nackter keuchender Brust aus dem Bette, auf der einen Seite stand der Notar, auf der andern der junge Leo. Der Alte sagte: »Herr Notar . . . mein letzter Wille . . . die Hypotheken des Großjohann . . . schenke ich« – »diesem« wollte er 144 sagen, aber der junge Leo stieß, nicht gerade in schlimmer Absicht, aber er stieß doch im Zorn den Vater heftig mit der Faust in den Rücken, daß dem das Wort verging. Der alte Leo fiel hintüber und war tot.

»War das nun ein Mord?« dachte der Notar im Fortgehen; »es ist offenbar, daß der Alte die letzten Züge tat. Einen Menschen aus dem vollen Leben reißen, ist Mord. Auch einen Kranken töten, der noch Hoffnung hat, ist Mord. Das Leben eines Mannes um einige Sekunden verkürzen, kann man das füglich Mord nennen? Es kam auch so plötzlich und war wohl mehr unglücklicher Zufall als Absicht. Ich bin auch nicht Staatsanwalt, Anzeigen und Verhandeln ist mir widerlich. Warum bin ich denn vom Richter Rechtsanwalt und vom Rechtsanwalt Notar geworden, wenn ich die Gerichtsschranken nicht haßte? Und wer beweist denn, daß der alte Kornel Schmitz ohne den Faustschlag wirklich noch eine Sekunde länger gelebt hätte? Ich halte mich draus.«

Der alte Leo starb einen Monat, nachdem er den größten Teil der Bauschulden Großjohanns aufgekauft hatte. Noch ehe die Leiche kalt war, forderte der junge Leo von Hermann Großjohann die seit zwei Monaten ausstehende Summe von 10 000 Mark ein. Er gab eine Frist von vierundzwanzig Stunden.

Als der eingeschriebene Brief des jungen Leo im Hause Großjohann ankam, war es, als ob ein großes Unglück die Familie getroffen hätte. Bei dem guten Gang der Geschäfte waren den Großjohanns wirkliche Schwierigkeiten noch etwas so Ungewohntes, daß schon ein kleines Hindernis als reines 145 Unglück aufgefaßt werden konnte. Hermann Großjohann saß dumpf da, er sah, sonderbar genug, nur das Verderben. Frau Franziska stieß einen Schrei aus. Die Kinder stürzten erschreckt herbei. Sie konnten aber nicht erfahren, was geschehen war. So überschätzten sie die Gefahr. Brigitta setzte sich stumm in eine Ecke, entschlossen zu allem, was nötig sein würde. Philipp flüsterte der Mutter zu: »Sie sollten eine Messe lesen lassen.« Kastor und Pollux hockten nebeneinander am Boden nieder und stimmten ein Geheul an, um die unbekannte Gefahr zu verscheuchen. Der kleine Herkules stand da mit breiten Beinen und die Arme in die Hüften gestemmt, als müsse er einen Feind annehmen. So waren alle Kinder in ihrer Weise erregt, ohne daß eines den Grund gewußt hätte.

Bis schließlich Gabriel, als die Eltern auf seine Frage stumm blieben – »du kannst ja doch nicht helfen!« rief ihm die Mutter zu – wieder wie das anderemal entschlossen nach dem Briefe griff und ihn las. Da sagte Gabriel: »Aber das kommt mir doch nicht so schlimm vor! Es handelt sich doch nur um Zinsen! 10 000 Mark müssen sich doch aufbringen lassen!«

Als Gabriel sprach, waren alle still und sahen ihn an, als wüßte er die Rettung. Und als es ihm doch nicht so schlimm vorkam, kam es allen nicht so schlimm vor. Gabriel erschien es sonderbar, daß der Vater sich von der für einen großen Geschäftsmann kleinen Schwierigkeit schrecken ließ. Hermann Großjohann war gewiß von den fehlenden 10 000 Mark nicht erschreckt, die aufzubringen, und sei es durch Kreditnehmen bei der Bank, ihm nicht schwer sein 146 konnte; aber er sah größere nicht so leicht zu nehmende Hindernisse voraus, die ahnungsvolle Furcht vor einer schwereren Zukunft lähmte ihn, wie schon der Anblick der Schlange die Frösche lähmt, sodaß sie nicht entfliehen können, obschon es noch Zeit ist. Gabriel sagte: »Es muß etwas geschehen!«

Der Vater glaubte, die Worte seien an ihn gerichtet. »Der Junge soll mich doch nicht beschämen«, dachte er und machte sich schnell auf, um etwas ins Werk zu setzen. Die Mutter glaubte, die Worte seien an sie gerichtet, sie ging hinaus an ihre Arbeit, sie betete und machte auf ihre Weise etwas geschehen. Brigitta glaubte, die Worte seien an sie gerichtet, sie stand auf und ging dorthin, wo nach ihrer Meinung etwas zu tun war. Gabriel aber hatte die Worte an sich selbst gerichtet, auch er ging dorthin, wo er am ehesten Hilfe erwartete. Das Unglück entstand daraus, daß es im Hause nicht Sitte war, einander zu sagen, was man füreinander tat.

Brigitta ging zum jungen Leo. Sie sagte, sie müsse unbedingt den Herrn sprechen. Der Diener entgegnete, daß der Herr beim Essen sei; aber das Fräulein hatte etwas so Bestimmtes im Tone, daß der Diener glaubte, sie melden zu müssen. Er führte sie schlankweg in das Speisezimmer, in dem der junge Leo saß, den Rücken gegen die Tür. Als der Diener die ganze mächtige Gestalt des eben gutgespeisten Herrn dasitzen sah, getraute er sich nicht, die Dame zu melden, sondern überließ sie sich selbst, machte die Tür schnell hinter ihr zu und ging von dannen.

Brigitta sah vor sich einen breiten Rücken, über den Rockkragen quoll ein Speckhals heraus, überragt von einer Glatze, in der ein Fenster des Zimmers mit 147 dem Fensterkreuze sich spiegelte. Neben dem Rücken sah sie die fleischigen Hände des Mannes; eine von ihnen hielt eben ein großes Weinglas umspannt, das der Mann vom Munde abgesetzt hatte. Brigitta sah am Glasrande die fettige Trinkstelle. Eben stieß es dem Manne auf. Das alles flößte Brigitten einen ungeheuren Ekel ein.

Sie sagte: »Ich bin Brigitta Großjohann.«

Da drehte der Mann sich um, das Glas fest umspannt haltend, als wollte er es dem Diener, der ihn nach Tisch zu stören wagte, an den Kopf werfen. Brigitta sah auf der Seite des halb zugewandten Kopfes hervorquellende Augen, die Äderchen im Weiß waren vom Weingenuß geschwollen und rot. Wie diese Augen die Gestalt des Mädchens erblickten, lösten sich die Finger langsam vom Weinglase, die Augen verloren allmählich den stechenden Blick; die Überraschung des Mannes war aber zu groß, als daß er sofort gewußt hätte, was tun. Wieder stieß es ihm auf.

Brigitta sagte: »Ich komme, Sie zu bitten, mit dem Vater etwas Geduld zu haben. Er wird sicher in einigen Wochen das Geld beisammen haben.« Leo erwiderte: »Setzen Sie sich, Fräulein.« Brigitta entgegnete: »Nein, ich will mich nicht setzen, ich will Sie nur bitten, etwas Geduld zu haben.«

Da sagte Leo verbindlich: »Ja, wenn Sie stehen, muß ich auch stehen, Fräulein.«

Wie Brigitta nun den satten Mann sich mühsam erheben sah, setzte sie sich auf einen Stuhl; Leo sagte, indem er sich niederfallen ließ: »So, das ist nett von Ihnen«, und es stieß ihm wieder auf. Er trank noch 148 einen Schluck Wein und sagte: »Was sagten Sie doch eben, Fräulein –?«

»Ich möchte Sie bitten, mit dem Vater . . .« – »Wollen Sie nicht ein Glas Wein trinken?« fiel ihr Leo in die Rede. Aber gleich erkannte er, daß diese Frage sich einer Dame gegenüber nicht schicke, er suchte sie vergessen zu machen, indem er die Antwort nicht abwartete, sondern sagte: »Was sagten Sie doch eben, Fräulein –?«

Brigitta wiederholte: »Ich will Sie bitten, mit meinem Vater etwas Geduld zu haben.« – »Wie heißt denn Ihr Vater, Fräulein?« frug Leo und fuhr sich über die schläfrigen Augen. – »Hermann Großjohann.« – »So, so, Hermann Großjohann? So, so«, sagte er und unterdrückte ein Gähnen. – ». . . Geduld zu haben. Wegen des Geldes«, nahm Brigitta wieder auf. – »So, so, wegen des Geldes«, sagte Leo und griff nach einem Zahnstocher, mit dem er sich in die Zähne fuhr. Aber auch jetzt fiel ihm ein, daß das vor einer Dame sich nicht schicke. Er ärgerte sich darüber, daß ihm alles immer zu spät einfiel, und er sagte darum unwirsch: »Mit dem Gelde, ja so . . . wie gesagt, kommen Sie heute abend wieder.« Jetzt nach der Tafel war ihm das Denken wirklich zu schwer, und er war froh, als das Mädchen fortgegangen war. Er stand auf und wankte ein paar Schritte bis zum Sofa, auf das er niederfiel. Sofort schlief er ein.

Brigitta ging zufrieden hinweg. Sie wollte aber nicht einzig mit einer Versprechung nachhause kommen. Das sähe ja aus, als ob sie sich schon dieses halben Erfolges rühmen wollte! Überhaupt schien ihr nicht am schwersten, am Abend zum jungen Leo 149 zurückzukehren, sondern nachhause zu gehen und zu sagen: Vater und Mutter – sie würde ganz sicher nicht Vater und Mutter, höchstens Eltern, nein, auch das nicht, sagen! – die Gefahr ist vorüber! Dann würden die Eltern sagen: Kind, wie hast du denn das gemacht? Und würden ihr vielleicht danken. Wenn der Vater doch nur hart, wie gewöhnlich, fragen würde: Wo bist du gewesen? Ich dulde nicht, daß du herumläufst. Dann würde sie beiläufig sagen: Ich bin beim jungen Leo gewesen, er sagt, er gibt vier Wochen Zeit. Dann würde sie still hinausgehen. So dachte sie sich alles aus, ging zu Endenichs, verbrachte dort aufgeräumt den Nachmittag, ohne etwas von Sorge und Freude merken zu lassen, und begab sich gegen Abend wieder auf den Weg zum jungen Leo.

Gabriel Merlin

Mittlerweile war Gabriel zu Merlins gegangen. Unterwegs griff er an den Schlüssel, den er immer bei sich trug und richtete seinen Mut auf: Der Mann, der mir den Schlüssel zu seinem Hause gegeben hat, wird mich sicher nicht im Stiche lassen! Am letzten Heiligen Abend nämlich hatte er unter dem Weihnachtsbaume den großen altmodischen Schlüssel mit dem kunstvoll verzierten Griff gefunden. Das Geschenk war ihm wertvoller vorgekommen als irgendeines, das man ihm hätte machen können. Er hatte nun die Erlaubnis, zu jeder Stunde zu kommen. Jetzt war er der Sohn des Hauses.

Er öffnete das Schlupfpförtchen, und der Türsteher, vom Mittagessen schläfrig auf der Plattform vor seiner weißen Tür sitzend, nickte ihm vertraut zu. 150 Schon längst rührten sich die Hunde bei seiner Ankunft nicht mehr. Gabriel stieg die drei Stufen hinauf und stieß die weiße Türe auf – da fuhr Traudchen aus dem Schlafe vom geblümten Sofa auf und frug, ein wenig überrascht: »Zu dieser Stunde?« Nun erzählte ihr Gabriel, was geschehen war.

»Armer Lieber,« sagte Traudchen, den einen langen Arm auf den Tisch gestützt und den andern in Gabriels Arm gelegt, »da hast du eine schlechte Zeit gewählt. Der Vater wird dir sicher nicht helfen. Seit drei Tagen hält er sich eingeschlossen. Er kommt nur flüchtig zu den Mahlzeiten und ist einsilbig. Er scheint etwas Schweres zu tragen, ich weiß nicht was. Er muß einen Brief gefunden haben, den dein Vater vor vielen Jahren an meine Mutter geschrieben hat, die ich ja nicht gekannt habe. Es scheint mir, als ob der Brief – verzeih – sehr dreist gewesen sei. Der Vater deutete etwas an, ich weiß aber nichts Genaues. Und gerade heute ist Mutters Geburtstag.«

Gabriel errötete. Nicht wegen des dreisten Briefes seines Vaters, sondern wegen des Briefes seines Vaters, des Briefes an eine Frau. Der Vater hatte einer Frau einen Brief geschrieben, doch wohl einen Liebesbrief! Der Vater hatte eine Frau geliebt wie er, Gabriel, der Sohn! Der Vater, der allen Kindern als ein spartanischer Held, keinem Gefühle dienstbar erschien, hatte geliebt! Wie beschämend! Der Vater, der daheim alle zarten Gefühle verrufen zu haben schien!

»Nein, mein Kind,« sagte hinter den beiden Herrn Merlins Stimme, »Gabriels Vater hat an deine Mutter keinen Brief geschrieben, am wenigsten einen dreisten Brief. Ihr beide seid klug und alt genug, um 151 zu verstehen, was ich euch jetzt sagen will – darf ich mich setzen, Traudchen? Ich fand einen Brief, den deine Mutter in ihren letzten Lebenstagen geschrieben hat in der Besorgnis, ich möchte, wenn sie nicht mehr sprechen könne, auf irgendwelche törichten Gedanken kommen. Verlegt, fiel mir der Brief aus alten Papieren erst vorgestern nach achtzehn Jahren in die Hände. Ich teile euch den Inhalt mit, weil ich mich leider in diesen Tagen habe gehen lassen und Grund zu falschen Vermutungen gegeben habe, wie ich denn auch eben höre, und weil ich meine, daß man Kinder nicht zu lange für dumm halten soll. Deine Mutter scheint, nachdem sie Gabriels Vater gesehen hat, ein geistiges Doppelleben geführt zu haben. Sie schreibt: Damit ich bereit bin, wenn, wie nicht zu erwarten, das bevorstehende ersehnte Ereignis unglücklich ablaufen sollte, hinterlasse ich Dir, lieber Mann, diese Zeilen, welche Dich aufklären sollen, so klar ich selbst sehe. Wenn eine Liebe wachsen kann – die unsrige hat es getan. Die milde Sonne Deines Wesens hat in dem Sturmlande meiner Seele einen neuen Frühling der Gefühle hervorgezaubert, aber –. Du hast langsam auf mich eingewirkt, dennoch –. Glaubst Du, Liebster, daß man einen Menschen umwandeln kann? Daß auch der Stärkste, Beste, Klügste den Erbärmlichsten ändern kann? Glaubst Du das? Ich glaube es nicht. Ich glaube, daß wir ewig bleiben, was wir sind, und daß unser mitgebrachter Charakter unser Schicksal ist. Kommt der Mensch oder das Ereignis, die den alten Kern unseres Wesens reizen, so antwortet es sofort und grenzenlos. Das Ereignis war für mich die große Betriebsamkeit, die unser Volk und unsere Stadt nach dem Kriege ergriff. Ich meinte, 152 mittun zu müssen. – »Das war,« warf Herr Merlin erklärend ein, »als diese sonderbare Lust zu bauen sie ergriff, ich erzählte euch schon.« – Der Mensch war für mich Hermann Großjohann. Ich suchte einen, der mir helfen sollte, und fand gleich den, auf welchen ich lange gewartet zu haben schien. Es gibt Menschen, die ohne es zu wollen und zu wissen aus uns etwas anderes machen, als wir sind, nämlich das, was wir eigentlich sind; die durch ihr bloßes Sein einen Zwiespalt in uns auftun, uns eine Binde von den Augen reißen und uns sagen: Das bist du! Trotzdem, da wir Frauen zu opfern gewohnt sind, habe ich ihn kaum wiedergesehen, seit ich wußte, daß Du ihn nicht littest. Was Du mit »Weiberart« verspottetest, als mein Eifer erlosch, das war zur Hälfte dieses Opfer und zur Hälfte die Aussicht auf ein Preiswürdigeres, das es zu erbauen galt. Aber der seelische Einfluß des Gemiedenen wirkte trotzdem. Ich unterliege einfach einem Zauber. Worin er denn besteht? Es ist schwer zu sagen. Mich bezaubert ein Mensch, der wollen kann. Wollen bis zum Unsinn, zur Selbstvernichtung. Wir Wohlhabenden können nicht wollen, weil wir nicht zu wollen brauchen. »Doch das Folgende ist nicht für euch«, sagte eilig Herr Merlin, der merkte, daß er in Hinsicht auf Gabriel schon zu weit gelesen hatte. Obgleich er nun den Brief in diesen drei schweren Tagen vielemale gelesen hatte, so las er ihn doch auch jetzt wiederum stumm für sich zu Ende:

Es sind die Menschen, die ein Ideal verkörpern wollen. Eine Fähigkeit und Kraft auf die Spitze treiben. Das Ideal ist an sich schon etwas Tragisches. Sie müssen untergehen, man mag ihnen helfen 153 oder nicht. Sie gehen einfach durch ihren eigenen Übermut zugrunde, sie sinken durch ihre eigene Schwere; und ihr Übermut ist das Reizende an ihnen. Sie schauen begeistert in blaue Weiten und sehen ihr fernes Ziel nah mit verzückten Augen – und sehen die Knüppel nicht, die man ihnen in den Weg wirft, und die Gräben nicht, in denen sie ertrinken müssen. Denn ihr Untergang ist ihr Ziel, ihr Glück, ist der ganze Zweck ihres Daseins. – Dann aber, könntest Du sagen, müßte Frau Großjohann einen noch stärkeren Bann auf mich ausüben. Sie ist der stärkste Wille. Aber – wir sind Menschen, und ich bin eine Frau, das andere Geschlecht wiegt für uns doppelt. Doch auch, wenn sie ein Mann wäre – nein! Ihr Wille ist etwas fast Tierisches. Niemals schwanken, das ist uns menschlich zu fern. Zum Zauber gehört, daß der Mensch sein Unglück ahnt. Daß er den verderblichen Kreisen auszuweichen sucht und doch in sie hineingezogen wird. Sein Schritt stockt, und er zaudert hin und wieder. Das Schaf, das blind in die Flamme rennt, ist ein dummes Tier. – So ist es, Theodor, vielleicht würdest Du es besser sagen, so ist es oder ähnlich, aber im Grunde ist es richtig. Man kann gar nicht irren, wenn man so ernst von sich spricht. Und man kann etwas Ernstes viel besser schreiben als sagen. Auch wenn Du nicht gezwungen bist, diese Zeilen nach meinem Tode zu lesen, ich würde doch einmal verreisen und sie Dir hinterlassen, denn ich kann nicht lügen, auch nicht durch Schweigen. Und wenn sie weh tun sollten, bedenke: wer heilen will, muß schneiden dürfen.

Gertrud.      

154 »Nun, Kinder,« nahm Herr Merlin die Rede wieder auf nach der Pause, in der Traudchen und Gabriel aneinandergeklammert in atemloser Spannung gesessen hatten, »ihr seht, daß meine Eitelkeit sich mit diesem Briefe wohl einige Zeit auseinandersetzen mußte. Sehr klug hat die Mutter geschrieben, aber einen tüchtigen Brief kann jeder in seinem Leben schreiben, dann, wenn er von seinem innersten Ich schreibt, das nur er wirklich kennen kann, und besonders, wenn er wie die Mutter es schreibt in dem eigenartigen überirdischen, durch alles dringenden Lichte, das die Ewigkeit vor dem Tode in sein Leben hereinwirft. Und nun, Gabriel, was gibt es Schreckliches? Du siehst aus wie ein Fisch an Land.«

Gabriel sagte, was zu sagen war. Er fügte aber keine Bitte um das Geld daran, sondern frug Herrn Merlin um seinen Rat. »Gut,« sagte dieser, »um der Mutter willen! Heute ist ihr Geburtstag. Ich habe auch gerade viel Geld flüssig und suche nach einer Stelle, es anzulegen. Ich fahre sofort zum jungen Leo und bringe die Sache in Ordnung.« Er ließ anspannen, und bald rollte sein Wagen zum Hofe hinaus, die Kinder in jener Zärtlichkeit zurücklassend, die nach einer überstandenen Gefahr sich meldet.

Herr Merlin traf den jungen Leo, wie er eben vom Nachmittagsschlaf erwacht war. Er sprach von Großjohann und den 10 000. Er erfuhr, daß Leo im Besitze des größten Teiles der Bauschulden Großjohanns war. Herr Merlin stutzte über die Höhe der Summe. Wohl erinnerte er sich des Satzes jenes spätangekommenen Briefes: Ein solcher Mann muß untergehen, man mag ihm helfen oder nicht. »Aber 155 man kann doch das Ende hinauszögern, sozusagen das Schauspiel verlängern«, dachte Theodor Merlin. »Vielleicht stirbt mittlerweile der Held, und sein Nachfolger setzt das Spiel fort. Wenn der Nachfolger Gabriel wird, so ist es möglich, daß aus dem traurigen ein heiteres Spiel wird. Und später kommen die beiden Posten ja doch einmal zusammen. Ich lege mit dem Gelde ein Vermögen für Traudchen und Gabriel an.«

Herr Merlin kannte den Ruf des jungen Leo. Er schlug ihm also günstige Bedingungen vor, wenn er ihm die Großjohannschen Papiere überließe. Leo, vom Schlafe noch halb benommen, sagte zu. Als Herr Merlin mit den Papieren weggegangen war, fiel dem jungen Leo ein, daß ja Fräulein Großjohann noch am Abend kommen würde, um Aufschub der Zahlung zu erbitten. Und wieder ärgerte er sich, daß ihm alles zu spät einfiel. »Was ist nun da sonst zu tun?« überlegte er, das Kinn in der Hand, »was ist nun da zu tun . . . ? Tja, was nun . . . ? Ein guter Gedanke kommt mich immer nur langsam an wie den Ochsen die Milch . . . Tja, was nun . . . ?«

Das Opfer

Brigitta kam. Als sie in ihrer ganzen jungfräulichen Schönheit bittend vor ihm stand, meinte Leo einen Augenblick fähig zu sein, ihr die Ehe anzubieten. Aber er war nun doch schon ein alter Junggeselle, der die Lust der Ehe ohne die Last der Ehe zu finden gewohnt war. Nie hatte ihm ein Weib gefallen wie Brigitta Großjohann.

Er sagte mit wichtigtuender Miene: »Ja, Fräulein 156 Großjohann, ich habe es nun in der Hand, Ihren Vater zu verderben. Ich habe seine sämtlichen Schulden: 6 mal 100 000 Mark.« – »6 . . .« fiel Brigitta erschrocken ein, und der Atem verging ihr. – ». . . mal 100 000 Mark, jawohl!« rief Leo aus, »Sie wissen das nicht?« – »6 mal . . .« flüsterte entsetzt Brigitta. – ». . . 100 000 Mark!« vollendete wieder Leo; »wissen Sie das nicht? Welch eine Gewissenlosigkeit eines Vaters, seine Kinder über seine Schulden im unklaren zu lassen!« – »So . . . arm . . . sind wir?« hauchte Brigitta.– »Ich weiß nicht, wie arm Sie sind«, sagte unwillig Leo und unterließ es, ihr zu sagen, wieviel dieser Schuldsumme an Besitz gegenüberstehen mußte, denn er sah wohl, daß das arme Kind von diesen Baugeschäften nichts verstand, und daß Bauschulden keine gewöhnlichen . . . Da unterbrach Brigitta sein Denken: »Aber Bauschulden sind keine gewöhnlichen Schulden!« – »So, so?« höhnte er, »Bauschulden sind keine gewöhnlichen Schulden? Woher haben Sie denn diese Weisheit? Na, da warten Sie mal, bis es zur Versteigerung kommt! Dann werden Sie erleben, was Bauschulden heißt. Das Hemd müssen Sie ausziehen, um sie zu bezahlen!« Das knickte wieder Brigitta. Leo sah es und lachte. »Ja, ja, ein schöner Schuldenmacher, Ihr Vater!« rief er höhnend aus.

»Mein Gott,« stöhnte leise Brigitta, »nun sind wir Ihnen in die Hand gegeben, Vater, Mutter, die Brüder und Gabriel?« – »So kann ich Ihren Vater zerquetschen!« rief Leo, indem er die Abendzeitung faßte, sie in einer Hand zerknüllte und in die Ecke warf. Seine Augen brannten, und Brigitta sah wieder die roten Äderchen in dem hervorquellenden 157 Weiß wie diesen Mittag, als Leo Wein getrunken hatte. Leo hielt es doch für vorsichtig, noch einmal zu fragen, ob sie von den Geldgeschäften ihres Vaters nichts wisse. »Nichts«, sagte Brigitta. – »Auch nicht, in wessen Händen die Schuldbriefe sind? Wer die Gläubiger sind? Wieso die Papiere wandern?« frug Leo. – »Schuldbriefe? In wessen Händen? Was ist das? Wieso können Schuldbriefe wandern?« – »Ich leihe Ihnen Geld,« erklärte Leo, »das Geld wird auf Ihr Haus eingetragen, ich verschenke, verkaufe oder vererbe den Anspruch.« – »Ich verstehe davon nichts«, sagte Brigitta. Aber Leo frug der Sicherheit halber noch mehr: »Also Ihr Vater spricht nie von Geschäften?« – »Nie«, sagte Brigitta. – »Ihr Ehrenwort?«

»Was mag das nur bedeuten? Was will er mit meinem Ehrenwort?« dachte Brigitta. Aber sie war von der schrecklichen Zahl – nicht von diesem Menschen, o nein! – so in Furcht gejagt, daß sie sagte: »Mein Ehrenwort!«

Aber Leo frug noch mehr und kam dabei langsam näher. Brigitta fürchtete sich nicht und blieb auf dem Fleck stehen. Leo frug: »Und lesen Sie auch keine Geschäftsbriefe?« – »Was habe ich vor diesem Menschen zu verbergen?« dachte Brigitta und sagte fest: »Nein!« – »Ihr Ehrenwort?« – »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort nicht mehr. Wenn ich sage nein, so ist es nein!«

Leo lächelte gefällig auf das trotzige Mädchen nieder. »Sie gefallen mir,« sagte er, »aber Ihr Ehrenwort wäre mir lieber.« – »Ich habe nein gesagt! Mein Wort ist gut!« – »Gewiß,« sagte Leo, näher rückend und immer leiser redend, »Ihr Wort ist gut, aber Ihr Ehrenwort wäre besser!«

158 »Er muß doch ein ehrenwerter Mann sein,« dachte Brigitta, »weil er soviel auf das Ehrenwort gibt.« Sie sagte ruhig: »Ich kann Ihnen jetzt mein Ehrenwort nicht mehr geben, nachdem ich einmal erklärt habe, daß ich es nicht tun werde. Wenn ich es jetzt gäbe, würde ich mich ja selbst Lügen strafen und meinem Worte die Kraft nehmen.« – »Sie sind mir gut«, flüsterte Leo zwischen den Zähnen, ganz nah über ihr stehend und sie mit Blicken gierig verzehrend. Brigitta wußte nicht, wie sie diese Worte zu deuten habe.

Obgleich der Mensch ihr in allen seinen Teilen einen unüberwindlichen Ekel einflößte, so wich sie doch nicht um ein Haar zurück. »Ich fürchte mich nicht«, dachte Brigitta; »wenn er mich anfaßte, ich würde nicht zucken!«

Leo faßte sie an. »Sie sind mir gut«, flüsterte er wieder, und nun wußte Brigitta die Worte zu deuten. Sie waren in dieser Deutung nicht mal eine Frage, ein Befehl waren sie! Nun zuckte Brigitta doch zusammen, aber sie wich nicht.

»Wenn sie doch schreien, wenn sie doch auf die Knie fallen und bitten würde,« dachte Leo einen Augenblick, »ich würde ihr gewiß nichts tun! Aber dieser Trotz entflammt mich, ich verliere die Besinnung. Wenn sie mich ins Gesicht schlägt, heirate ich sie.«

Aber Brigitta schlug ihn nicht ins Gesicht. Sie hatte es tun wollen, aber im gleichen Augenblicke war ihr Auge auf das Knäuel Papier in der Ecke gefallen, und sie hatte sich erinnert, daß sie des Vaters wegen gekommen war. »Was wollen Sie von mir?« frug sie ruhig, »ich will von Ihnen ein paar 159 Wochen Aufschub und daß Sie meinem Vater nichts antun«, sagte sie, das Papier ansehend.

Leo war nicht das erstemal in solcher Lage. Er erinnerte sich, daß ihm Beuten, die er festzuhalten meinte, im letzten Augenblicke entgangen waren. Er kannte seine beiden Fehler, zu langsam zu denken und dann zu schnell zu handeln. Er ging von Brigitta fort, schritt durchs Zimmer und frug nach einer Weile: »Lieben Sie Ihren Vater?« Brigitta antwortete nicht.

»Lieben Sie Ihren Vater?« frug Leo, durch das Ausbleiben der Antwort gereizt. Brigitta antwortete nicht. »Lieben Sie Ihren Vater?« frug Leo, nachdem er einige neue Runden durch den Saal gemacht hatte. – »Mein Gott,« flüsterte Brigitta, »was geht's Sie an!« Sie fühlte sich plötzlich sehr müde, griff nach einem Stuhle und setzte sich. Als Leo das sah, frohlockte sein Herz.

»Lieben Sie Ihren Vater?« frug er zum letztenmale. – »Mein Gott, ich weiß es nicht, fragen Sie mich nicht.« – »Sie lieben Ihren Vater nicht! Sie sind eine schlechte Tochter. Ihr Vater ist ein bedeutender Mann. Darum ist er mein Feind, darum will ich ihn zerquetschen wie das Zeitungsknäuel da. Sie sagen vielleicht: Lieber Vater! Sie küssen ihn morgens beim Aufstehen und abends beim Schlafengehen. Sie herzen ihn, wenn er auf Reisen geht. Sie schreiben ihm Briefe voller Liebesworte. Aber es sind nur Worte! Worte! Einer Tat ist kein Weib fähig.« – »Reizen Sie mich nicht!« rief plötzlich Brigitta aufspringend und die Fäuste ballend.

Sie führte die Fäuste in ihre Augenhöhlen, und während ihre Augen auf diese Weise geschlossen 160 waren, grinste Leo selbstgefällig. »Aber gerade, mein schönes Kind, will ich dich reizen!« dachte er; »aber gerade, mein schönes böses Kind!«

»Wie stehen Sie mit Ihrem Vater?« frug Leo jetzt ruhig, indem er einen Stuhl nahm, »läßt er Ihnen Freiheit?« – »Was geht Sie das an?« rief Brigitta zornig. Aber Leo frug ruhig weiter: »Ich meine, läßt er Sie viel ausgehen?« – »Was soll das?« rief Brigitta in bösem Argwohn aus. – »Ihr Vater ist ein Tyrann! So ist er in der Geschäftswelt bekannt. Er meint euch mit Gewalt zu erziehen. Jawohl, Gewalt! Mit Gewalt kann man ein Ei an einem Stein zerschlagen, aber keinen Kinderkopf brechen. Ihr Vater ist ein Rabenvater, der die vielen und guten Kinder, die er hat, nicht verdient! Das sagen alle Leute von ihm. Er möchte seine Kinder am liebsten an die Kette legen.« – »So? Ja, was Sie nicht alles wissen!« höhnte Brigitta, sich wiederum setzend; »so will ich Ihnen sagen, daß ich bei unseren Freunden, Herrn und Frau Endenich, ganze Nächte bleibe, ohne daß der Vater es weiß.«

Da sprang Leo von seinem Stuhle auf. Brigitta saß in einem Sessel mit Armlehnen. Leo stand vor dem Sessel, stützte seine Hände auf die Lehnen und sperrte den Ausgang aus dem Stuhle. Brigitta fühlte seinen glühenden Atem in ihrem Haar. – »Ich habe Ihrem Vater heute sämtliche Hypotheken gekündigt. Es ist ausgeschlossen, daß er bei der jetzigen Geldlage das Geld beschafft. Morgen ist er ein zertretener Mann. Ich rufe aber den Bescheid zurück –« und nun flüsterte er: »– wenn Sie heute nacht bei Endenichs bleiben.«

Brigitta schrie. Aber im nächsten Augenblicke fühlte 161 sie sich an die furchtbare Brust des Mannes gezogen und einen Regen von heißen Küssen über sich niedergehen. »Ich liebe dich, Brigitta!« stöhnte der Mann.

 

Der Vater Hermann Großjohann saß derweil beim Bankdirektor Hagelstange, der entgegen aller Sitte eine Flasche Wein in sein Arbeitszimmer hatte bringen lassen und mit dem Vater auf die Größe des Namens Großjohann trank. Die geschäftlichen Dinge waren längst erledigt. Hagelstange hatte Großjohann ohne Umstände die fehlenden 10 000 Mark aus Bankmitteln geliehen. Freilich die langen Schreibereien, die Umständlichkeit des Sicherstellens, das Ausfüllen und Unterschreiben einiger Bogen bedruckten Papiers waren Großjohann sehr ärgerlich erschienen. Solches Verfahren war er seit seinen Anfängen nicht mehr gewohnt. Auch die Beamten der Bank, die unterrichtet werden und helfen mußten, sahen plötzlich Großjohann – so meinte dieser wenigstens – mit anderen Augen an.

Gertrud Großjohann

Herr Merlin hatte geholfen! Man brauchte nicht in Sorge zu sein! Gabriel eilte über den Werkhof und stürmte die Treppe hinauf – als er aber die Tür aufmachte und Vater und Mutter sah, konnte er ihnen nicht sagen, daß Herr Merlin geholfen hatte. Er würgte den ganzen Abend daran, er konnte nicht. Denn die Eltern würden doch fragen, warum Herr Merlin geholfen habe, und er müßte seine Liebe zu Gertrud bekennen. Das war unmöglich!

162 Er frug nach Brigitta. Brigitta wußte ja von seiner Liebe, sie wußte es nun einmal auf heimtückische Weise, ihr wollte er es sagen, sie mochte es den Eltern sagen. Aber Brigitta war nicht da. »Sie ist zu Endenichs gegangen«, sagte die Mutter, »und wird wohl die Nacht dort bleiben.« Da legte sich Gabriel ohne zu essen zu Bett und grübelte die ganze Nacht. Er hatte die Rettung, aber er konnte sie den Eltern nicht zeigen. Es jammerte ihn, daß sie die ganze Nacht in ihren Sorgen bleiben mußten, aber es war ihm doch aufgefallen, wie ruhig die Eltern am Abend gewesen waren. Diese nämlich sagten den Kindern nicht, daß der Vater das Geld in der Bank erhalten hatte. Auch Philipp machte sich in der Nacht eine halbe Stunde lang Sorge. Gabriel schämte sich, daß die Eltern wissen sollten, er liebe ein Weib. Die Eltern aber wußten das längst, denn so hatten sie sich seine durch die Jahre währenden Gänge zu Merlins schließlich gedeutet. Sie sprachen aber nicht davon, auch nicht zueinander.

Als Gabriel aufgestanden war, war es ihm klar, daß es jetzt gesagt werden mußte. Zwischen 9 und 10 Uhr würden die Eltern ja den Gerichtsbeamten oder jenen schrecklichen Bankboten erwarten. Die Aufregung, die morgens in der Familie war wie in jeder Familie, in der Kinder zur Schule geschickt werden müssen, schien ihm geeignet zu sein, die beschämende Enthüllung mitten zwischen dem Lärm und Gelaufe zu machen. Als er den Mund öffnete, fiel ihm ein, die Tür zum Nachbarzimmer zu öffnen, damit Durchzug entstände, in einem Gefühle, daß seine Worte aus dem Gedächtnis der Eltern schneller entflögen, wenn sie im Durchzug gesprochen würden. 163 Dann sagte er: »Herr Merlin hat mir gestern gesagt, er will die Sache in Ordnung bringen, ich bin nämlich mit Fräulein Merlin verlobt« – er eilte davon. Wenn er geblieben wäre, würde der Vater ihm gesagt haben, daß er das Geld bereits in der Bank erhalten habe. Jetzt sagte der Vater ärgerlich: »Was mischt sich dieser Merlin in meine Angelegenheiten?« Er frug aber Gabriel nie, was denn Herr Merlin getan habe, nur um den Sohn nicht wieder nach der peinlichen Verlobung fragen zu müssen. Über die Tatsache selbst freute er sich, denn Merlins waren der angesehensten und reichsten Familien eine. Gabriels Zukunft war durch die Heirat mit einer Merlin gesichert, und der Vater freute sich über den wackern Sohn, der sein Ziel, die Familie zur Höhe zu führen und vornehm zu machen, so rüstig, was ihn selbst anging, verfolgte. Auch an Frau Merlin dachte Großjohann einen Augenblick mit Dankbarkeit und Wehmut. »Frau Merlins Kind wird meine Schwiegertochter.«

Für die Mutter aber war Gabriels Enthüllung entsetzlich. Sie begriff nicht, daß ihr Mann dabei so ruhig bleiben konnte. Freute er sich gar? War er denn so verderbt, war denn aller natürliche Sinn in ihm tot? Nach dem Mittagessen im Hinausgehen aus dem Zimmer, als Gabriel in seine Kammer gehen wollte, sagte sie ihm leise: »Hör' mal eben.« Sie ging auf den Flur hinaus voran. Gabriel sagte: »Hier bin ich. Ich bitte Sie kurz zu sein, Mutter, wenn's möglich ist.« Er fürchtete nämlich, die Mutter würde ihn wie andere zärtliche Mütter beiseite nehmen, ihm sagen, wie sie sich freue, daß er Fräulein Merlin heiraten werde, und sich mit ihm in ein holdes Geschwätz über sein Bräutchen einlassen. Zwar 164 wußte er nicht recht, wie das bei der Art seiner Mutter geschehen könnte, aber schließlich, dachte er voll Furcht, sind alle Mütter gleich.

»Gabriel,« sagte Frau Franziska, »du darfst das Mädchen nicht heiraten.« – »Aber wieso, Mutter,« rief Gabriel erstaunt aus, »was können Sie denn gegen sie haben?« – »Du darfst das Mädchen nicht heiraten, Gabriel. Es ist doch Fräulein Merlin, nicht wahr?« – »Aber ich versteh' nicht . . . versteh' nicht.« – »Es wäre ein Verbrechen, Gabriel«, sagte sie, die Augen am Boden.

»Mutter,« sagte Gabriel in tiefstem Schrecken leise, »was ist geschehen?« – »Verstehst du denn nicht? Dann muß ich es dir schließlich sagen. Gott ist mein Zeuge, daß ich es nur tu', um ein Verbrechen zu verhüten, um Unglück von dir – und deinen Kindern fernzuhalten. Noch nicht?« – »Mutter!« rief Gabriel, »Mutter! Mutter!« – »Still, Gabriel, sei nicht so laut. Du verstehst also?« – »Nein, Mutter, nein, es ist nicht möglich! Ich verstehe nichts, gar nichts! Gar nichts!«

»Fräulein Merlin ist deine Schwester.«

Gabriel verfärbte sich. Er sagte nichts. Er schien an etwas zu kauen. Schließlich sagte er leise: »Ich begreife das nicht.«

»Dein Vater ging früher oft zu Frau Merlin. Damals verstand ich das nicht. Besonders oft ging er die bestimmte Zeit vor der Geburt des Kindes, an der Frau Merlin starb. Merlins waren lange verheiratet, ohne ein Kind zu haben. Als dein Vater dort verkehrte, war das plötzlich anders. Ich konnte die Frau nie leiden. Alle Leute sagten, sie sei die schönste 165 Frau der Stadt. Ich fand sie häßlich. Ich glaube, sie hatte keine Religion. Sie hat uns auch mit Geld geholfen. Sie liebte deinen Vater, denn sonst hätte sie ihm nicht geholfen. Aber das wurde mir erst später klar. Herr Merlin weiß von allem sicher nichts. Du sollst ihm auch nichts sagen, sondern einen Grund suchen, dich unauffällig zurückzuziehen. Du wirst schon was finden, du bist ja klug.« – »Mutter,« stammelte Gabriel, »haben Sie denn Fräulein Merlin einmal gesehen? Wenn Sie sie gesehen hätten, würden Sie es für unmöglich halten.« – »Ich habe sie nicht gesehen und will sie nicht sehen. Ich hasse sie mit ihrer Mutter, die Gott verdammt haben wird. All unser Unglück kommt von diesem schlechten Weibe her. Seitdem der Vater mit ihr sprach, ist er nicht mehr fromm. Seitdem sind die Engel aus unserem Hause fortgezogen und die Teufel eingekehrt. Wie kann es einem Hause gut gehen, in dem keine Gottesfurcht ist? Sie hat Gott schnell genug für ihre Sünde geschlagen, das ist doch für den Blinden offenbar, ihn, deinen Vater, wird er auch schlagen. Seitdem ist er ein Ehebrecher und Trinker geworden. Frau Schröder kam in einer der letzten Nächte um Mitternacht schellen, um nach ihrem Manne zu fragen. Der ist auch nicht besser als dein Vater. Sie saßen im Wirtshause, die beiden Herren! Und Frau Schröder sagt, sie versage sich die Milch zum Kaffee. Auch sonst habe ich gehört, daß dein Vater sich in die Straßen stellen geht, wo sie bauen, die Unternehmer von ihren Bauten wegschwätzt und sie fragt, ob sie mit ihm trinken gehen wollen. Gott ist mein Zeuge, daß ich das nicht sage, um den Vater zu verkleinern, sondern nur, damit du verstehst, was ich 166 sagte. Du sollst ihn immer in Ehren halten, wie im vierten Gebot steht. Da kommt er.«

Sie hörten den Vater die Treppe heraufkommen, und Mutter und Sohn verschwanden vom Flure.

Als Gabriel, ein Halbtoter, in seiner Kammer auf dem Bette lag, hörte er aus dem mittagsstillen Hofe herauf, auf den das Fenster des Eßzimmers ging, einen lebhaften Wortwechsel zwischen Vater und Mutter. »Ich komme nachhause, wann ich will!« rief der Vater; »ein Geschäft ist nicht gerade zu Ende mit der Mittagsglocke. Ich bin der Herr im Hause! Was verstehst du davon, was wir im Wirtshause tun? Im Wirtshaus machen die Bauleute ihre Geschäfte. Soll man die etwa auf der Straße machen? Soll man auf dem Pflaster Zeichnungen aufrollen und Verträge auf den Bordsteinen niederschreiben?« Die Mutter sagte, wenn Gabriel richtig verstand, daß es doch früher anders gewesen sei. »Früher ja,« erwiderte laut der Vater, »leider! Ich habe immer für eigene Rechnung gebaut. Das war falsch, und es rächt sich. Es gilt schleunigst ein anderes Verfahren. Dann aber muß ich mich an die Leute heranmachen, wenn ich Aufträge haben will. Dann bin ich nicht mehr der große Herr, dann komme ich als Bittender.« Jetzt sagte die Mutter aus der Tiefe des Zimmers etwas, das Gabriel nicht verstand.

»Trinker?« rief der Vater. »Ist man darum ein Trinker? Du ahnst ja nicht, wieviel man mit einer Flasche Wein verdienen kann. Wenn wir in den Baustraßen stehen, so will ich mir bei gutem Wetter gern die Beine steif stehen, um dich nicht zu ärgern. Wenn es aber windet und regnet, wo soll man dann hingehen, bitte? Sollen wir die Zeichnungen naß 167 werden lassen, nur damit unsere Frauen keine nassen Augen bekommen? Denn sie scheinen alle so töricht zu sein wie du! Sollen wir etwa in die Rohbauten treten, die, wie eine Baumannsfrau wissen sollte, noch keine Böden und Dächer haben und wo gelegentlich ein Ziegelstein von oben bis in den Keller durchfällt? Soll man sich da den Schädel einschlagen lassen? Manch' einer von euch Frauen könnte das ja passen, sollte man meinen. Wo soll man also hingehen? In die Kirche?« – »Das wäre schon besser«, hörte Gabriel deutlich die Mutter sagen, die in die Nähe des Fensters gekommen sein mußte. – »Gut, aber wenn ich nach deinem Befehle in die Kirche ginge, die anderen gingen nicht mit, sondern lachten mich aus«, sagte der Vater. »Trinker? Ist man deshalb ein Trinker, weil man ein Glas Wein trinkt? Ja, für dich ist der Wein noch wie bei euch Bauern im Gebirge Medizin, den nur Kranke trinken, du findest ihn abscheulich wie Medizin und wirst betrunken von einem Glase, wie sich neulich an Kaisers Geburtstag gezeigt hat, wo ich dich vom Rathause fortführen mußte. Übrigens, mach' das Fenster zu, man braucht nicht in der Nachbarschaft zu hören, was wir uns zu sagen haben.« Die Mutter schloß das Fenster, und Gabriel hörte nichts mehr. 168

 


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