Josef Ponten
Der babylonische Turm
Josef Ponten

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Sechzehntes Kapitel

Was Eulenspiegel meint

Durch die Vorderwohnung floß ein Strom von Gläubigern. Sie nahmen sich nicht die Zeit, vor der Glastür die Schuhe zu reinigen, und die Spuren vieler Füße zeichneten sich auf dem Boden ab. Sie kamen von der Tür und machten in der Zimmermitte halt, wo Frau Franziska und Gabriel als ein Wehr dem Strome trotzten. Unter dem Leuchter kehrten die Spuren um und verloren sich zurück durch die Tür.

Mißtrauisch sah Hermann Großjohann von seiner Arbeit auf, wenn die Tür der kleinen Kammer der Hinterwohnung sich öffnete und Gabriel mit einer Frage der Mutter, eine geschäftliche Abmachung betreffend, darin erschien. Gabriel war wieder hereingekommen – jetzt aber ließ er sich auf einen Stuhl fallen. »Wirst du mich nun in Ruhe lassen?« frug mit Blicken der Vater. Und Gabriel erwiderte mit Worten: »Es ist eine Pause drüben eingetreten.«

In der Kammer roch es sauer nach Klebzeug und Leim. Tausend Schnippel und Schnitzel lagen am Boden, Abfälle der ausgeschnittenen Vorlagen. »Du bist so trübselig, mein Sohn?« – »Ich kann nicht 371 mehr, es ekelt mich an. Eine Verschwörung ist gegen uns im Gange!« rief Gabriel.

Der Vater sah ängstlich nach der Tür. Dann aber schlug er mit der Hand in die Luft und frug leise: »Weißt du, was das ist? Auf dem Tische?« – »Sankt Peter, scheint mir«, erwiderte Gabriel. – »Jawohl, Sankt Peter. Und sieh dir die Arbeit an, mein Sohn. Das ist alles sauber geklebt und nirgendwo beult es. Es ist keine Kleinigkeit, so eine Kuppel zusammenzukriegen, daß das Ding wirklich steht und noch die Laterne aushält. Deine Mutter sagt, das Domekleben sei keine Beschäftigung für einen Mann. Was versteht ein Weib! Ihr Rock hat viele Falten, aber ihr Gehirn hat wenige. Keine Beschäftigung für einen Mann? Und ich sage dir, Gabriel: Das ist das Glück! Das ist das reine Glück! Nur das Geschöpf unserer Gedanken ist schön und groß. Das draußen ist alles eitel.«

Der Alte reinigte die klebrigen Finger in der Waschschüssel und trocknete sie an seiner blauen Leinenschürze. »Nimm eine Zigarre, Gabriel.«

Blauer Rauch umwölkte die hohe Kuppel von Sankt Peter. Der Alte drückte auf einen Knopf – und in Sankt Peter glühten die elektrischen Leuchterkronen auf; er drehte einen Hahn – und im Säulenhofe des Bernini begannen die beiden Brunnen zu rauschen. »Fürchte keine Überschwemmung,« sagte Großjohann zu dem überraschten Gabriel, »die Brunnen sind aus gutem Thon, den ich mir in den Flußbenden geknetet und selbst im Ofen gebrannt habe, und das Wasser aus der Leitung sammelt sich in dem Eimer da. Und eine Flasche Wein ist auch da. Laß uns aber die Tür versperren; wenn deine Mutter 372 dich hier sähe, würde sie dich auch unter die Verkommenen und Verrückten rechnen. Keine Beschäftigung für einen Mann!« brummte er leise.

Als er die Tür versperrt, die Flasche Wein aus dem Kölner Dom und die Römer aus der Cheopspyramide hervorgezogen hatte, saßen sie eine Weile still, andächtig über die Gläser wie über Meßkelche geneigt. Jetzt blinzelte der ältere Großjohann nach der Pyramide hinüber. »Was, Vater?« frug der jüngere. Der ältere blinzelte wieder, der jüngere aber wußte nichts daraus zu machen. Jetzt frug der ältere ungeduldig: »Weißt du denn überhaupt, wie so eine Pyramide im Innern aussieht? Wie? Du denkst: na, vier Seiten und vier Kanten und eine Spitze darauf, was? Oh, wie ungebildet ist man heute! Also höre: die Pyramide ist das gediegenste Bauwerk der Welt. Da ist kein Hohlraum drin außer der Totenkammer des Pharao. Kein Füllsel mit minderwertigem Stoff, wie man heute baut und wie selbst unsere Alten bauten. Das ist gediegen bis zur Verrücktheit. Daß ich damals gelebt hätte! Da stehen also diese Pyramiden, 10, 20, 30, Berge aus Geometrie, auf dem roten Talrande am Saume der gelben Wüste. Ein blauer Strich ist da unten einen halben Erdteil weit durch die ungeheure Wüste gezogen – das ist der Nil –, daneben zwei grüne Striche, das Fruchtland, und das übrige durstiger Sand. Wenn dann die Sonne über dem Osten heraufkommt, dann tasten ihre ersten roten Strahlen als blinde Finger nach der scharfen Spitze des Baues, wie um zu fühlen, ob sie noch auf dem richtigen Wege ist.«

»Woher wissen Sie das, Vater?« frug Gabriel staunend. – »Oh,« sagte dieser erschrocken, »ich habe 373 doch Bilder gesehen – du doch auch! – und Schnitte in die Hand bekommen. Wo war das doch? Richtig, als ich mit Onkel Franz auf der Wanderschaft war, da kaufte ich in einer Trödelbude an der Seine ein altes Architekturbuch. Da stand alles drin, Grundrisse, Aufrisse und Schnitte.« – »Aber die Farbe und alles das, Vater? Daß Sie sich das so vorstellen können?« – »Kannst du dir das denn nicht vorstellen?« – »Nein«, sagte Gabriel kopfschüttelnd. – »Sonderbar!« meinte der Alte; »du bist ja auch kein Architekt geworden.« – »Sie haben ein mächtiges Gedächtnis, Vater, und sind ein Dichter dazu.« – »Komm mir nicht mit den Dichtern,« sagte Großjohann fast böse, »ich mag die Kerle nicht, die ihre kleinen Leiden ausbeuten, einen Laden ihrer Schmerzen aufmachen und sie für Groschen verkaufen.« – »Aber die Dichter der Bibel mögen Sie?« – »Ja, wenn du die Dichter nennen willst! Die zu berichten wissen, was Merkwürdiges geschehen ist, die mag ich! Die Taten und Leiden von Menschen erzählen, die einen Kopf größer waren als sie. Nur mit sich selbst sollen sie uns verschonen. Unpersönlich muß man bei allem bleiben. Das eigene Ich ist wirklich zu erbärmlich.«

»Man kann nicht sagen, Vater, daß wir zuhause uns lästig mit unserem Persönlichen geworden sind«, sagte Gabriel mit leichter Bitterkeit. – »Das war auch richtig so. Das Persönliche ist gemein.« – Gabriel kaute an seiner Lippe. »Ich möchte meinen,« sagte er, »daß die Schweigeregel des Trappistenklosters zuhause etwas streng war. Ich halte wenig von den Abtötungen. Weil wir voreinander schwiegen, ist es gekommen, daß wir nichts voneinander wissen. 374 Besonders vom Abte unseres Klosters wissen wir wenig. Erzählen Sie mir etwas von sich, Vater, von Ihrem Werdegange. Sie haben bis zum letzten Augenblicke Überraschungen für uns, wie ich jetzt eben wieder erlebte. Sie haben wahrlich Ihr Licht unter die Bank gestellt. Sie wissen soviel und haben soviel erlebt. Wo überall waren Sie, und was haben Sie gelernt?« – »Oh,« sagte der Alte, »das ist alles nicht weit her. Ich bin gar nicht fern gewesen, nur ein wenig im gesegneten Westen herum. Ich war doch mit Onkel Franz auf Wanderschaft, das weißt du doch.« – »Von Ihnen, Vater, weiß ich es nicht.« – »Genug, daß du es weißt. Und gelesen habe ich auch allerhand, damals als ich noch Zeit dazu hatte. Das ist freilich schon lange her, aber es ist mir jetzt, als sei es gestern gewesen und es liege nur eine lange finstere Nacht mit schweren Träumen dazwischen. Das waren schöne Abendstunden bis über die Mitternacht, wenn dein Onkel schon schlief, nachdem er das Abendessen aus einem gebratenen Bücking bereitet, wir abgegessen und er das Geschirr gespült hatte. Wir bewohnten damals zusammen eine Dachwohnung bei Notre-Dame – das weißt du doch?« – »Nein, das weiß ich nicht, das ist mir alles neu«, sagte Gabriel leise.

»Nun also, wir wohnten da in einer kleinen Dachkammer ziemlich lange Zeit, denn einige der prachtvollen überlebensgroßen Teufelsfiguren, die auf dem Umgang vor der Glockenstube sitzen und auf die große Stadt hinabschauen – du kennst sie doch, die Teufel?« – »Woher sollte ich sie kennen?« frug Gabriel. – »Aber Junge, warum solltest du sie denn nicht kennen? Die stehen doch in tausend Büchern 375 drin. Kennst du denn die Bücher nicht?« – »Ich kann doch nicht alle Bücher kennen. Man muß einen Führer zu ihnen haben«, meinte Gabriel. – »Führer! Führer!« grollte der Alte, »wieso muß man einen Führer haben? Man bricht sich halt selbst einen Weg. Ich habe auch keinen Führer gehabt. Und wieso alle Bücher kennen? Was sind das für Redensarten? Es gibt nur ein paar gute Bücher, die sind leicht aufzufinden, eines allen voran.« – »Ja, in dem einen haben Sie vielleicht zuviel gelesen, Vater«, meinte Gabriel nachdenklich. – »Was redest du, Gabriel? Was meinst du? Aber ich sprach da eben von den Teufeln auf Notre-Dame. Also das Geländer war morsch geworden, denn der weiße Sandstein Frankreichs wird erst schwarz, und dann bröckelt er. Das ganze Geländer mußte erneuert werden. Und das machten wir denn als Arbeiter der Dombauhütte, Franz Xaver und ich allein, denn der Dombaumeister hielt etwas von uns. Es war gerade nach dem Kriege, in der Stadt war man höllisch scharf auf alles Deutsche. Bleibt da oben, sagte der Hüttenmeister, und laßt euch nicht zuviel hier unten sehen. Zwei Jahre im ganzen waren wir in der Stadt und wohnten davon drei Monate oben, ohne je hinunterzusteigen. Herrgott, war das eine schöne Zeit! Wir schliefen am Boden. Wenn man sein Ohr an den Steinbelag drückte – Junge, wie das durch den ganzen Bau rollte, wenn nachts die Turmuhr schlug und die Töne den riesigen Bau durchwallten! Und Sonntags, wenn alle Glocken läuteten! Dann meinte man, der ganze Turm schwanke – und er stand doch fest! – aber es schwang und schwang, und die Töne füllten brausend 376 den Kopf. Wir wanderten dann nach Straßburg.« Er trank, dann schwieg er und schaute in das Glas. – »Weiter, Vater!« sagte Gabriel, »mehr!« drängte er.

»Oh, wenn du alles wissen willst, dann kann ich freilich bis morgen früh erzählen. Aber ich habe nicht geglaubt, daß meine Söhne solchen Anteil an ihrem Alten nehmen«, sagte er, mit halbem Auge aufblickend. – »Erzählen Sie, Vater«, sagte Gabriel, und seine Lippen zuckten.

»Also dann zurück in unsere Dachstube. Franz Xaver hat gespült, er schläft, und ich zeichne mit Zirkelschlag und Maßstab auf dem Reißbrett. Junge! Junge! Junge! Was habe ich da gebaut! Wie paßten die Gewölbe! Wie wuchs das Ganze! Damals baute ich natürlich nichts anderes als gotische Kirchen und kam nie mit der Meterlänge des Bogens und Reißbrettes aus. Meine Türme stiegen und stiegen, teilten die Wolken und spalteten den Himmel. Das Beste, was gebaut wurde, mein Sohn, ist nur auf dem Papier gebaut worden. Wenn etwas ausgeführt wurde, so hängte sich ihm ein ekliger Menschenschleim, eine giftige Krankheit an, und diese Krankheit heißt Geschäft. Geschäft ist das Kreuz aller, die bauten. Geld ist ihr Elend.«

Gabriel schüttelte lächelnd den Kopf. Der Vater sagte: »Jaja, mein Sohn, das kommt davon, wenn man den Vater für einen Dummen verschleißt, wie ihr es getan habt.« – »Ich auch, Vater?« – »Nein, du nicht, das muß wahr sein. Aber die anderen, und dann das Weib . . .« – »Nicht so, Vater«, bat Gabriel und legte ihm – wahrhaftig, er legte ihm die Hand an den Arm! »Aber das habe ich auch nicht gewußt, Vater, daß Sie ein Künstler sind.«

377 »Zum Wohlsein, mein Sohn! Stoß mit mir an! Nur ein dreister Kerl spuckt in den Meßkelch. Nun stell' dir das einmal richtig vor: Du trittst vor ein Bauwerk hin, übersiehst es sofort ganz und brauchst dich nicht hindurchzuquälen wie durch ein Buch. Du hörst mit einemmale die ganze Musik und die Harmonie. Wenn der Bau einmal da ist, so ist er für die Ewigkeit da, und doch kannst du ihn in einem Augenblick genießen. Und kannst auch, wenn du willst, eine Woche darin herumklettern – wie ich es im Reimser Dome tat – er ist immer da, verlangt nichts von dir und vergeht nicht. Solche Werke sollten die Menschen schaffen, wenn sie nicht mit Blindheit geschlagen wären. Wer weiß nach 3000 Jahren noch von uns und unserem großen Deutschland und vom alten Frankreich? Dann geht das Leben aus von der Sahara, wenn die Menschen gelernt haben, die Sonnenwärme aufzufangen und in Maschinenarbeit umzusetzen, und auf den Trümmern unserer Städte weiden unsere armen Nachfahren ihre Herden. Wehe, wenn dann in den Ruinen nichts Gediegeneres steht als die billigen Werke, die wir bauen! Die Schafe blöken, und der Wind pfeift, und unser Name ist vergessen . . .«

Gabriel sagte: »Sie sollen es von jetzt an gut haben, Vater, so gut wie ich es Ihnen verschaffen kann. Lassen Sie das Geschäft, das sich wie Schleim und Ekel allem Schönen anhängt, und geben Sie den Rest mir und der Mutter in die Hand.«

Großjohann verfinsterte sich: »Dir ja, aber nicht der Mutter.« – »Gut,« erwiderte Gabriel, »ich werde dann gelegentlich die Mutter um Rat fragen.« – »Tu', was du willst, nur schweig mir von dem 378 Weibe. Nimm meinetwegen den elenden Rest, und die paar Jahre, die ich noch zu leben habe, werde ich am Reißbrett zeichnen und Bauten kleben. Aber die Weiberschliche und -tücken leide ich nicht.« – »Gut, Vater. Was wir brauchen, das mag man doch aus dem Haufen noch herauswirtschaften. Kein Knäuel ist so wüst, es läßt sich mit Geduld entwirren, und so dick, daß nicht ein Ende darin wäre. Und vielleicht, wer weiß, wird auch dieser Alp von mir genommen werden, der mein Leben lang auf meiner Brust lag, daß ich nicht atmen, und auf meinen Armen, daß ich sie nicht erheben konnte, und ich werde noch Künstler.«

»Und Fräulein Merlin?« wollte der Alte fragen, aber die Scheu, sich in seines Sohnes Herzensangelegenheiten zu mischen, verschloß ihm den Mund.

»Und Fräulein Merlin«, sagte Gabriel leise aus sich, »werde ich nicht heiraten. Wir sind Freunde, im übrigen fragen Sie mich nicht danach.« – »Ich werde dich nicht fragen«, sagte stolz der Alte, erhob seinen Römer und tat einen langen Zug.

Es war nun still. Großjohann schaute in den Kelch, und der Gott im gläsernen Hause sah ihn fröhlich daraus an. »Wir haben solange geschwiegen, Vater,« nahm Gabriel die Rede an einem früheren Punkte auf, »daß wir jetzt reden sollten. Also erzählen Sie mir noch etwas.«

»Dann hätte ich einen Vorschlag für dich.« – »Nun?« frug Gabriel gespannt. – »Wenn ich gelehrt wäre wie du, Gabriel, so ginge ich in die alten Büchereien und auf die Trödelmärkte und stellte das zusammen an Rissen und Zeichnungen, was nicht 379 gebaut wurde. Es gibt soviele Bücher über das Gebaute. Das ist auch da und steht leidlich da und braucht keine Bücher. Aber von den sieben Türmen, die Reims bekommen sollte, hat der Dom nur zwei, und diese beiden sind Stümpfe. Und von der Stadtanlage in Arabien – nun hilf einmal meinem ›guten Gedächtnis‹, Gabriel,« spottete der Alte, »daß ich dir den Namen sage – also davon ist eine Prachtstraße ausgeführt, und die Säulen stehen noch überwältigend und ehrfurchtgebietend im endlosen Sande, und doch sollte sie nur eine Seitengasse werden. Oder in Italien irgendwo – Namen! Gabriel, Namen!– steht eine riesige hochschiffige Kirche –«

»Haben Sie sie gesehen, Vater?« unterbrach Gabriel. – »Gesehen?« frug sich selbst der Alte; »ich weiß nicht . . . soviel ich weiß nicht, ich war doch nicht in Italien . . . also denk' dir, diese ungeheure Kirche sollte nur der Seitenarm eines griechischen Kreuzbaus werden, der sechs solcher Kirchen in einem Bau umschlossen haben würde. Es gibt auf der Welt kein wahrhaft großes Bauwerk, das nicht Ruine wäre, im einen oder andern Sinne. Und wenn es scheinbar auch vollendet wurde, so konnte es nie vollendet werden, wie der Baumeister es sich gedacht hatte, tausend Rücksichten verhinderten es. Das alles nun würde ich ergänzen – ich würde dir helfen und zeichnen, aber du müßtest das Nötige dazu schreiben und überhaupt forschen, und wir geben es dann heraus als die Architektur, die nicht gebaut wurde. ›Architektur die nicht gebaut wurde‹ wäre ein guter Titel.«

»Hören Sie auf, Vater, Ihre Fantasien gehen ins Unermeßliche, und Ihr armer Sohn vermag 380 nicht zu folgen. Und das Werk, das Werk – ja, das wäre etwas für Sie! Ich bringe soviel Tatkraft nicht mehr auf.« Er legte seinen Arm auf den Tisch mitten in all den Bauschrott und den Kopf darauf, denn die Tränen waren ihm nicht ferne.

Der Alte sah auf das Haupt seines Sohnes nieder und dachte: »Sonderbar, die grauen Fäden in seinem Haare! Wie alt ist er jetzt? 30! Sonderbar, diese Jugend von heute.« Mitleid erfaßte ihn plötzlich, und in der Weinlaune, in der vieles Schwere leicht erscheint, tat der Vater das Unerhörte: er fuhr leicht mit der Hand über den Kopf des jungen Mannes vor ihm auf dem Tische.

Ein Zittern ging durch den Körper Gabriels, so unerhört erschien ihm, was der Vater tat. Er konnte seine Rührung und Scham nicht bemeistern, stand auf und ging ans Fenster. Dort legte er den heißen Kopf an den kühlen Messingknopf.

 

Währenddessen hatte Frau Franziska im Vorderzimmer die letzten Geschäfte der Firma Großjohann mit ruhiger Hand abgewickelt. An ihrem klaren Verstande und ihrer Kaltblütigkeit waren die Anschläge der Feinde zuschanden geworden. Der Graf hatte sich vergebens mit dunkeln Helfern bemüht. Niemand war zu Schaden gekommen, wenn auch mancher übermäßige Forderungen hatte vermindern müssen und einige Vergleiche geschlossen worden waren. Die Tür hatte sich hinter dem letzten Gläubiger geschlossen – er war laut und polternd, als wollte er das Haus abbrechen, gekommen, und er entfernte sich ruhig und gesittet.

Als nun endlich und zum erstenmale keine Sorgen 381 mehr über dem Hause lasteten, da kam über Frau Franziska das Gefühl einer großen Leere. Sie staunte darüber, und sie, die Niebeirrte, griff halb im Traume mit den Händen um sich. Ihr war zumute wie einem unter vielen Atmosphären Druck am Meeresgrunde lebenden Tiere, das durch das Schleppnetz plötzlich der Tiefe entzogen an der leichten Luft des Tages liegt – wie betrunken wird die Seeschnecke wanken. Sie ergriff Hut und Mantel und ging ins Freie.

Plötzlich war sie mitten im lebhaftesten Bauviertel am Berge. Die unfertigen Straßen waren gesperrt von knarrenden und knatternden Karren, welche rote Ziegel aus den Feldbrandöfen vor der Stadt hereinbrachten und in der Straße aufschlugen. »Hollah, Schläferin!« rief ihr ein Fuhrmann zu, denn fast wäre sie von einem Brabanter Pferde getreten worden. Der löschende Kalk rauchte aus den Gruben, von den Mörtelmachern mit einem meterlangen Holzlöffel umgerührt. »Wie köstlich es hier riecht!« dachte sie. Die Schritte der Fuhrleute und Handlanger mahlten den knirschenden Ziegelschrott. An Flaschenzügen fuhren die Steinlasten die Gerüste hinauf, melodisch klangen die Rufe des absendenden Handlangers unten und des empfangenden oben. Die Kalkkübel wechselten an Drahtseilen auf und nieder. Leicht knackten und bogen sich die Gerüste. Die Maurer liefen oben auf den Bretterstegen am Rande des Himmels, die Einfuger fuhren in Körben an Seilen die hohen Mauern entlang, und unten im Getümmel der Baustraße standen die Bauherren, welche blaue Zeichnungen, entrollt und gegen den leichten Wind gesichert, dem Polier erklärten. Die 382 Makler schlichen mit ausgefransten Hosenbeinen zwischen Ziegelhaufen und Holzstapeln umher. Frau Franziska stand im Getümmel der Arbeiter, Herren und Pferde, einsam und verloren zu den Bauten hinaufstarrend, als sähe sie sie zum erstenmale, und dachte: »Nun sind wir aller Sorgen ledig! Nun werden wir nicht mehr bauen! Nun klingelt niemand mehr an der Glastür mit einem Wechsel! Ach – wenn wir doch wieder bauen würden! Das ist doch ein Leben! Was mach' ich mir aus Sorgen und Wechseln! Ach, wenn wir doch wieder bauen würden! Das soll nun vorbei sein auf immer!« . . .

Zur selben Zeit waren auch Hermann und Gabriel Großjohann in diese Nibelungenstraße spazierengehend gekommen, denn sie wollten in die Hügel und Weinberge hinauf. Die Baugeräusche in all ihrer groben Deutlichkeit klangen dem Ohr des Vaters unwirklich wie ferne Geschichten, und Gabriels Herz erfüllten sie mit leisem Abscheu. »Ich bin froh, daß ich nichts mehr damit zu tun habe«, sagte der Vater. »Ja, wenn das die reine Baufreude wäre! Aber sieh da, Gabriel« – er wies auf einen Herrn mit verstörten Zügen, der die Baurolle auf dem Rücken mit den Händen zerknüllte, während er sich lebhaft gegen einen Makler zu verteidigen schien – »der da trägt auch den Strick schon um den Hals, und der Henker Fingernagel steht bereit . . .«

Da durchschnitt den Lärm ein markerschütternder Schrei. Im roten Ziegelstaube sah man ein Pferd steigen. »Die Mutter!« rief Gabriel und stürzte in das Getümmel.

Es war Großjohann, als erstarre er an der Stelle. Die Mutter! Die Mutter! klang es in seinem Ohre 383 nach. Eine Eishand faßte an sein Herz. Er erschrak vor sich selbst. »Habe ich . . . so . . . Franziska gehaßt? So – habe ich sie gehaßt . . .? So – habe ich sie gehaßt . . . ?«

Frau Franziska waren die Knochen zermalmt. Sie war schon tot, als Gabriel ankam. Das letzte, was sie von dieser Welt gehört hatte, war der Ruf ihres Sohnes gewesen. Das schwere Brabanter Roß, das sie umgestoßen hatte, sodaß sie unter den Ziegelkarren geraten war, beschnupperte sie.

Die Leiche wurde mit leeren Zementsäcken zugedeckt und auf einem Stoßwägelchen von Maurergesellen in blauen Kitteln nachhause gefahren. Gabriel wankte hinterdrein. Er meinte, seine Glieder seien ebenso zerschlagen wie die seiner Mutter. Großjohann schritt neben ihm, Eis in den Knochen. Auf den Baustellen der ganzen Nibelungenstraße machte man Schicht. Hunderte von Maurern und Handlangern folgten kalkbespritzt dem Wägelchen, hinter ihnen schritten die Bauherren, die Unternehmer und die Makler. Nie hatte sich ein Leichenzug schneller gebildet, selten waren die Leidtragenden bereitwilliger gefolgt. Ein Bauherr sagte: »Der Mann hat diese Frau gar nicht verdient. Die war unter dem Fingernagel mehr als der ganze Kerl.« Und ein Unternehmer meinte: »Wenn ich eine solche Frau gehabt hätte, gehörte mir heute die halbe Stadt.« Der Letzte im Zuge war zufällig der Kassenbote mit dem Hute, der röhrenförmig doch kein Zylinder war. Er sagte zu sich: »Mit den Wechseln zwar nicht immer ganz pünktlich, aber doch schade!«

Am folgenden Tage wurde Franziska Großjohann unter dem Zulauf der halben Stadt begraben. 384 Zahlreiche Arme und Gebrechliche, Männchen und Möhnen, tauchten hinter ihrem Sarge auf, und es wurde offenbar, wievielen Leuten sie wohlgetan hatte. Auch der Oberste Bürgermeister fehlte nicht, und der Bankherr Hagelstange mit seinen Söhnen war da. Hermann Großjohann aber fehlte. Er hatte stumm im Totenhause gesessen, während die Söhne alles bereiteten, starr und vereist. Er hatte sich zum Begräbnisse aufmachen wollen, aber seine Glieder hatten nicht gehorcht. So war er im Ofenwinkel vergessen worden.

Philipp Emanuel Großjohann hielt trocknen Auges am Grabe eine wohlvorbereitete Rede, in der er mit leiser Andeutung des Hirtenabenteuers die Wolfstöterin feierte, die ihr Leben lang mit dem Wolfe Weltsinn gerungen habe. Schließlich sei sie durch die rohe Kraft eines mächtigen Tieres gefallen. Nach ihm ergriff unerwartet der Oberste Bürgermeister das Wort und führte aus: Die Stadt begrabe eine Frau, von der niemand geredet und die jedermann gekannt habe. Unerschütterlich und unbestechlich sei sie gewesen.

Alle Zuhörer waren einverstanden, nur Philipp, mit seinem Weihwedel am Grabe stehend, hatte das eine oder andere auszusetzen; er behielt es jedoch für sich.

Die beste Grabrede aber hielt Eulenspiegel, der wieder einmal strolchend in der Stadt war und gestern und heute die Leichenzüge gesehen hatte. Er sagte zu sich – und nicht ein Mensch hörte es: »Muß das eine unbändige Frau gewesen sein, die man zweimal zu Grabe tragen muß, um sie tot zu kriegen!« 385

 


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