Josef Ponten
Der babylonische Turm
Josef Ponten

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Drittes Kapitel

Mädchenfreundschaft

Brigitta machte sich zum Ausgehen bereit. Sie zog ein blaues knappes Tuchkleid an und setzte einen kleinen weißen Strohhut auf. »Wohin gehst du?« frug die Mutter. – »Sie wissen es«, sagte Brigitta und ging. Die Mutter dachte: »Ein störrisches Mädchen! Ich hätte ja fragen können: Gehst du wieder zu Endenichs? Oder vielleicht: Gehst du wieder zu Endenichs, Kind? Aber es war genug.« Brigitta dachte: »So hart fährt sie mich an. Ich hätte ja antworten können: Wie gewöhnlich, zu Endenichs, Mutter. Aber es war genug.«

Im Hofe zwischen Vorder- und Hinterhaus mußte sie warten, denn ein großer Leiterwagen mit Baumstämmen wurde abgeladen. Laut warnten die Merkrufe der Arbeiter, die Pferde scharrten auf dem Pflaster, Onkel Franz Xaver stand zwischen den Arbeitern und verzeichnete in einem Buche die Stämme. Der Vater stand unter dem Torweg, die Hände auf dem Rücken und beobachtete Zu- und Abfahren der Wagen. Er frug: »Wohin gehst du?« Sie antwortete: »Zu Endenichs.« – »Könnte sie nicht ein Wort mehr an die Antwort wenden?« dachte der Vater. – 113 »Warum mußte er so streng fragen?« dachte Brigitta.

Sie kam zu Endenichs. »Wie schön es bei euch ist!« rief Brigitta, »mir geht immer das Herz auf, wenn ich die Blumen mir entgegenlachen sehe. Bei uns ist es so garstig, und der Werkhof ist so laut.« – »Ich verstehe nicht, wie dein Vater, ein so reicher Mann, so schlecht wohnen kann«, meinte Endenich; »Großjohann ist doch sonst so weltmännisch.« – »Der Vater spricht davon, daß er uns eine Villa bauen will, das heißt, ich habe gehört, wie er es jemandem sagte, der uns besuchte. Er will uns eine Villa bauen draußen vor dem Walde, deren Terrassen und Gärten mit Standbildern, Springbrunnen, Wasserfällen und Wasserspielen, mit Zypressenhainen und Kastanienbüschen, mit Laubengängen und Labyrinthen, mit Obstpflanzung und Weinberg sich bis zum Flusse hinabziehen sollen.« – »Wenn es für die Villa nur nicht zu spät wird«, sagte Herr Endenich; »ich will lieber heute mit meiner Familie ein stilles Haus mit Blumengarten bewohnen als später, wenn wir alle tot sind, eine Villa, deren Terrassen und Gärten sich bis an den Fluß hinabziehen.«

»Willst du gehen, Brigitta?« frug Frau Endenich. – »Ja, Tante Berta.« – »Ich fürchte nämlich, es wird zu spät,« fuhr Frau Endenich fort, »und die Herrschaften sind ausgefahren. Der Treuhänder, der dem Herrn Merlin seine Güter verwaltet, hat geschrieben, wir sollen nach Anweisung der Herrschaft das Geld nicht mehr in seinem Geschäftshause, sondern in der Herrschaftswohnung zahlen.« – »Ah!« sagte Brigitta. – »Du kennst das weiße Haus am 114 Seilergraben?« frug Frau Endenich. – »Wer sollte das nicht kennen? Das schönste Haus der Stadt!« rief Brigitta. – »Also geh, Brigitta. Und Dank, daß du mir soviele Wege abnimmst.«

 

Brigitta bewegte, sehr gespannt, am weißen Hause den Glockenzug, der eine schmiedeeiserne Rose war. Sie mußte lange warten. »Die scheinen es nicht eilig zu haben, die Leute von der Straße hereinzulassen«, dachte sie. Sie sah derweilen das Tor an. Es war ein dunkelbraunes Tor aus schweren Eichenbohlen, das wohl selten geöffnet wurde, denn Grashalme sproßten ungeknickt unten vor dem Stoßbrette in der Ritze des Pflasters. Oben war die Füllung geschnitzt, und unter dem geschwungenen Ziergiebel, eingefaßt von reichen Schnörkeln in Stein, hing ein adliges Wappen mit einer Freiherrnkrone. Es zeigte einen über dem Meere absteigenden Stern. Jetzt wurden im Hofe gemächliche Schritte laut, und in den Bohlen tat sich das Schlupfpförtchen auf. Ein alter Mann mit weißem Barte stand dahinter. »Nun, mein Töchterchen, was wünschest du? Du bist wohl Fräulein Großjohann, mein Töchterchen, wie? So! Dann nur geschwind herein. Geh nur hinten geradezu, das Fräulein erwartet dich.« – »Das Fräulein erwartet dich?« frug sich Brigitta; »wieso das Fräulein?«

Der Alte stieg rechts ein paar Stufen hinauf in einen kleinen Bau. Eine weiße Tür mit vielen Rauten stand offen, die Rautenfelder reichten fast bis auf den Boden. Der Alte setzte sich auf einen Stuhl in der weißen Tür und sah mit großem Wohlgefallen dem Mädchen nach, wie es den Hof hinaufschritt. 115 »Was für ein Haus muß das sein,« dachte Brigitta, »in dem der Türsteher aussieht wie ein alter Graf und spricht wie ein Prälat!« Sie dachte es sozusagen halblaut, flüsternd, denn der Friede und Glanz dieses Hofes bedrückten sie fast. Doch schritt sie wacker zu. Der Hof war länglich. »Zu was mögen wohl die kleinen Bauten und Häuschen gedient haben?« dachte Brigitta. Jetzt standen Pflanzen und Topfbäume hinter den vielen Scheiben der weißen Türen, zu denen geschwungene Stufen hinaufführten. »Wenn das die Räume für die Pflanzen sind, wie müssen dann die für die Menschen sein?« Steinerne Vasen standen auf den Treppenwangen, in den erdbraunen Töpfen blühten rote Geranien. Eine langhaarige schwarze Katze mit bernsteingelben Augen sonnte sich unbeweglich auf einem Vasenfuße. Der Ehrenhof verengte sich, die Flügelbauten wurden größer und höher, bis zuletzt eine breite Hausmasse den Hof schloß. Eine doppelläufige Treppe führte auf drei weiße Türen zu, deren Glasfüllungen bis auf den Boden reichten. Schwalben, die ihre Nester unter den Gesimsen hatten, schossen durch den Hof. Zwei Windspiele lagen auf der untersten Treppenstufe in der Sonne. Sie hoben, als Brigitta herankam, den Kopf von den Vorderpfoten auf, spitzten die Ohren und bewegten langsam ihre Fahnen. In der Nische unter der Plattform der Freitreppe floß aus einem Mosaik ein Brünnchen.

Als die Glocke geklungen hatte, war im Flügel rechter Hand Traudchen aufgesprungen. Sie schob mit ihren langen Fingern den Zipfel des Musselinvorhanges ein wenig beiseite und äugte durch die kleinen Rauten neugierig hinaus. Dann überflog sie 116 mit erregten Blicken das Zimmer und lief hierher und dorthin, einen Sessel zu verschieben oder ein Kissen zu rücken. Sie trug einen grünseidenen Kimono mit großen blauen Chrysanthemen, einem schwarzseidenen Schulterkragen und einer goldenen Gürtelschnur. Auf dem schwarzen Kragen lag eine mattgelbe Bernsteinkette, die Perlen milchig gewölkt. Jetzt sah sie Fräulein Großjohann schwanken, ob sie die Freitreppe hinaufsteigen oder auf eine der Türen in den Flügeln zuschreiten solle. Das Fräulein, das denken mochte, daß das wunderbare Haus verwunschen oder verschlafen sei, drehte sich nach dem Türsteher zurück. In diesem Augenblicke stand ihr Profil vor der weißen Türe des gegenüberliegenden Flügels: die Nase war ein wenig gebogen, das Kinn sprang fest heraus, die Sonne streifte den Rand des Strohhutes und ließ krause Haarlöckchen wie Goldfiligran aufglühen; das Auge aber schoß gleichsam einen Blick wie einen goldenen Pfeil nach dem Torhäuschen, von dessen Treppe der Türsteher sich ins Innere zurückgezogen haben mußte.

Als Traudchen Fräulein Großjohann so stehen sah, griff sie unwillkürlich schnell in einen braunen Metallkasten aus Chinabronze. Die Spitzen ihrer Finger wühlten darin herum. Jetzt streifte sie schnell einen Brillantring über den Zeigefinger der rechten Hand und schlang eine goldene Armkette zweimal um das Handgelenk. Dann sprang sie zur Tür.

Als Brigitta stehenblieb, wurden die Hunde unruhig. Sie wußten, daß Bettler und Unbefugte einen unsichern, Berechtigte einen sichern Gang haben. Eben wollten sie anschlagen, als Traudchen auf die Treppenstufe heraustrat und leise rief: »Kastor! Pollux!«

117 Brigitta drehte sich ihr zu.

Die Mädchen sahen sich stumm an. Traudchen hatte Brigitta auf dem obersten Treppentritte erwarten wollen, aber sie flog die Stufen hinab. Sie hatte Brigitta die Hand darreichen wollen; als sie aber vor ihr stand, meinte sie es dieser überlassen zu müssen. Die aber gab die Hand nicht. Jetzt sagte Traudchen schnell: »Guten Tag, Fräulein Großjohann!« – »Sind Sie Fräulein Merlin?«

»Das bin ich. Willkommen. Bemühen Sie sich nur bitte zu mir,« sagte Traudchen fast atemlos, während sie die Stufen hinaufsprang, »mein Vater schläft dort in seinem Flügel.« Jetzt mußte Traudchen aus dem weiten Ärmel ihres Gewandes ein Spitzentuch hervorziehen, um Schweißtropfen aufzutrocknen, die auf ihrer weißen Stirn perlten. Während Brigitta langsam die Stufen heranstieg, gelang es Traudchen, sich zusammenzunehmen und lächelnd zu sagen: »Der Nachmittagsschlaf, behauptet mein Vater, ist das Geheimnis aller Kultur . . . nämlich . . .« – Brigitta sagte: »Ich komme von Herrn Endenich mit den Zinsen für das Kapital, das Herr Endenich von Ihnen . . .« – »Oh, das eilt nicht! Später! Geben Sie es nur dem Türsteher ab! Wollen Sie mir ein Plauderstündchen gönnen? Das heißt, wenn Sie nicht eilig sind . . . bitte!«

Brigitta nickte. Dann folgte sie Traudchen durch die Tür, deren Flügel Traudchen geöffnet hielt. Brigitta setzte sich in den geblümten Sessel mit den zierlich geschwungenen Füßen und sah erwartungsvoll das Fräulein vom Hause an. Diese konnte den festen Blick nicht aushalten, erhob sich aus ihrem Sessel, machte sich am Teegeschirr zu schaffen, wußte, daß 118 sie auf Fräulein Großjohann einen schlechten Eindruck machte, und ärgerte sich über sich selbst. Schließlich kam sie doch in ihrem Sessel zur Ruhe.

Brigitta sah sie noch immer an. Das war also Gabriels . . . Nein! Sie wußte nichts! Sie wollte nichts wissen! Sie wollte nicht erfahren, was man ihr nicht sagte! Sie sah Fräulein Merlin an, denn sie erwartete, daß diese reden werde. Dann ließ sie ihre Blicke durch den Raum gehen. Es war eine trauliche Stube. Wie traulich! An der Decke hing ein kleiner venezianischer weißer Leuchter mit Glasperlenschnüren. Blaue Kerzen standen darauf, und blaue Kerzen spiegelten sich in blanken Messingplatten mit gestanzten Rändern an der Wand. Diese war mit verblichener grauer Seide bespannt, in der blaßrote Blumen eingewebt waren. Zwei Ecken des Zimmers waren abgeschrägt durch dreieckige hohe zierliche Schränkchen mit gebauchten Türen und seinem Stabwerk im Glase; hinter den Rauten standen Porzellanfigürchen vor alten blauen Tellern. In der Mitte der Wand, in einem hohen Eichenkasten, tickte die Uhr schwer und dunkel. Die Musselinvorhänge vor der offenen Türe schwankten im leichten Sommerhauche hin und her, die Sonne lag draußen im Hofe, und man hörte das Rieseln des Brunnens und das leise Schnarchen der Hunde.

Traudchen folgte den Blicken des Mädchens, und plötzlich schnappten ihrer beider Augen fest aufeinander ein. Brigitta erschrak und errötete ein wenig, als sähe sie sich auf einer Unschicklichkeit ertappt.

Brigittas Gestörtsein gab Traudchen alle Sicherheit wieder. Sie sagte: »Das ist nämlich hier mein Flügel, Vater wohnt im andern, der Mittelbau ist 119 gemeinsam.« Dann begann sie von der Kunstausstellung zu sprechen, die Brigitta nicht kannte, von der neuen Kleiderauslage beim Modeschneider, die Brigitta nur im Vorübergehen gesehen hatte. Sie schenkte Tee ein und bot auf einer außen schwarzen innen roten Lackschüssel Gebäck an. Brigitta studierte das etwas längliche Gesicht mit der weißen vorstehenden Stirn über den dunkeln Augen und dem schwarzen, in einem Wulste über der Stirn liegenden Haar, in dem hinten zwei lange silberne Nadeln staken. Traudchen sah das Kleid aus festem Tuche an, das einen herrlichen Körper verhüllen mußte. Sie dachte: »Sie verachtet mich«, und verwünschte den Schmuck, den sie im letzten Augenblick über Finger und Handgelenk gestreift hatte, aber sie fand keine Gelegenheit, ihn unauffällig in den Kasten zurückzulegen. Die Damen verabredeten, daß Brigitta jede Woche am gleichen Tag zur selben Stunde wiederkommen solle. Brigitta hatte kaum gesprochen. Von Gabriel sprachen die Mädchen nicht.

Als Brigitta gegangen war, warf sich Traudchen auf das geblümte Sofa, zerrte Ring und Kette von den Gelenken, warf sie in die Stube und fing an, heftig zu weinen. Sie weinte wohl eine halbe Stunde lang darüber, daß Brigitta offenbar unglücklich war. Sie liebte Brigitta, sie hielt sie für eine Heldin und betete sie an. Sie dachte: »Wenn ich ein Mann wäre, wie würde ich dieses Mädchen lieben!«

Als Brigitta heimging, dachte sie: »Wie schön ist dieses Mädchen! Und wie klug! Wie gebildet und doch natürlich! Und wie fein gekleidet!« Sie kam den garstigen Stuben ihrer elterlichen Wohnung näher, in denen es ihr mit keiner Mühe gelang, den 120 Küchengeruch aus den Wohnzimmern fernzuhalten. Da empfand sie den Zauber des Wundergehäuses Merlin, sie freute sich, daß es wenn nicht ihr doch einer andern vergönnt war, den holden Kreis zu beleben und zu hüten. »Wäre es denn besser, dieses Haus bestände gar nicht,« frug sie sich selbst im Zorne, »oder es wäre leer, seine Fenster und Türen verschlossen, die Uhr verrostet und die Spinnen zögen in den Zimmern ihre Netze? Wie froh bin ich, daß Fräulein Merlin glücklich ist!« Als sie das gedacht hatte, fühlte sie selbst sich glücklich.

Sie ging nun alle Wochen am Donnerstag nachmittag um die Teestunde zu Fräulein Merlin. Brigitta saß in ihrem Sessel und hörte Traudchen zu. Es gelang Traudchen nicht, zu einer andern Anrede als »Fräulein Großjohann« zu kommen. Wenn sie »Brigitta« oder »Du« oder »Freundin« vorgeschlagen hätte, so würde Brigitta es sicher nicht zurückgewiesen haben, aber Traudchen wagte den Vorschlag nicht, und Brigitta schien eine Änderung der äußeren Formen nicht für nötig zu halten. Sie saß still und glücklich in ihrem Sessel und hörte zu. Die Mädchen sprachen nie von Gabriel.

Eines Nachmittags – die Mädchenfreundschaft war schon einen Monat alt – als Brigitta eben weggegangen war, kam Herr Merlin in brauner loser Samtjoppe aus seinem Flügel quer über den Hof und die Stufen heraufgeschritten. Er setzte sich in den Sessel, frug seine Tochter, ob er eine Tasse Tee haben könne, und sagte, als er sie hatte: »Fräulein Großjohann ging ja eben von dir weg.« – »Ja, Vater«, sagte überrascht Traudchen. – »Sie besucht dich oft?« – »Ja, Vater. Woher weißt du das?« – »Ich sehe 121 sie ja über den Hof gehen«, sagte der Vater. – »Ich denke, du schläfst um diese Zeit?« – »Wenn schöne Damen über den Hof gehen und man selbst eine schöne Tochter hat . . . ?« lächelte der Vater. – »Woher weißt du denn aber, daß es Fräulein Großjohann ist?« frug die Tochter. – »Ich höre es an ihrem Tritt im Hofe. Ihr Tritt heißt: Ein Großjohann kommt!«

»– Vater, du willst nicht gestatten, daß ich mit Fräulein Großjohann verkehre.« – »Nicht gestatten ist wohl zu stark gesagt, mein Töchterchen, du bist erwachsen – darf ich übrigens noch eine Tasse Tee haben? – nicht gestatten ist wohl zu stark gesagt . . .« – »Also du wünschest es nicht?« – »Das vielleicht, gewiß, das heißt . . .«

»Hast du etwas wider Fräulein Großjohann? Wo du sie nicht kennst!« rief Traudchen unwillkürlich laut; »weißt du auch, was für ein Mensch das ist?« – »Das eben ist es, Kind,« sagte Herr Merlin leise, indem er sich im Sessel vorneigte, »die Großjohanns passen nicht zu uns – das heißt, nein, das wollte ich nicht sagen, sei ruhig, von Gabriel spreche ich ja nicht. Gabriel ist klug und kann die Schäden vielleicht durch die Klugheit heilen. Großjohanns sind ungewöhnlich tüchtige Menschen, viel zu tüchtig für die gesellschaftliche Lage, in der sie sich befinden. Sie gehörten, wenn diese Welt vernünftig eingerichtet wäre, an die Spitze. Vor denen schämt man sich ja ordentlich, reich zu sein. Es ist mir jedesmal, als müßte ich sie um Verzeihung bitten, daß ich mehr Güter habe als sie. Aber wir können ihnen doch aus Vernunft nichts schenken, und sie können aus Anstand nichts annehmen! Indem sie unsere 122 guteingerichteten Häuser kennenlernen, verachten sie das ihrige. Wir schaffen also nur Unzufriedene . . .« – »Halt ein, Vater!«

»Beklage dich bei dem, der die Welt gemacht hat, wir müssen sie nehmen, wie sie ist«, sagte Herr Merlin aufstehend; »ich danke dir für den Tee, mein Kind; wenn du ausfahren willst, befiehl's, und ich lasse anspannen.«

»Mir ist nicht nach Ausfahren zumute«, rief Traudchen, das Gesicht mit den Händen bedeckend, zwischen deren Fingern die dicken Tränen quollen. »Wenn ich dich herzensguten Vater nicht kennte, ich würde dich für einen abgefeimten Sofisten halten.« – »Mit dem bloßen rechnerischen Aufteilen des Besitzes«, sagte Herr Merlin, »sind die schwierigen Rätsel des Menschenglückes nicht zu lösen.« – »Aber Vater, trotz deinen schönen Worten, trotz deinen klugen Reden – wenn du mit ihnen nur die Bequemlichkeit decken und dich über Pflichten hinwegtäuschen willst, dann . . . dann verachte ich dich, dann verlasse ich dich und gehe hinaus zu den garstigen Großjohanns!«

Der Vater trat nahe an die Tochter heran und faßte ihre beiden Handgelenke mit seinen großen Händen. »Ganz die Mutter!« sagte er mit strahlenden Augen. »Sieh, Kind, ich schwöre es, wenn ich mit dem bloßen Aufteilen dessen, was ich habe, das Glück der Menschen machen könnte, ich täte es!« – »O Vater!« rief Traudchen, indem sie ihre Arme frei machte und Herrn Merlin um den Nacken legte, »Vater! Vater!«

Der Vater ließ sie gewähren, er streichelte ihr das glatte Haar. Dann sagte er: »Nun hör' auf mit 123 deinen Klagen, so kommen wir nicht zum Ziele. Es ekelt uns schnell der schaurigen Trübsal, heißt es im Homer. Ich will für dich anspannen lassen, mein Kind.«

»Nein, Vater, nicht anspannen! Nicht in der Kutsche fahren! Zufuß gehn, auf nackten Sohlen gehen, auf dem Boden kriechen . . . !« rief Traudchen außer sich. »Du hast mir die Freude am Wagen, am Hause, an meinen Zimmern, an meinen Hunden verdorben.« – »Nicht verderben wollte ich dir die Freude, wenn ich auch, ich gesteh' es, mit Absicht auf die Dinge zu reden kam. Denn du bist nun so alt, daß du die Dankbarkeit lernen mußt. In unserem Staate ist es so, daß einer nur besitzen kann, weil zehn andere entbehren. Bei anderen Völkern ist das Verhältnis noch schlimmer. Ein reicher Mann müßte eigentlich hundert armen auf der Straße die Hand drücken und sagen: ich danke euch, daß ihr mir gestattet, reich zu sein. Du sollst denken, wenn du in deiner Kutsche sitzest und schöne Kleider trägst: es ist eine Vergünstigung, ein unverdientes Glück, daß ich in einer Kutsche sitze und schöne Kleider trage, während fünfzig andere, die nicht weniger sind als ich, zufuß gehen und schlechte Kleider oder gar Lumpen tragen. Du sollst dich darüber freuen, daß du in der Kutsche sitzest und schöne Kleider trägst, dich aufrichtig freuen und von Herzen heiter sein, aber du sollst nicht hochmütig sein. Dein Glück ist eine Gnade, kein Recht. Du sollst mit Freude edlen Wein trinken, während zahllose andere ihren Durst in Wasser löschen, aber du sollst ihn sozusagen auf das Wohl derer trinken, die ihn nicht trinken können. Es gibt auch Leute in schönen Kleidern, welche andere 124 verachten, weil diese keine schönen Kleider tragen. Denen sollte man die schönen Kleider vom Leibe reißen und die Nackten peitschen! Sei dankbar, Kind! Nun genug. Und das mit Fräulein Großjohann überlege dir. Entschuldige, daß ich dir Schmerz bereitete. Auf Wiedersehen zum Abendessen. Gabriel wird auch wohl da sein.«

Herr Merlin ging die Stufen dieses Flügels hinab, querte den Hof, stieg die Treppe seines Flügels hinauf und schritt auf die weiße Türe zu. »Es ist nichts mit dem Gehirn der Weiber,« dachte er, »es ist zu zart für das Denken.« Die weiße Tür schnappte leise hinter ihm ins Schloß.

 

Als Theodor Merlin Traudchen entgegentrat, begegneten sich vor dem Tore Brigitta und Gabriel. Beide wurden glühend rot und wandten sich erst nach verschiedenen Seiten, um die Röte verflammen zu lassen. An dieser Tür sich treffen, das hieß für Gabriel doch, der Schwester, einem Weibe, mit dem man wie mit einem geschlechtslosen Wesen aufwuchs, gestehen, daß er ein Weib liebe, er, der geschlechtslose Bruder! Nein, das war zu beschämend!

Jetzt mußten sie sprechen. »Woher kennst du . . . Fräulein Merlin?« frug Gabriel mit bösem Gesichte. – »Ich kann doch auch in vornehmen Häusern verkehren!« erwiderte Brigitta trotzig. – »Ich kann es mir denken,« sagte Gabriel, »es geht von ihr aus.«

In der Tat ging es von ihr, von Traudchen, aus. Sie hatte ohne Vorwissen des Vaters den Treuhänder veranlaßt, an Herrn Endenich zu schreiben, die Zinsen künftig im Herrschaftshause zu zahlen. Sie hatte gehört, daß Brigitta das Geld zu bringen 125 pflegte. Sie wollte um jeden Preis in das Geheimnis der Familie Großjohann eindringen, das Gabriel vor ihr, aus Scham, zu verhüllen bestrebt war. Was kann eine Braut mehr reizen, als die Schwester des Geliebten kennenzulernen? Sie heuchelte Eifersucht auf diese Schwester. »Deine Schwester liebt dich!« hatte sie gesagt. – »Wie willst du das wissen?« hatte Gabriel gefragt. – »Deine Schwester ist eifersüchtig. Sie will dich uns entziehen.« – »Nicht möglich! Ganz unmöglich!« hatte Gabriel gerufen. – »Dann mach' mich mit ihr bekannt. Ich will sie sehen, sie fragen!« – »Das geht nicht«, hatte Gabriel gesagt, denn er würde es nicht ertragen haben, vor der Geliebten mit der Schwester nicht zärtlich zu sprechen oder vor der Schwester mit der Geliebten zärtlich zu sprechen. So war es gewesen!

Plötzlich frug Brigitta: »Sind wir eigentlich arm oder reich, Gabriel?« Daß sie ihrer Frage »Gabriel« anhängte, tat diesem wohl, und er erwiderte: »Das weiß ich nicht . . . – Brigitta,« hatte er sagen wollen, aber er war doch über die Hinterlist der Mädchen noch zu böse und unterdrückte den Namen – »die Leute sagen, wir sind reich, der Vater sagt, er weiß es selbst nicht, und die Mutter sagt, sie ist froh, wenn sie am Vierteljahrsersten immer rechtzeitig die Zinsen beisammen hat.« – »Haben dir Vater und Mutter das gesagt?« frug erstaunt Brigitta. – »Nein, ich habe es durch List erfahren«, gestand Gabriel.

Als Gabriel von seinem Tun das Wort List gesagt hatte, war es ihm, als habe er keinen rechten Grund mehr, den listigen Mädchen zu zürnen, und er wurde aufgeräumter. »Ich habe der Mutter 126 gesagt, wenn wir so reich sind, wie die Leute sagen, können wir uns auch besser kleiden und überhaupt besser leben. Da sagte sie mir denn unwirsch, was ich wissen wollte. Und dem Vater sagte ich: Meine Schulkameraden sagen: Wenn wir uns beim Schuldirektor über den Lateinlehrer beklagen, dann muß uns der Sohn des großen reichen Großjohann vertreten, das gehört sich so. Das sagte ich und frug: Sind wir nun wirklich reich, Vater?« – »›Vater‹ hat er sicher nicht gesagt«, dachte Brigitta dazwischen. – »Der Vater«, fuhr Gabriel fort, »war geschmeichelt und wurde ein wenig rot, dann sagte er: Das weiß ich selbst nicht . . .« – Der Vater hatte noch, als Dank für die teilnehmende Frage, hinzugefügt: mein Junge, aber das verschwieg Gabriel in diesem Augenblicke. – »Das war gut gemacht,« sagte Brigitta, »aber sind wir denn nun reich oder nicht?« – »Ich habe dem Sohn des Steuerbeamten, weißt du, dessen Name auf den großen Steuerzetteln steht, die Mutter immer hinter den Spiegel steckt, den deutschen Aufsatz geschrieben, wenn er dafür in den Büchern seines Vaters nachsehen will, wieviel Schulden wir haben. Er hat es getan, aber . . . wenn ich gewußt hätte . . .« – »Ist es viel?« frug sie leise.

»Es beweist natürlich nichts, es kann einer eine Million Schulden haben und zwei Millionen besitzen,« sagte Gabriel, »der Schulkamerad sagt, wir haben eine halbe Million Schulden.«

Brigitta erbleichte.

»Das beweist, wie gesagt, natürlich gar nichts,« beeilte sich Gabriel zu erklären, »wir können daneben auch eine halbe Million besitzen, oder mehr. Ja, wir werden es wahrscheinlich. Und Bauschulden sind 127 keine gewöhnlichen Schulden. Das ist ja nur Geld, das mir andere Leute anvertrauen, daß ich damit für sie arbeite. Aber es ist mir doch peinlich, denn der Bengel hat nicht reinen Mund gehalten, als ich ihm den nächsten Aufsatz nicht mehr schreiben wollte, und nun ruft mir die ganze Prima zu: Eine halbe Million.« – »Was mag dem denn gegenüberstehen?« frug zitternd Brigitta.

»Sicher ist nichts, sicher ist nur die Summe der Schulden, sagen wir besser der aufgenommenen Gelder, die Zahl für Zahl vom Notar aufgeschrieben und beglaubigt sind, wie sie auf jedem Grundstück lasten.«

»Wenn man nur etwas Bestimmtes wüßte«, sagte Brigitta nach einer Weile des Grübelns; »man wagt ja kaum noch, zuhause zu essen und um einen Schuhriemen zu bitten. Der Vater muß etwas Bestimmtes wissen, sonst könnte er doch nicht mehr in Ruhe essen und schlafen! Warum sagt er uns nichts? Wir sind doch erwachsen!« – »Er sieht das als unter seiner Würde an«, sagte Gabriel bitter; »dann hält er es vielleicht für ungeschäftlich, und mag damit wohl recht haben. Übrigens meine Schulkameraden wissen auch nicht, was ihre Väter haben und wieviel sie verdienen. Das sagen die Väter niemals. Nur die Beamtensöhne kennen das Einkommen ihrer Väter. Wir haben uns nämlich eine gedruckte Liste verschafft, in der die Beamteneinkommen drinstehen.«

Brigitta ging. Als Gabriel sich zum Tor wandte, fühlte er aufs neue den Zorn über Brigitta und Traudchen in sich aufsteigen. Er beschloß, Traudchen heute nicht zu besuchen. Er ging an den Fluß hinab und ging sich in immer größeren Zorn hinein. Besonders war er zornig auf Brigitta, die ihn des 128 Zusammenseins mit Traudchen beraubt hatte. Wenn er gewußt hätte, wäre er deshalb nicht zornig auf Brigitta gewesen, denn Traudchen lag auf dem geblümten Sofa und weinte, sie würde ihn nicht empfangen haben.

Als Gabriel in den nächsten Tagen sah, daß Brigitta bei Tisch sich nicht satt zu essen wagte, verrauchte langsam sein Zorn, und er flüsterte ihr zu: »Man kann nichts Bestimmtes wissen. Der halben Million Schulden wird auch eine halbe Million Besitz gegenüber stehen. Gewöhnlich beleiht man Häuser bis zum halben Werte. Und Bauschulden sind überhaupt keine gewöhnlichen Schulden. Wenn der Besitz nicht da wäre, würde man uns schon bald zum Bankerott zwingen.«

Der taube Leo

Am Ende des Monates hatte Großjohann die ausgefallenen 10 000 Mark noch nicht zu ersetzen vermocht. So mußte er denn wiederum zu den Leos gehen.

Er hörte zu seiner Freude, daß der junge Leo verreist sei. Der alte Leo, fast blind, ließ sich hereinführen. Er verstand nicht, daß Großjohann um neuen Aufschub bitten kam, ja schien gar nicht mehr zu wissen, daß noch 10 000 Mark Zinsen zu zahlen waren. Er sagte, er freue sich unbändig, daß sein Sohn verreist sei, der wegen zu guten Lebens ein Bad habe aufsuchen müssen, und er freue sich des Leidens seines Sohnes. Er habe die Gelegenheit benutzt, viele auf Großjohann ausgestellte Schuldbriefe zu kaufen und deren größten Teil in seiner Hand zu vereinigen. Weil er ihn liebe! Nun brauche Großjohann 129 von niemandem mehr etwas zu befürchten. Er habe ja schon 200 000 Mark an Hypotheken Großjohanns gehabt, er erinnere sich nicht genau, aber es entspreche ja einer jährlichen Zinssumme von 10 000 Mark . . . »Aha, da fällt mir ein, Sie wollten heute die 10 000 Mark zahlen. Die standen ja noch aus. Haben Sie sie bekommen? Wie? Was? Warum sprechen Sie denn nicht? Wie?« Aber Großjohann sprach immerzu. Er sagte: »Leider . . . die gespannte politische Lage . . . das Geld sei plötzlich teuer wie nie . . . die Bank werde ihm gewiß Kredit geben, aber er sei teuer . . . noch einen Monat Aufschub . . . einen halben! Er bitte!« Der Alte aber hörte gar nichts, schien gänzlich taub und war auch so blind, daß er nicht sah, daß Großjohann die Lippen bewegte. »Wie? Was?« rief Leo, »warum sagen Sie denn nichts? So reden Sie doch! . . . Wie? Paßt Ihnen das nicht, daß ich noch 200 000 aufgekauft habe? . . . Wie? Na! Aber jetzt machen Sie sich keine Sorge. Jetzt können Sie nicht mehr in Verlegenheit kommen. Sie wissen, ich tu' keinem den Hals zu. Keinem von den aufstrebenden Bauleuten. Ja, wenn man einem von den eingesessenen Reichen, den Nichtstuern, den Blutsaugern, an den Kragen könnte, diesen namenlosen Grundstücksbanken oder so einem wie dem Grafen Wetter oder dem Schlemmer Merlin! Ich tu' niemandem den Hals zu, keinem von den aufstrebenden Bauleuten. Also machen Sie sich keine Sorge. Haha, mein Söhnchen! Du wirst Augen machen! . . . Wie? Was? Was wollten Sie sagen? Mir war doch, Sie sagten etwas? . . . Wie? – Nicht? Dann nicht! Ist es Ihnen recht? Es könnte Ihnen schon recht sein! Und keine Sorge wegen der Zinsen. Wenn Sie zahlen können, zahlen 130 Sie, wenn Sie nicht zahlen können, zahlen Sie nicht. Verstanden? . . . Wie? Wollten Sie was sagen?«

Großjohann dankte mit glühenden Worten, aber kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. »Wie abständig ist der Alte in einem Monat geworden! Und kann sich kaum auf den Beinen halten! Der Zucker greift um sich!« dachte er. Und neuer Schweiß brach Großjohann aus.

»Ja, nun klingeln Sie mal bitte meinem Schreiber, ich . . . ich sehe heute nicht gut. Neben der Tür ist die Klingel . . . Wie? Haben Sie sie? Sagten Sie was? – Na, da ist der Schreiber. Also keine Sorge, Herr Großjohann, es kann Ihnen nichts mehr geschehen. Die Papiere liegen bei mir gut.«

Der alte Leo dachte, während er hinausgeführt wurde: »Er hätte doch wenigstens Danke sagen können. Er hat mir ja warm die Hand gedrückt, aber er hätte doch wenigstens Danke sagen können –!«

Der Büßer

Fränzchen – Franz Antonius Großjohann (Antonius von Alexandria!) – lebte bei Onkel Franz ein herrliches Leben. Zehn Jahre war er nun in der von hohen Pappelbäumen bestandenen Grünstraße an der Landesgrenze. Napoleon hatte sie als Heerstraße gebaut und gepflastert. Zwischen ihren Steinen sproßte das Gras. Am Tage war sie von Zöllnern und nachts von Schmugglern still und abenteuerlich begangen. So sehr liebte Franz Xaver diese Straße, diese Landschaft und sein Häuschen darin, daß er nicht wie sein Bruder Hermann in die Stadt zog, obgleich er nur alle Wochen einmal, von 131 Samstag abend bis Montag früh, daheim verweilen konnte. In dem Hause Franz Xavers, in dem Aufregungen unbekannt waren und das auch die Sorge verlassen hatte, seitdem Franz Xaver dem grünen Meister diente – denn Franz Xaver hatte noch keinen dringenden Auftrag bekommen und war noch immer leicht abkömmlich – befiel die Kränke immer seltener Fränzchen, und es schien, als wäre er geheilt. Dabei fastete Fränzchen, fastete streng, aß gar kein Fleisch mehr und suchte sich soviel wie möglich nur von Milch und Honig zu nähren. Er tat nichts als seiner Krankheit und ihrer Heilung leben. Er stand jede Mitternacht auf, trat ans Fenster, betrachtete die Sterne und dachte darüber nach, wie groß Gott sei. Er verfertigte sich eine Kniebank zur Selbstpeinigung. Zwanzig Nägel schlug er so von unten her durch ein Brett, daß die Spitzen um Millimeter hervorragten. Auf diesen Spitzen betete er mit entblößten Knien seine Morgen- und Abendgebete. In die Kirche aber ging Fränzchen wenig, nicht mehr als nötig war, und es schien Onkel und Tante, als versuche er den Glauben zu erwecken, nicht fromm zu sein. »Er weiß nicht, daß wir wissen, wie fromm er ist«, dachte der Onkel. »Wie edel ist Fränzchen! Der stellt sich nicht hin in den Tempel, um zu beten!« In schlaflosen Sommernächten aber, wenn sie der Nachtkühle wegen die Fenster offen ließen, hörten Onkel und Tante oft aus dem offenen Kammerfenster über sich das dumpfe Fallen schwerer Geißelhiebe, und Tante Lambertina fand Blutflecken im Hemde Fränzchens. Es gelang Franz Xaver nicht, die Geißel zu finden, so eifrig er danach suchte, denn Fränzchen trug sie stets unter dem Hemd um den Leib 132 gebunden. In solchen Nächten, wenn sie brünstiges Wimmern und zuweilen einen unterdrückten Schmerzensschrei hörten, sagten Franz Xaver und Lambertina erschreckt: »Das ist doch nicht das, was wir für das rechte halten. Das scheint uns denn doch zu weit gegangen. Wo Gott eine Kirche hat, da hat der Teufel noch eine Kapelle. Das ist ein verirrter Wille. Er ist einer von den Großjohanns Franziskas! Wir wollen ihn seinem Vater zurückschicken.«

Als Franz Xaver von dieser Absicht zu Fränzchen sprach, sagte dieser, immer fromme Sprüche im Munde führend, auch diesmal mit den Worten des Petrus: »Ich kenne diesen Menschen nicht!« Franz Xaver und Lambertina erschraken so, daß sie nicht wagten, Fränzchen zu seinen Eltern zurückzuschicken, denn sie fürchteten, er könne dort irgendeine Untat begehen.

Fränzchen strich einsam in dem grünen Graslande umher. Er sprach, um sich abzutöten, mit niemandem, desto mehr aber mit sich selbst. Er sprach laut mit sich selbst, wie schlecht die Welt sei, wie sie in eitlem Streben befangen sei – besonders der Hermann Großjohann! – und das Wort: Was nützt es dem Menschen! nicht achte, wie leicht es doch sei, gut zu sein, und welch ein edler Mensch er sei. Wenn er dies dachte, wurden ihm die Augen naß.

Onkel Winfried

Eines Tages im Herbst stieg vom Gebirge Onkel Winfried, der Bruder Frau Franziskas, ins Niederland herab, um das in den Bergen vielgerühmte Glück seiner Schwester in der Stadt da unten zu sehen. 133 Seine gelben Herden gingen auf den roten Berghalden, und er selbst war ein Menschenleben lang schweigsam hinter den Schafen hergegangen. Die Westwinde sausten um Hirt und Herde, und Winfried mußte laut tönen, wenn er gegen den Wind seinen Hund rief. »Tönen« war ein Wort aus seiner Sprache und bedeutete: sprechen. »Nun tön' mir, Franziska, wie es dir geht«, sagte er im Toreingang, und er tönte so laut, daß alle Kinder über den Lärm des Bauhofes hinweg aufhorchten. Sie strömten herbei – da stand der Onkel. Von Gestalt klein und windverweht wie ein Gebirgsbaum. Seine Haut war rotbraun, der Bart, viereckig gestutzt, war strohgelb und schien von der Sonne angesengt zu sein, seine Augen aber waren vom reinsten Frühlingshimmelblau. Sein Anzug war dunkel, aus festem Soldatentuche und sehr altmodisch.

»Du siehst krank aus, Franziska,« tönte Winfried, »das Stadtleben bekommt dir nicht.« – »O nein, ich bin ganz gesund,« sagte Franziska, »nur habe ich soviele Sorgen.« – »Ihr seid ja auch so reich! Das Geld bringt Sorgen!« tönte Winfried; »ein Hirt begegnete mir kürzlich in den Bergen mit einem Trieb Böcke, und während wir die Böcke meine Schafe decken ließen, tönte er mir: Ich bin in der Stadt gewesen, die dein Schwager gebaut hat. Da dachte ich mir, ich will doch auch einmal in die Stadt meiner Schwester gehen.« – »Das ist nicht so, Winfried,« sagte Franziska, »wir sind gar nicht reich.« – »Oh, ich will kein Geld leihen,« tönte Winfried, »ich habe genug.«

»Da sind meine Kinder«, sagte Franziska, die Treppe hinaufweisend, auf deren Absatz die Kinder 134 erschienen waren. Gabriel kam zuerst heran, weil doch der Bruder der Mutter gekommen war, und begrüßte ihn. Philipp, der im Hause eines Bankdirektors verkehrte, entfernte sich, ohne den Hirten zu begrüßen. Die Zwillinge Kastor und Pollux dachten nur einer durch den andern, sahen sich an und konnten nicht ins reine darüber kommen, wie sich gegen den Onkel zu verhalten sei. Am zutraulichsten war der kleine Herkules. Er ritt auf des Onkels Knien und riß an seinem gelben Barte. Winfried ließ sich von Franziska immer wieder die Geschichte von der erwürgten Ratte erzählen und lachte schallend dazu. Franziska saß neben dem Bruder, und wie sie so mit ihm sprach, sich nach einem Leitbock erkundigte, ob der alte Jäger noch lebe, ob die Windmühle noch arbeite, und ob noch immer die Bäume auf der Schneise abwärts geschleift würden, wo damals der Vater zwischen zwei Stämmen zerquetscht worden war, da wurde ihre Stimme laut und lauter, und schließlich tönte sie wie Winfried. »Du hast ganz rote Wangen bekommen«, tönte lachend Winfried. Gabriel sah staunend die Mutter sich nach Onkel Winfried hin verändern.

Als man zu Tisch ging, frug Winfried: »Wo ist denn der Schwager?« – »Der kommt erst später zum Essen, wenn wir fertig sind, der kann nicht von den Bauten weg«, sagte Franziska. – »So? Das ist aber merkwürdig,« meinte Onkel Winfried, »die Maurer auf dem Bau essen doch wohl auch zu Mittag. Ich esse und schlafe, wenn meine Hunde essen und schlafen.«

Hermann kam und begrüßte lebhaft den Schwager. Dann führte er ihn durch die Stadt, »durch deine 135 Stadt«, wie Winfried tönend meinte. Winfried entzückte sich an dem liebenswürdigen Wesen des Schwagers und tönte auf den Straßen noch lauter, sodaß die Leute stehenblieben. Das focht Hermann Großjohann aber nicht an. Schließlich kamen sie in die Großjohannstraße. Da wuchs Winfried die Achtung vor dem Schwager ins Unermeßliche, denn in seinen Bergen hieß eine große gepflasterte Landstraße »die Napoleonsbahn«.

Zuhause tönte er zu Franziska: »Du kannst wohl glücklich sein! Nun, es kann nicht allen gleich gut gehen. Ich freue mich, daß es meiner Schwester gut geht, und nun muß ich wieder in die Berge hinauf.«

Als Onkel Winfried fort war, blieb im Zimmer noch lange ein Geruch von Harz und Haide zurück. Franziska ging umher, ihn zu riechen. Das leise Rot auf ihren Wangen hielt ein paar Tage an, bis es allmählich verblich.

Die Trinker

»Glück haben!« sagte Hermann Großjohann zu Albert Endenich, den er zu einem Glase Wein in der »Kalk und Stein« getauften Schenke der Baustraße beredet hatte;»du magst wollen und streben und die ganze Welt bezwingen, schließlich fragt sich's doch nur, ob es will, und es lächelt zu deinem Versuch, es zu zwingen. In der Hand des Glückes fühlt man sich wie in der Gottes. Man muß machtlos vertrauen. Seht her, Endenich, mein linkes Ohrläppchen, seht Ihr, daß dem die Spitze fehlt? Ihr seht es kaum. Ein Schuß im Kriege. Eine Handbreit weiter, und alles, alles kam anders. Da schauert einen.« 136 Endenich nickte lebhaft. »Das Glück ist geradezu etwas Religiöses«, sagte Hermann Großjohann vor sich hin. Endenich aber meinte, daß Großjohann sich doch wahrlich nicht zu beklagen habe. Ihm habe das Glück doch Tür und Fenster eingelaufen. Großjohann aber sagte: »Das Glück geht in einen hohlen Zahn, das Unglück in keinen hohlen Baum.« Jetzt erhob sich Endenich, denn es verlangte ihn gewaltig nach seiner Be–be–berta.

»Ich muß auch das Geschäft ändern«, dachte sich Großjohann allein geblieben aus; »ich darf nicht immer auf eigene Rechnung bauen, es ist zu gefährlich. Ich muß sorgen, im Auftrag und auf Gefahr anderer zu bauen.« Er machte sich von nun an häufig einen Weg durch die neuen Bauviertel und knüpfte mit den vor ihren Neubauten stehenden Bauleuten Gespräche an. Die kleinen Bauunternehmer und Handwerksmeister fühlten sich sehr geehrt, daß der »große Johann« bei ihnen stehenblieb.

Da war ein Schreinermeister Bertholet, vor kurzem noch Geselle. Den hatte das Glück Großjohanns nicht schlafen lassen. Nun hatte er eine kleine Erbschaft gemacht, und die Taler in der Tasche lief er seit drei Tagen umher, im Herzen die jubelnde Frage: was kostet das Rathaus? Was soll ich tun? Soll ich bauen? Soll ich nicht? Soll ich an den Knöpfen abzählen, was ich tun soll? frug sich Bertholet, schon mehr als halb entschlossen; herrje, was soll ich tun? Und er sprach zu sich: »Man rate mir; aber man rate mir nicht ab.«

Ei, da kam ja Großjohann selbst die Straße herab! »Wenn er mich nur flüchtig ansieht – nein, wie sollte der große Johann einen Bertholet ansehen? – 137 wenn er rechts an mir vorbeigeht, dann ist's entschieden! Dann baue ich!« Aber der große Johann ging weder rechts noch links vorbei, sondern blieb stehen, und er sah Bertholet nicht nur flüchtig an, sondern er zog den Hut und sagte: »Guten Tag, Herr Bertholet. Ich habe gehört, Sie tragen sich mit Baugedanken. Recht so. Ich schlage Ihnen vor, ich mache für Sie die Maurerarbeiten.«

Es war Herbst, ein kalter Wind kehrte die Baustraße und trieb Wolken körnigen Ziegelstaubes vor sich her. Plötzlich fing es an zu regnen. »Wir wollen in die Schenke gehen und das Weitere besprechen«, schlug Großjohann vor.

 

»Sieh da!« rief Großjohann aus, als er wieder auf der Streife nach baulustigen Unternehmern war, »ist das nicht der Käferling?« – »Alle Wetter, Herr Großjohann! Nein, das ist mir aber eine Freude! So ist es!«

Es war in der Tat Käferling, der klügste jener Maurer, die Großjohann vorzeiten das freihändige Wölben gelehrt hatte. Käferling hatte sich auf sich selbst gestellt, so wie Großjohann es vorausgesagt hatte: Wenn ihr das Wölben versteht, lauft ihr mir davon.

»Sind Sie mir böse, Herr Großjohann, daß ich damals so schnell davongelaufen bin? Aber wie sollten Sie? Die von Ihnen wiedererfundene Kunst des freihändigen Wölbens hat sich ja doch über alle Bauplätze in Stadt und Land verbreitet. Allenthalben übt man sie.« – »Wirklich wertvolle Erfindungen,« sagte Großjohann, »lassen sich gar nicht geheimhalten und 138 schützen, sie gehen sofort in das allgemeine Können über. Nur kleinliche Geister hüten ängstlich ihr ertüfteltes Gemächt.« – »Das ist recht! So ist es!« rief erfreut Käferling;»ich hatte tatsächlich Angst, Sie könnten mir böse sein. Aber da habe ich Herrn Großjohann nicht gekannt! Nur kleinliche Geister hüten ängstlich ihr ertüfteltes Gemächt, großartige geben ihre Erfindungen gern hin und sind nicht bange, daß ihr Erfindername vergessen werden könnte. So ist es!«

»Sie sehen fein aus, Käferling«, sagte Großjohann, an dem gutgekleideten Manne heruntersehend. – »Ja, es ist mir auch Gott sei Dank! unberufen! gut gegangen«, meinte Käferling; »bisher, unberufen, denn Bauen ist Lotteriespiel. So ist es!« – »Nein, Käferling, Sie sind der Klügere gewesen. Sie haben nie auf eigene Rechnung gebaut. Ich höre, Sie sind der Baumeister von Dorfkirchen geworden. Allüberall erstehen die Käferlingschen Kirchen. Sie verkaufen Ihre Arbeit, Ihre Erfindung und Ihren Geist wie ein Arbeiter, und die ganze Gefahr fällt auf die Stifter und Auftraggeber. Das ist recht. Das hätte ich auch tun sollen. Warum ich das nicht getan habe? Ich habe doch an den Domen gelernt, ich hätte doch wenigstens mit Pfarrkirchen enden können!« – »Aber damals konnten Sie vielleicht noch nicht freihändig wölben?« meinte Käferling. – »Das ist es, Käferling, das hatte ich damals noch nicht versucht.« – »Und darauf beruht das Ganze, Herr Großjohann, so ist es! Ohne das wär's nicht möglich. Es wächst nicht Holz genug in den Wäldern für die Schalungen, soviel Kirchen wollen sie heute haben.« – »Ja,« sagte Großjohann, »erst wird den 139 Menschen, dann Gott die Wohnung zu klein. Alles dehnt sich aus. Die Welt ist breiter geworden heutzutage.« – »So ist es! Heutzutage! Und Sie, Herr Großjohann, müssen sich trösten wie der Pflanzer, der einen Park pflanzte; er selbst geht nicht darin spazieren. Aber der Park wird seinen Namen tragen! So ist es!«

»Ein schlechter Trost! Aber besser eine Mücke gebraten als Hunger gelitten, sagte mein Vater selig. Wie ich nur an die Häuserbauerei kam? Da war eine Frau Merlin, eine betriebsame Dame, sie ist nun schon lange tot. Die veranlaßte mich, für sie zu bauen und dann für mich selbst. Und so floß mein Schicksal dahin, wie ein angestochenes Faß leer läuft. Daher kam das Unglück.« – »Unglück, Herr Großjohann? Wenn Ihr einen Bock melken würdet, er würde Milch geben. Wer ein Glück gehabt hat wie im Sprichwort, spricht von Unglück? Das ist Undank!« – »Sprecht nicht von Undank, Käferling! Nein! Sprecht von Übermut! Oder doch von zu großem Mut, meinetwegen. Ich war von dem Wahn befallen, alles selbst tun zu können. Und von hausbackener Ehrlichkeit auch. Ich habe gemeint, man müsse alles bezahlen können, was man baut. Für alles einstehen, was man unternimmt. Man glaubt, man ist das Meer und kann das Schiff tragen, und ist schließlich die Nußschale auf dem Wasser.«

»Trübe Gedanken, aber gute Gedanken. Aus dem Trübsinn kommt die Philosophie, und die Philosophen sind immer schlechter Laune, sonst wären sie keine. Aber für uns Wirkende sind es Teufelsgedanken! So ist es! Weg damit! Durch Euch, Herr Großjohann, bin ich geworden, was ich bin. Ich möchte 140 darauf eine gute Flasche Wein mit Euch trinken, wollen wir?«

Sie gingen in die Schenke, und Käferling erzählte. Von dem, was er mit Pfarrern ausstand, die in ihrem Dorfe eine Kirche haben wollten, die möglichst dem Kölner Dome ähnlich sei. – »Ja, überall heute derselbe Größenwahn!« sagte Großjohann. – »Und mit den Nonnen erst, Herr Großjohann, mit den Nonnen in den Klöstern, sag' ich Euch! Was man sich mit denen herumbalgt . . . ich meine nur so, was man mit denen aussteht! Denn die Weiber reden überall hinein! Von allem verstehen sie was. Geschoren oder ungeschoren, sie sind alle gleich! Alle gleich oberflächlich! So ist es!«

Nachdem sie mit der ersten Flasche sozusagen das Recht auf den Platz erkauft und sie gleichsam unwillig getrunken hatten, nahm sie die Wonne des Weines gefangen. Sie tranken eine zweite, und tranken bis tief in die Nacht. »Ich habe mich nie verleiten lassen, billig und liederlich im Bauen zu werden«, sagte Käferling; »ich will zeigen, daß ein Großjohann nicht vergebens in die Reichsstadt gekommen ist! Und daß er Jünger gefunden hat!« Das gefiel Großjohann sehr, und auch er bestellte eine Flasche.

Die beiden Baumeister träumten im Frieden dieser Nacht wieder einmal vom Bauen im großen Stile, das sie über dem Zahlenwesen des augenblicklichen Baugewerbes fast vergessen hatten. Sie waren glücklich. Franziska aber machte sich in dieser Nacht viel Sorge, denn wenn Hermann auch oft erst gegen Mitternacht heimkehrte, ohne einen Grund für sein Ausbleiben anzugeben, über Mitternacht hinaus war er noch nie geblieben. Schließlich verweilten die 141 Gäste selbst dem Wirte zu lange, er sagte unwirsch: »Meine Herren, es ist Bürgerzeit!«

 

Mit dem Schlossermeister Schröder war es eigentlich von allem Anfang an abwärts gegangen. Alle Krankheiten des Baugewerbes hatten ihn getroffen, Streik der Arbeiter, Fließsand im Baugrunde, Einsprüche der Baupolizei. Hinter der Stahlbrille stand jetzt ein finsteres Auge, und Frau Schröder war magerer als je.

Am Ubierring traf Großjohann den Schröder an einem frosthellen Tage. Die Kälte preßte Schröder die Tränen aus den Augen, Großjohann aber glaubte, er weine.

»Armer Schröder, geht es Euch so schlecht?« Obgleich es Schröder im Augenblick nicht schlechter ging als sonst, so tat ihm die Anteilnahme doch wohl, er antwortete nicht und ließ sich bedauern. Großjohann legte seinen Arm in den Schröders und sagte: »Wir wollen gehen, wo es warm ist, und etwas trinken, das wohlig macht. Wir wollen ins Wirtshaus gehen!« Sie gingen. Sie tranken.

»Man kann's nicht zwingen,« sagte Schröder, »man muß es gewähren lassen. Ich spiele Suchen mit dem Glücke, aber Ihr spielt Findenlassen.« – »Nicht die Hoffnung verlieren, alter Schröder!« – »Ja gewiß nicht! Aber die Hoffnung ist wie Milch im Topfe, sie wird vom langen Stehen sauer.« Sie lachten, und mit Freude sah Großjohann das Auge hinter der Stahlbrille hell und heller werden. Er sah Schröder, wie er ihn damals gesehen hatte, als sie miteinander anfingen. Die Bauleute verloren sich ganz in Erinnerungen an eine Zeit, in der sie wenig 142 Macht, aber viel Hoffnung hatten, während jetzt ihre Macht sich mehrte, ihre Hoffnung sich minderte. »Damals«. sagte Großjohann, »konnte ich durch die Straßen gehen und mit dem Psalmisten sagen: Daß die Berge über mein Glück frohlocken und die Hügel hüpfen wie Lämmer! Jetzt möchte ich manchmal die Straßenwände anrufen: Ihr Berge fallet über mich, ihr Hügel bedecket mich!« Sie merkten nicht, daß die Mitternachtsglocke schlug. 143

 


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