Josef Ponten
Der babylonische Turm
Josef Ponten

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Siebzehntes Kapitel

Trauer

Da im Blumenkelche«, sagte Gabriel, »kriecht eine kleine Spinne. Aber sieh, wie ich sie fangen will, fällt sie an einem im Augenblick gesponnenen Faden schnell zu Boden. Da unten läuft sie weiter. So gibt es Menschen, die an einem Unglück wie an einem aus ihrem eigenen Wesen gesponnenen Faden niederfallen und unverletzt davoneilen. Mein Vater ist solch einer. Und anderen kann keine Bosheit etwas anhaben – wirf eine Taube vom Dache, du wirst ihr nicht den Hals brechen. Mein Bruder Herkules gehört zu diesen Menschen, aber wir nicht, Trude.« – »Nein, wir nicht, Geliebter . . .«

Und nach einer Pause fügte sie hinzu. »Es ist wie ein Gift in uns.«

»Ja,« rief heftig Gabriel, die Arme reckend, »wir sind gelähmt wie von Gift. Es heißt, daß eine Schlange, die ihr Opfer tötet, es vorher durch einen Giftbiß lähmt. Wir sind gelähmt von der Schlange Traurigkeit.«

386 Sie wandte sich ihm zu und rief: »Küss' mich, Gabriel!«

Gabriel umfaßte sie, sie warf ihm das Ende ihrer Halskette um, und Gabriel küßte sie lange. Sie bog einmal den Kopf zurück und sah ihn mit verhängten Augen an. Dann küßte sie ihn – aber sein Feuer schien zu erlöschen, sie nahm die Kette an sich und machte sich los. »So traurig . . .« sagte Gabriel leise.

»Ich wünschte, der Graf käme heute«, sagte sie. – »Ich auch«, sagte er. – »Spiel' etwas«, sagte sie.

Sie gingen ins Haus, und Gabriel begann mit Beethoven. Sätze aus einem sanften Andante, nicht im Gefüge des Werkes, sondern frei aneinandergeschlossen mit kühnen harmonischen Übergängen, wie Beethoven selbst sie liebt, und einige, die trüben, wiederholt, besonders jene Stelle, die klingt, als ob wer in süßer Trauer durch einen warmen Wald zur Abendstunde geht, bis die tiefe Nacht kommt, und wo es dann – durch einen Wechsel der Harmonie – hell und heller wird und im leichten Geklinge von Triolen die Sterne aufzuflimmern scheinen.

»Das ist das Schönste an Beethoven,« sagte Gabriel, indem er eine neutrale Stelle leise spielte (er sprach die Worte mit Begleitung) »daß er eigentlich immer traurig ist, auch im Liede an die Freude. Wer ein Lied an die Freude schreibt, ist ganz gewiß in seinem Tiefsten traurig.« Ein musikalisches Gewitter durchtobte den Flügel, dann, als Entspannung den Sturm in der Landschaft der Töne abgelöst hatte, sagte er, während er eine dunkle Largostelle spielte: »Sein Himmel ist nie ganz klar. Immer steht diese dunkle Wolke am Rande, aus der es winden und regnen und aus der jeden Augenblick Blitz und 387 Donner brechen kann. Beethoven ist ganz Philosoph, und nie hat ein Künstler mit so seinem Finger am tiefsten Sinn der Welt gerührt, der Leiden heißt.«

Allmählich verließ er das Gegebene und geriet in eigene, aber beethovensch gefärbte Fantasien. Besonders jenen Tonwechsel auf dem Orgelpunkte liebte er, wo die Melodie sich aus dem Dunkel ins Licht emporzuringen scheint und doch wieder hilf- und hoffnungslos in die Nacht zurücksinkt. Wie Beethoven nicht schließen zu können scheint, so fand auch er keinen Schluß. Denn zu einem Beethovenschen Schlusse, aus wilder Kraft geboren, wo plötzlich alle sich aufdrängenden Weisen zärtlicher Trauer zurückgestoßen und mit männlicher Tat die Schlußtakte erzwungen werden, konnte er sich nicht aufraffen. So spielte er lange und verloren.

Kirmes

»Trari, trara, trarararaa –« bliesen die Trompeten der reichgeschmückten Herolde auf den hölzernen Bühnen. Und ein kleiner dummer August mit einer ausgehöhlten Kartoffel auf der Nasenspitze wiederholte auf einer blechernen Kindertrompete: »trararaa –.« Alles Volk auf dem Kirmesbende lachte.

»Immer nur hereinspaziert, meine Herrschaften!« rief einer der Herolde, »für einen Groschen 'rein ins Panoptikum. Nichts ist auf der Welt geschehen, was man nicht hier für einen Groschen sehen könnte. Nichts auf der Welt Geschehene war mehr wert als ein Groschen. Also herein! Herein! Herbei! Herbei!« Die Trompeter bliesen: »Strömt herbei, ihr 388 Völkerscharen«, und der dumme August äffte blechern nach: – »Strömt herbei . . .« Die Bohlen der Bude bogen sich unter der Last der Menschen.

Die Fahnentücher schwatzten an den Stangen. Die gräflichen Diener Peter, Hubert, Christine, Marie und die dicke Barbara schoben sich als Gruppe durch die Masse der Menschen. Christine rümpfte das Näschen und meinte: »Ist das eine Kirmes? Die will schön sein?« – »Bist mal wieder nicht zufrieden, Christine?« frug Hubert. »Das gefällt mir nicht, ich sag' es wie es ist. Wir müssen immer denken, daß es bei uns am schönsten ist! Man muß nicht auf zuviele Kirmessen gehen.« Christine schwieg betroffen, Marie aber sagte: »Da hast du sehr recht, Hubert.« – »Ach, schweig du doch still, Marie«, sagte Christine, und sie dachte: »Man muß sich schon vorläufig was gefallen lassen; wenn wir mal erst Mann und Frau sind . . .« Hubert aber dachte: »Christine oder Marie, am liebsten alle beide!«

Jetzt stand die Gruppe vor einer geheimnisvollen Bude. »Hier ist zu sehen,« rief eine heisere Stimme, »der große Mann! Der Riese! Der Riese Goliath! Der Mann groß wie eine Zeder, der bis an die Spitze der Pyramiden reichen und auf den Turm von Babylon spucken könnte. Aber kein Mann auf der Welt ist so groß, daß man ihn nicht für einen Groschen sehen könnte! Wendet nur einen Groschen dran!«

»Das tun wir aber auch!« meinte Hubert, »was, Kinder?« Die Frauen nickten eifrig, nur Peter zögerte. – »Peter, ich zahl' für dich! Ich zahl' für euch alle, Kinder!« rief Hubert lustig; »hier ist der Mann, der große Mann! Den sehen wir uns an! Ich sag' es wie es ist.«

389 Auch der alte Graf Wetter mischte sich heute unter das Volk, wenn auch von ihm getrennt durch die Wand der wappengeschmückten Kutsche. Aber er langweilte sich. »Wo sind die Zeiten hin, als man so alt war wie Alexander, wo niemand einen kannte und man mit den Fabrikmädchen tollte, welche Scherze vertragen können wie die, die Hubert den Mädchen in der Küche erzählt! Kameraden, wißt ihr noch? Wo seid ihr heute? Der eine ist hochgeehrt, der andere reich und der dritte berühmt – aber alle sind wir alt. Wohin ist die Zeit, wo wir nicht mächtig und nicht hochgeehrt und nicht reich waren – aber jung! Alles was jung ist, wenn es auch ein Hund ist! sagen die Leute. O Jugend – und die Jugend weiß es nicht! O Alexander, was für ein – Schaf bist du!« So dachte traurig der alte Graf, da traf er seine Diener. Er ließ halten. »Nun, wie ist's? Freut ihr euch, Hubert, Christine? Das ist recht. Und wenn es zum Kriege kommen sollte, gehen wir beide hinaus, was Hubert?« – »Das tun wir aber auch, Herr Graf!« – »So ist's recht. Da habt ihr ein Goldstück, Hubert ist Schatzmeister.«

Peter ärgerte sich. Er war doch der Ältere! Der Vernünftigere! Wenn er so mutig wie Hubert gewesen wäre, so würde er gesagt haben . . . Aber der Herr Graf schien ihn gar nicht zu bemerken und fuhr davon, nachdem er ihnen freundlich zugenickt hatte – Peter zweifelte, ob auch ihm.

Auch der Oberste Bürgermeister, halb Karl der Große halb preußischer Hauptmann, war auf dem Kirmesbend, um zu sehen, wie sein Volk sich trotz der schlechten politischen Nachrichten vergnügte. Es ging alles in Ehren zu, die Buden standen 390 ausgerichtet und nicht kreuz und quer wie unter seinem Vorgänger, und die Ordnungspolizei war da, aber heimlich und unauffällig – ganz so wie er es befohlen hatte. Er trank unter einem offenen Zelte ein Glas Bier mitten zwischen seinen Bürgern.

Ein riesiges rotes Rad drehte sich langsam vor der blauen Luft, in schaukelnden Bojen höhendurstige Seelen gen Himmel führend. Als es aber wieder abwärts ging, sagte in einer der Bojen ein Gymnasialprofessor zu seinem grünen Sohne: »Dieses Rad sei dir ein Sinnbild für das menschliche Leben; nach einem kurzen Aufstiege und über einen Höhepunkt weg – die Alten sprachen von Peripetie – geht es abwärts, und es kehrt in sich selbst zurück.« Graf Wetter aber, der eben unten vorbeifuhr, dachte: »Einmal 'rauf, einmal 'runter, du bist schließlich immer im Dreck.«

Dudelsack und Trommelschlag, Harmonika und Klarinette! Hinter den Buden, wo die Pferde der fahrenden Leute mit Fesseln über den Vorderhufen im grünen Bende grasten, übte sich eine Schar sieben- bis neunjähriger Knaben im Rauchen. Zehn bis zwanzig Zigaretten hatten sie für einen Groschen gekauft, und bäuchlings liegend besprachen sie die letzten Stockschläge in der Schule und überhaupt die gesamte politische Lage der Welt. Der Bauunternehmer Bertholet kam seinen Sohn suchend gerade dazu, als dieser totenbleich sich eilig entfernte, um Kopf und Arme wider die Mauer aus leeren Kisten gestützt sich jämmerlich zu erbrechen. Ach! Ach! Wie schlecht hatte doch Gott die Welt eingerichtet! Umsturz und Revolution durchwühlten den Knaben. »Napoleon, du Untugend, was treibst du da?« rief Bertholet. Der 391 kleine Napoleon brachte den Umsturz einen Augenblick zum Stehen und rief: »Seid nicht böse, Vater, ich will . . .« Wieder Umsturz! ». . . doch auch einmal . . .« Neuer Umsturz!». . . ein Mann sein wie Ihr!« – »Bin ja gar nicht böse«, sagte lächelnd der Vater und zog den Sohn mit sich fort. – »Nicht so schnell, Vater . . . !« rief Napoleon.

Allmählich wurden die Planen der Buden vom Abendtau feucht und schwer, die Fahnen schwatzten nicht mehr, und langsam verlief sich die Menge. Die Bierzelte schlossen sich gegen die kühle Abendluft, und die Bürger kehrten in die Zelte ein.

»Siehst du, Mama,« sagte Herkules, »das gefällt mir. So recht unter dem Volke sitzen! Nur nicht sich verkriechen! Nicht in die Luft der Träume entfliegen! Alles Wahre wächst aus dem Schoße des Volkes. Hast du gesehen, auch der Oberste Bürgermeister war da. Das ist ein Kluger! Ich wundere mich, daß ich meinen Vater nicht gesehen habe. Aber er wird zuhause sitzen. Seit ihm Gabriel die Ausschneidebogen gekauft hat, sitzt er und klebt die Baugeschichte der ganzen Welt zusammen. Der arme Alte! . . .« Er kam ins Sinnen.

»Warum sprichst du nicht, mein lieber Junge? Rede! Rede! Du warst wieder so lange fort! Was verbirgst du vor mir? Du willst –? Du willst doch nicht etwa –?«

»Doch, das will ich!« sagte er. – »– für immer fortgehen?« frug sie.

»Nein, das nun wieder nicht!« – »Willst du heiraten?« frug Margarete. – »Jawohl!«

»Ja, so ist es recht«, sagte sie und schien zu erblassen.

392 »Aber natürlich will ich heiraten,« rief Herkules, »und zwar . . .« – »Und zwar . . . ?« frug sie, und ihr Atem stockte.

». . . dich!«

»– Aber Herkules! Ich bin doch noch immer deine Mama! Ich sagte dir schon einmal: wer heiratet denn seine Mama?« scherzte sie.

»Laß das, Margarete,« sagte Herkules, und seine Brauen zuckten, »laß die Scherze mit Mama. Du hast es so gewollt, und es war ja auch gut so. Du hast mir die Gründe gesagt, warum wir nicht heiraten sollen. Triftige Gründe, bei Gott! Aber was man sich so ausdenkt, das ist doch alles einerlei. Und dann« – er senkte die Stimme und legte leise die Hand auf die ihrige – »dann warst du lieb und gnädig zu mir. Wenn man sich liebt wie wir, nun, dann heiratet man eben. Das andere ist doch, wenn ich so sagen darf, eine unsaubere Geschichte. Ich mag die nicht, die für sich immer ein besonderes Brötchen gebacken haben wollen. Wir werden Kinder haben, und wenn wir keine haben, schaffen wir uns Angorakatzen an. Schlägst du ein?«

»Du bist so stürmisch, Herkules, und beweisest nun wieder, wie recht ich hatte . . .« – ». . . wenn du mich deinen kleinen Jungen nanntest. Freilich hattest du recht! Ganz recht! Ich will auch wieder ganz still und klein und brav sein, nur muß Mama dem Jungen den Willen tun.«

»Schöne Grundsätze! Also hier muß die Mama gehorchen?« sagte Margarete, die langen Wimpern über die strahlenden Augen senkend.

»Eingeschlagen? Das ist herrlich! Das ist . . . ! Musik, blast Tusch!« rief er zur Bühne im 393 Hintergrunde des Zeltes den Musikanten zu, »ich zahl' euch einen Hundertschein!«

Die Musik gehorchte. Sie blies Tusch. Und die Bürger im Bierzelte, die glaubten, es sei ein Hoch auf den Kaiser ausgebracht worden, erhoben sich und sangen: Heil dir im Siegerkranz . . . 394

 


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