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Die Rute

Wie traurig und trostlos sah es in der »alten« Schulstube aus, und wie hoffnungsreich verlässt die Jugend unsere heutige moderne Schule! Auch mir noch war es gegönnt, die nun in Frieden ruhende Concordatsschule besuchen zu können, und so will ich es versuchen, eine kleine Episode aus jenem traurigen Schulleben zu erzählen.

Trotzdem das Kirchdorf Fürstenhut zu Füßen meines Heimatsdörfchens Buchwald liegt, so hatte es damals doch den Vorzug, eine sogenannte »Pfarrschule« zu besitzen, während die Buchwalder da droben auf des Postberges luftiger Höhe nur mit einer »Trivialschule« vorlieb nehmen mussten. Den ehrenvollen Namen »Volksschule« kannte man damals noch nicht; es gab nur »Land«- und Stadt«-, »Haupt«- und »Pfarrschulen«, »Filial«- und »Trivialschulen«.

Weil nun die lieben Buchwalder Kinder in die Pfarrschule eine gute Stunde Weges hatten, so meinten die Dorfväter, dass es besser wäre, einen »Triviallehrer« aufzunehmen, und weil der Ort so glücklich war, ein Brechhaus zu besitzen, so machte ihnen das Lehrzimmer keine Sorge. Während im »toten« Herbst im Brechhause von lustigen Dirnen der Lein »gebrechelt« wurde, ertönten in den übrigen Jahreszeiten in diesen armseligen, rauchgeschwärzten und wergbestaubten Räumen die dozierenden Worte des Wanderlehrers und die durch die Rutenstreiche ins Leben gerufenen Wehlaute der jungen, dressierten Bengel.

Und welch eine Koryphäe aus dem Felde der Erziehung und Wissenschaft war solch ein Handel- und Wandellehrer! Einmal gehörte er der ehrsamen Zunft der Uhrmacher, ein anderes Mal der der Glasbläser und wieder ein drittes Mal der hochachtbaren Innung der – Schuster an. Und was diese »Lehrer« nicht alles konnten! Der eine war ein Meister auf der Gitarre, der zweite nahm es im Coupletsingen mit den ersten Komikern der Welttheater auf, und dem dritten war die hohe Gabe eigen, der Trompete die rührendsten Klänge zu entlocken. Und von diesen Künsten – denn nach der Lehrkunst fragte niemand – hing ihre Beliebtheit beim Dorfvolke, ihr fetter Tisch ab! War das löbliche Schulhandwerk vollbracht, so ging der Lehrer – zum Essen. Ins Wirtshaus? Nein! Von Haus zu Haus! Jeder Familienvater hatte im Jahre mehrmals die Ehre, Kostherr des »Schulmeisters« zu sein. Die Anzahl der aus einer Familie die Schule besuchenden Kinder bedingte die Zahl der Kosttage, und die Bäuerin führte den Superlativ ihrer Kochkunst ins Treffen, um dem Herrn Schulmeister ja alles recht zu machen. Die Hauptsache dabei war: »Gut schmalzen, dass das Fett auf dem Bart stehen blieb.« Und der Schulmeister war damit zufrieden, und von dem Grade der Zufriedenheit hing seine Nachmittagslaune ab. Zeitweilig konnte er ein zweiter Drakon sein, da ersann er alle möglichen Martern und Qualen, da hieß es mit nackten Knien auf scharfkantigen Holzscheiten oder grobkörnigem Sande knien, bis die Haut »blutunterlaufen« war, und ging das A-B-C nicht nach Wunsch und Willen, dann gab es eine »Tracht« Schläge und Püffe wie im Stalle, wenn Ochsen und Kühe etwas ungestüm im Fressen sind, und fügte es der Zufall, dass beim Herleiern der »sieben Todsünden« z.B. die dritte vergessen wurde, dann gab es »Schopfbeutler« und »Watschen«, dass die Zähne klapperten und das Feuer vor den Augen flog ...

Mein erster Lehrer war – gelernter Uhrmacher. Er war der Sohn des »Pfarrlehrers« in Fürstenhut, hatte den 1859er Krieg mitgemacht, avancierte zum Korporal mit zwei »Sterndln«, und nun war es eine selbstredende Sache, dass er »Triviallehrer« von Buchwald werden musste – und er wurde es gerne gegen Kost und zwanzig Kreuzer Monatslohn per Kindskopf ...

»Lehrer-Hansl« hieß er im Dorfe, weil er »Hansl« getauft und Lehrerssohn war.

Mein lieber College Lehrer-Hansl, ich melde Dir heute Gruß und Handschlag, muss aber bemerken, dass ich mit der Zeit selbst ein Lehrer wurde, während Du wieder zu Deinem goldenen Handwerke zurückkehrtest! Doch d'rum keine Feindschaft! Zwei »Hanseln« bleiben wir immerhin, denn auch ich bin ein getaufter »Hansl«.

Dein allmächtiges Zepter war die – Rute! Und Du musst schon nicht zürnen, wenn ich es versuche, dem Leser dieses furchtbare Folterwerkzeug kurz zu beschreiben.

Die Rute, diese pädagogische Gesetzgeberin, bildete im natürlichen Zustande einen Bestandteil der Eberesche und trug im Sommer die schönen weißen Blütensterne und im Herbst und Frühwinter die scharlachroten Beerentrauben. Ging der »Lehrer« spazieren, so musterte er neugierigen und sachverständigen Blickes die Vogelbeerbäume, und entzückte ein schwanker Ast sein spähendes Auge, so war er auch schon seinem Dienste verfallen. Der Günstling in der Bubenschar wurde nun ausgesandt, die »Rute« zu holen, und jeder Range war auf diese Mission stolz, wenn sie ihn traf. Mit dem »Taschenfeitl« wurde nun des Lehrers Zepter sauber von Knoten und Ästchen befreit. Der »Griff« war fest und haltbar und glich dem Hefte einer Gabel; auf ihm saßen wie Gabelzähne wohl vier bis sechs »Rüadln« (Rütchen), welche, mittelst Spagates fest zusammengebunden, ungemein bitter in die Muskulatur der Buben »einbissen«. Und wie vortrefflich verstanden es diese »Prügel-Pädagogen«, dieses ehrfurchtgebietende Zepter zu schwingen! War die Rute in der Schule angelangt, so wurde sie zur allgemeinen Schau als Zeichen des Schreckens und der Ehrfurcht im Kathederwinkel aufgepflanzt. Wie drohend starrte sie dann die zitternde Bubenschar an, wie erbebten die furchtbefangenen Kinderherzen vor diesem unheilbringenden »Schulregiment«! Nur der würdige, selbstbewusste Jünger eines unsterblichen Pestalozzi blickte ernst und siegestrunken im Kreise herum, und ab und zu griff er nach dem Feldherrnschwert, dasselbe so kraftvoll schwingend, dass die Luft pfiff. ...

Und wie neugierig war alles auf die »Rutentaufe«! Auf dieses wunderseltsame Ereignis freuten sich Lehrer wie Schüler. Musste ja natürlich auch einen Namen haben, des Lehrers Liebchen, und da galt die Regel, dass die Rute den Namen desjenigen Kindes annehme, welches zum ersten Male mit der neuen Rute – geschlagen wurde. Geschlagen wurde, dass der Leib sich blau färbte! Ein Schimpf und Spott, der das von Natur aus gut beanlagte Kindesherz oft schwer verwundete und aus dem ehrgeizigsten Wesen zuweilen die verstockteste Bosheit machen konnte.

So also, Lehrer-Hansl, war auch Dein pädagogischer Regierungsapparat beschaffen! Im Christmonat war's, als Deine Rute nach getreuer und fleißiger Dienstleistung auf dem Rücken des »Goas-Wenzl« in Fetzen ging. Das machte Dir große Sorge, und weil es Dir selbst in Folge des tiefen Schnees nicht möglich war, auf die Braut-, will sagen Rutenschau auszugehen, so sandtest Du mich als Kundschafter aus, weil Du wusstest, dass ich weder Sturm noch Kälte scheute. So machte ich mich an Donars Tage, es war ein wildbewegter Sturmtag, auf die Beine, um die Hecken längs der verschneiten Dorfwiesen abzuwaten. Am Saume des Waldes stand ein prächtiger Vogelbeerbaum, und ein stattlicher Schwarm Krammetsvogel ließ sich soeben seine saueren Beeren schmecken. Die schönsten Ruten grüßten zutraulich vom Wipfel zu mir herab. Flugs war ich oben, und es gelang meinem Eifer bald, ein Prachtexemplar von Kinderdressur-Instrument zu gewinnen. Triumphierend wanderte ich Tags darauf mit der Rute in die Schule und die Buben hatten sogar schon vor mir gewaltigen Respekt.

Lehrer-Hansl, noch heute sehe ich Dein wohlzufriedenes Lächeln, noch heute vernehme ich Deine prügelverheißende Drohung, die Du, Vielliebchen kräftig schwingend, der angstbleichen Schuljugend, Büblein wie Maidlein, in schrecklichem Basse zudonnertest. Und wie neugierig sah alles der »Rutentaufe« entgegen! Diese Erwartung sollte erfreulicherweise nicht lange auf die Probe gesetzt werden. Des anderen Tages gab es eine grimmige, erstarrende Kälte. Wir armen Kinder hatten eine gute Viertelstunde im weglosen Schnee zur Schule zu waten, dass die Schuhe festgefroren waren wie Horn und Eisen. Als wir das Lehrzimmer betraten, begrüßte uns darinnen eine »sibirische« Kälte. Der Ofen war eiskalt und die Fenster total gefroren.

Lehrer-Hansl, und doch war es Deine Pflicht, das Schulzimmer rechtzeitig und entsprechend zu heizen oder heizen zu lassen, weil Dich die »Gmoa« besonders dafür zahlte und weil es so »ausgemacht« war zwischen Dir und ihr! Du aber hattest, wie Du mir später selbst einmal gestanden, Deinen Nachtrausch, den Du Dir während des Aufspielens bei einer Wirtshaustanzerei (trotz Advent!) erworben, noch nicht ausgeschlafen, und warst eben daran, Dich aufs rechte Ohr zu legen, als die halberstarrten Kinder im Brech-, will sagen Schulhause ankamen.

Weil Du nun schon öfter auf diese Weise Deine Pflicht »verabsäumt« hattest, so wurde uns schließlich die Geschichte »zu dumm«, und es spukte in den Bubenköpfen bereits ein revolutionärer Sinn. Besonders der »Kalbl-Nazi« war mit der herrschenden Unordnung sehr unzufrieden, und von ihm ging die erste Anregung zum allgemeinen Aufstande aus.

Weil nun ich der »Richterbub« war, ein Wunderkind, dessen Vater damals des Lehrers zweiter Vorgesetzter war, so wurde ich beim beabsichtigten Proteste zum Wortführer bestimmt. Ich hatte noch den »Schnappsack« umgehängt, der nebst dem »ersten« und »zweiten Teil« nebst Schiefertafel und Federbüchse noch mein »Eierkoch« barg, welches mir die Mutter in einem Tontöpfchen wohl verwahrte, damit von dem kostbaren Inhalte nichts verschüttet werde. Denn es herrschte die Sitte, dass wir an kalten Wintertagen über Mittag in der Schule blieben, und in solchen Fällen bekam jedes Kind ein provisorisches Mittagsessen mit, dem dann nach dem Nachmittagsunterrichte das warme im Elternhause folgte.

Um acht Uhr sollte der Unterricht beginnen – allein es verstrich eine gute Stunde und Du, Lehrer-Hansl, wolltest Dich noch immer nicht zeigen. Wie süß doch müsste zeitweilig der Morgenschlummer sein, denke auch ich heute; allein die Pflicht, die heilige, gebietende Pflicht, das ehrliche Gewissen! ...

Diese zwei Mächte kannte die damalige Schule nicht. Wenn der Schulmeister drei Tage nacheinander beim Kirchweihtanze aufgespielt hatte, so konnte und wollte es ihm niemand im Dorfe verbieten, dass er noch drei Tage darauf »blau machte«, und wenn es seiner Herrlichkeit beliebte, zuweilen ein Räuschchen »auszuschlafen«, so musste die Schulmeisterin oder die Tochter »Schul' halten«, und die Schüler hatten dabei so gute Zeiten, dass sie sich gegenseitig zum Vergnügen recht wacker auf und unter den Bänken durchprügelten.

Einen Rausch hattest damals auch Du, unvergesslicher Lehrer-Hansl, auszuschlafen, und deswegen versäumtest Du die Heizung und den Unterrichtsbeginn. Als die Dorfuhr die neunte Frühstunde schlug, öffnete sich die Tür und Du tratest in – Schlafrock und »Schleppern« mit einer echt russischen Gewalthabersmiene, »nur g'rad so zum Auffressen«, ein ...

Wie erstauntest Du aber, als Du statt der zitternden Kinder entschlossene – Verschwörer schautest! Ich, der Fiesco im Trauerspiele, stolzierte, schnappsackbehangen, gemessenen Schrittes vor dem Katheder auf und ab – ein unheilvolles Selbstbewusstsein schien mich zu beseelen. Die übrigen Verschwörer, insbesondere aber der großmäulige Kalbl-Nazi, verschanzten sich resigniert hinter den Bänken. Anfangs sahst Du mich mit eisigem, bluterstarrendem Blicke an, und Dein buschiger Schnurrbart schien die lustigsten Hopser zu machen. Dann donnertest Du, dass Dich selbst Zeus bewundern hätte müssen: »Setz' Dich, Schlingel!«

»Nein, mir ist kalt!« behauptete ich trotzig.

In der Absicht, mir gehörig »warm« zu machen, packtest Du mich jetzt bei der Rechten, schwangst mich so einige Male lustig im Kreise herum, indessen die Rute unaufhaltsam über meinen Rücken sauste, so dass mir Hören und Sehen verging.

Das war also die berüchtigte Rutentaufe, und ich musste mich selbst verdammen, dass ich den Täufling aus dem friedlichen Bereiche der Natur in die qualvolle Prügelkammer des Brechhauses beschworen. Alles lachte laut auf, als Du nach vollendeter »Stauberei« die schwanke Rute den Kindern zeigtest und hohnlachend ihren Namen nanntest. Das war zu viel! Weinend lief ich heimzu und klagte dem Vater das erlittene Unrecht. Väterchen sprach zu mir kein Wort, wohl aber zu Dir, Hansl, und Du ließest verschiedene Teile meines Körpers fortan in Ruhe und heiztest pünktlich die Schule.

Dann kam das Jahr 1869, dieses Lichtjahr in der Geschichte des vaterländischen Schulwesens – die Glocken klangen in den Walddörfern, hie und da blitzten auf den dunklen Bergeshäuptern Freudenfeuer auf, Schulhäuser erstanden in den schlichten Walddörfern, das Volk war aus jahrhundertlangem Geistesdunkel erwacht zum sonnigen Lichte der Freiheit – eine mittelalterliche Institution sank ins Grab, und die Volksschule, die »Neuschule«, erhob leuchtend ihr Haupt!

Und Du, Lehrer-Hansl, kehrtest wieder zurück zur ehrsamen Zunft der Uhrmacher, während an Deine Stelle ein Mann trat, dem ich noch heute in dankbarer Erinnerung ergeben bin. Die Rute, dieses unheilvolle Schulgespenst, musste ins Exil gehen, Pflichtbewusstsein und Wohlwollen traten in der Schulstube ihre segensreiche Herrschaft an. –


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