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Das »Auspritschen«

Es war ein milder, sonniger Tag in der zweiten Fastenwoche. Lustig rann das Schneewasser von den Dächern des Heimatdörfchens, und über dem lichtgrünen Walde lag es fast wie Lenzesduft. Die Hühner gackerten auf dem Mistaufen, und der stolze Haushahn ließ aus hochaufgerichtetem Halse seine lauten, in den Wäldern wiederhallenden Rufe erschallen. Wir Dorfkinder trieben vor dem Schulhause an schneefreier Stelle das beliebte Spiel des »Kegelwerfens«, während unser Lehrer, der sogenannte »Gratian« – er war gelernter Schuhmacher – behaglich am Fenster stand und sich den langen Schnurrbart drehte.

Jetzt trommelte er mit den Fingern an die Fensterscheibe, was das Signal zum Unterrichtsbeginn war. Die ungeschlachte Herde stürmte flugs in die Schulstube hinein, und bevor der Lehrer erschien, gab es noch eine lustige Balgerei auf den Bänken, die sich bis zum »Katheder« fortpflanzte, bis endlich die Tafel mit großem Gepolter auf den Boden stürzte. Auf das hin hastete der »Gratian« herein, in der Rechten schwang er eine wuchtige Ebereschenrute, und im Nu gab es eine ganz ordentliche »Stauberei« und ein Gezeter, dass es lustig war, wie beim Aufzuge der »Faschinger« in der Fastnacht.

Und erst jetzt begann der Unterricht mit dem üblichen »Heil'ger Geist, komm zu verbreiten!«, welches mehr gesungen als gesprochen wurde. Sodann hub das »Einmaleins« an, wobei alle wacker mittaten, selbst die kleinsten Schreihälse, die noch nicht über die Zahl fünf hinaus waren. Nach dem Einmaleins-Geschrei begann ein älterer Schüler mit den »Amabüachlern« (Fibelleser-Anfänger) das Buchstabieren, während die anderen zunächst im »ersten«, dann im »zweiten Teile« lasen, bis endlich Katechismus und Evangelium daran kamen.

Nicht lange dauerte diese handwerksmäßig betriebene Arbeit; es begann das Schreiben, was eigentlich – Schmieren heißen sollte, denn der Lehrer übertraf in solchem seine Schüler. Mit dem Kopfrechnen, wobei es beim »Gratian« selbst haperte, schloss der Vormittagsunterricht.

Bevor man sich zum »Vater, segne Deine Lehren!« rüstete, sprach der Lehrer: »Kinder, heut' Nachmittag werd' ich Euch auspritschen, weil jetzt vierzehn Tag 'keine Schul' ist, weil ich ins Bayrische auf d' Stör geh'n muss.« Ein betäubendes Jubelgeschrei war die Folge dieser Eröffnung. Doch der wanderlustige Lehrer winkte mit der Rute, und Sabbatstille herrschte wieder in der Stube.

Alsdann fuhr der »Gratian« fort: »Sagt's daheim und richtet Euch vor mit Schmalz, Speck und Eiern; denn wer nichts bringt, wird nicht ausgepritscht.«

Mit freudiger Hast eilte alles heimzu, um diese lustige Mär zu berichten.

»Jo, z'weg'n wos denn schon hiatzt auspritsch'n?« hatte der Schmied-Sepp zu bemerken. »Is doch sunst uwei (alleweil) af d' Oustan g'scheg'n!«

»Wird halt sei Wei(b) 's Schmoiz und d' Oija schon noutwendi braucha!« meinte die »Onamirl«, und der kleine Michl wischte sich mit dem Rockärmel die fortwährend feuchte Nase ab und sagte: »Jo, Muada, der Lehra wird's schon braucha!«

Und so kam der sehnsüchtig erwartete Nachmittag. Alle Mütter füllten die »Schnappsäcke« ihrer Büblein und Mägdlein mit Schmalz, Eiern und Speck, und freudiger Hoffnungen voll pilgerte die kleine Karawane dem Schulhause zu. Mit lachendem Gesichte wurde sie vom »Gratian« empfangen.

»Na, hast Dein' Schnappsack hübsch voll?« redete er den Korlsepp an.

»Ja, Herr Lehra! Zwoanz'g Oija hat d'Muada eini geb'n und a Trumm Speck, so grouß wia Enka Kopf!«

»Na, dann wirst fraili ausgepritscht!« versicherte der »Gratian« freundlich und begann den Unterricht. Doch war heute mit dem jungen Volke nicht viel anzufangen. Der Lehrer selbst hatte den Kopf voll Speck, und die Buben sahen nur immer die Pritsche vor sich.

Und nun ein Wort über diese – Pritsche.

Die »Pritschenmeister«, welche bei den Schützenfesten der Städte ursprünglich in ganz ehrbarer Weise zugleich als Herolde, Festordner und Festaufseher, Pedelle, Improvisatoren, Reimdichter und Historiographen fungierten, traten angeblich im 16. Jahrhundert auf. Sie hatten die »Pritsche« zuerst angewandt, welche anfänglich mehr einer wirklichen Waffe ähnelte. Dazumal hatte sie die Form eines Schwertes und in den Zunftgedichten der Pritschenmeister wurde sie bisweilen geradezu als »hölzern' Schwert« bezeichnet. Sie diente den Pritschenmeistern als Zuchtmittel und Handwehr, »um Unberufene von dem Schützenkreise fern zu halten und solche, die gegen die Schützengesetze gefrevelt, summarisch abzustrafen, zu pritschen«. Später sanken sie zu Hanswursten herab, sie nahmen die buntfarbige Tracht der Schönbartläufer an, und mit ihrer Umwandlung ging auch eine bedeutende Veränderung der Pritsche vor: Aus dem »hölzern' Schwert« ward eine hölzerne Klinge, die der Länge nach in dünne Blätter gespalten ward, »so dass sie jetzt bei jedem Hiebe ein klatschendes Geräusch gab und sich im Schlagen laut machte, ohne dem Geschlagenen weh zu tun. In dieser ihrer neuen Gestaltung bildete sie nunmehr eine echte Narrenwaffe, ähnlich dem Clunaculum oder Komödiantenschwert der römischen Mimen, und ging von den Pritschenmeistern auf die berufsverwandten Possenreißer über«. Schon von einem im Jahre 1579 zu Nürnberg abgehaltenen Schützenfeste heißt es: »Bei solchem Schießen auf der Hallerwiese waren viel Kurzweil, viel Narren und Pritschenmeister, wie denn bei allen Schießen gebräuchlich ist.«

Wir sehen somit, dass die Pritsche eine Narrenwaffe in des Wortes bester Bedeutung ist, und als solche spielte sie auch in der glorreichen alten Schule eine nicht ungewöhnliche Rolle.

Jeder Schulmeister verfügte über eine Pritsche, welche er zu seinem Vorteile gar wacker handzuhaben wusste, und dem Volke machte es ein Vergnügen sondergleichen, wenn das »hölzern' Schwert« des Herrn Pritschenmeisters recht oft und laut klatschte. ...

Als der »Gratian« es endlich an der Zeit fand, seinen Tribut an Speck und Eiern einzuheimsen, schritt er zum Gebete, und nachdem dasselbe heruntergeleiert war, begann das – »Auspritschen«. Die Bänke wurden beiseitegeschoben, so dass ein großer, freier Raum entstand; sodann wurde die Türe ausgehoben und der Schuster-Gratian stellte sich mit weit ausgespreizten Beinen – sie waren ziemlich lang – vor dieselbe, das schnurrbärtige Gesicht dem freudig erregten Kindervolke zugewendet. In der Rechten hielt er die etwa 6 Dezimeter lange Pritsche, das Narrenschwert der seligmachenden Konkordatsschule, in der Linken ein Namensverzeichnis der auszupritschenden Kinder. In der Nähe des »Katheders« stand ein großer Korb, welcher Speck, Schmalz und Eier aufzunehmen hatte.

Endlich ward der erste Bube gerufen. Mit sichtlicher Aufregung legte er seinen pflichtschuldigen Tribut in den Korb nieder, nahm sich dann einen Anlauf und stürmte durch die ausgespreizten Beine des »Herrn« Lehrers hinaus ins Freie. In dem Momente nun, als er des Lehrers »Gestell« zu passieren hatte, klatschte die Pritsche auf sein – Hinterteil, was einen förmlichen Lachkrampf bei den Kleinen zur Folge hatte. So ging es nun fort bis zum letzten Objekte, Büblein wie Maidlein bekamen die Pritsche zu kosten, und der »Gratian« war mit seinem Geschäfte wohl zufrieden, denn der Glückskorb wies einen Nahrungsvorrat auf ein Vierteljahr auf.

Soeben sollte der Letzte gepritscht werden, als der – Pfarrer an der Türschwelle erschien. Die Geschichte schien ihn zu belustigen – er nahm dem »Lehrer« die Pritsche aus der Hand, pritschte den letzten Knaben und befahl dann dem – Lehrer, selbst zu laufen. Und so geschah das Seltsame, der Pfarrer pritschte den Lehrer aus, und damit fand die Narretei ihren endgültigen Abschluss ...

So ging es in der »alten« Schule zu, die man heute wieder als das einzig und allein seligmachende Prinzip hinstellen will. Ich erfuhr diese Geschichte vom »schwarzen Sepp«, der gerne davon sprach, und ich habe sie getreu wieder erzählt zur näheren Beleuchtung des alten, vernarrten Schulgeistes. Dem aufgeklärten Leser bleibe es überlassen, eine Parallele zu ziehen zwischen der »heiligmachenden« Altschule und der »höllisch-sündhaften« Neuschule ...

Was wohl dazu der fromme Prinz mag sagen?

Geist der Wahrheit, wache über die altehrwürdige Austria, erhalte uns deutsch und frei und gib, dass sie jetzt endgültig ausgepritscht werden die alten Kinder, die kindisch gewordenen Alten!


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