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Der »Saurer-Hansl«.

 

»Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen; es grünten
und blühten Feld und Wald; auf Hügeln und Höh'n, in
Büschen und Hecken übten ein fröhliches Lied die neu
ermunterten Vögel.« –

 

Diese lieblichen Hexameter unseres unsterblichen Altmeisters flüsterte der Saurer-Hans am Pfingstsamstage frühmorgens im blumenholden Hausgärtlein seiner Mutter, der Witwe nach dem Stadtschreiber Federkiel. So weit das Auge schweifte, schien alles ein Meer von rosig angehauchten Apfelblüten zu sein, in deren Kelchen Tausende von emsigen Bienen summten und sammelten. Die Hyacinthe, der Goldlack und die Pfingstrose standen im vollsten Blütenschmucke, der Kuckuck verkündete den Wäldern die frohe Frühlingsbotschaft, und in den Walddörfern erklangen die Morgenglocken zum Frühgottesdienst. Es war ein Pfingsttag, wie er schöner nicht gedacht werden konnte.

Der Saurer-Hans saß in der Jasminlaube des kleinen, aber netten Gärtleins und rauchte wohlgemut seine Havannah. Vor ihm lag Goethes »Reineke«, aus dem er soeben obigen Vers las; dann ließ er das Buch ruhen und sah leuchtenden Blickes hinaus ins blütenprangende Frühlingsland. Ein feuchter Schein umflorte sein Auge – sein volles Herz war so bewegt, er fühlte den Gott der Schönheit in seinem Busen und konnte ihn nicht bannen, er wollte singen und konnte es nicht. –

Wie er so selbstverloren da saß, legten sich zwei zarte Hände weich und sanft auf seine Schultern, und eine klare, wehmutsinnige Mädchenstimme sprach: »Hans, mein guter, lieber Hans!«

Der Saurer-Hans wandte sich rasch um und mit dem freudigen Ausrufe: »Line, mein herziges Kind, was gibt's? Du scheinst traurig!« umschlang er sie herzlich. »Traurig! Bis zum Tode betrübt!« hauchte das Mädchen mit tränenerstickter Stimme.

»So rede nur, mein süßes Herz, was Dich so tief bewegt! Sieh' die schöne, leuchtende Gotteswelt, den grünenden, blühenden, singenden Wald, die saftigen Felder und die blumigen Wiesen! Wie kannst Du da weinen, wo alles lenzt und mait, wo alles vor Lust und Entzücken dem gütigen Schöpfer seinen Morgengruß zujubelt?«

»Ach, und dennoch muss ich weinen, ich ganz allein! Dahin ist meine Ruhe, meine Lebensfreude! Ach, Hans, mir presst es das Herz zusammen, ich schau in ein finsteres Grab – die Welt ist für mich seit gestern reizlos.«

»Line, sprich, bin ich Ursache an Deinem mir so rätselvollen Schmerze? hab' ich Dich nicht immer geliebt aus den verborgensten Tiefen meiner Seele? War ich nicht allzeit bereit, für Dich mein Leben hinzugeben? Bin ich Dir denn nichts mehr, Nichts?«

»Nichts und Alles!« sprach sie tonlos. »Wir müssen uns trennen für immer.« Dann sank sie an seine Brust und brach in schmerzhaftes Weinen aus.

»Tod und Teufel! Wer sagt das?« schrie der Bursche jetzt wild heraus.

»Deine – Mutter!« schluchzte das Mädchen heftig.

»Meine Mutter?« entgegnete er in langgezogenem Tone. »Nie und nimmermehr! Da soll sie mich von einer ganz anderen Seite kennen lernen!«

»Ruhig, Hans!« ließ sich jetzt eine tiefe, ernste Frauenstimme vernehmen, indem sich gleichzeitig das Gartenpförtchen öffnete und die Mutter mit bebrillten Augen und dem Strickstrumpf in der Hand eintrat. »Du wirst Deiner Mutter folgen!« sprach sie ernst.

»Mutter!« schrie der Bursche in heftigster Aufregung heraus, »was soll das heißen?« Seine Hände ballten sich krampfhaft, heftiger zog er das weinende Mädchen an sich, wild rollten seine Augen, seine Seele durchtobte ein gewaltiger Kampf ...

»Kam ich deswegen auf Ferien, um so gefoltert zu werden?« –

»Mein Sohn, beruhige Dich! Du bist arm, sie ist arm. Nichts und nichts gibt wieder nichts! Das soll man wissen, wenn man »acht Schulen« hinter sich hat und sich soeben für das Studium der Medizin vorbereitet.«

»Ich will Taglöhner werden und bei meiner Line bleiben. Diese Hände sind stark genug, für mich und sie das tägliche Brot zu verdienen!«

»Du kannst einmal ein besseres Brot essen, und sie wird es essen; der Herr Apotheker ist ein reicher Mann, sie ist meine Pflegetochter, Du mein leiblicher Sohn, und ich muss Vernunft haben und für Euch beide sorgen, und darum gab ich gestern in Line's Gegenwart dem Apotheker, der um sie wirbt, das Jawort und Line gab es mit!«

»Gab es mit?« gellte es jetzt in herzzerreißendem Tone aus seiner Brust heraus. »Und Line gab es mit!« klang es gleich darauf mit weinender Stimme von seinen Lippen, und dann sank er auf den blumigen Grund nieder.

»Hans«, beschwor ihn jetzt das Mädchen, »mechanisch, bewusstlos sagte ich ja, weil mich Deine Mutter dazu zwang und mir mit dem Ausdemhausejagen drohte! Verzeihe mir, mein guter Hans!«

Doch Hans hörte sie nicht, er glaubte von ihrer Untreue überzeugt zu sein, seiner nicht mehr Herr, stürmte er wild von dannen, waldwärts – der lebensfreudige Student war gebrochen an Leib und Seele. –

*

Drei Wochen nach Pfingsten führte der alte, aber reiche Apotheker das abgehärmte Mädchen zum Altare. Die Kirche »war gesteckt voll« von Neugierigen, denn Andacht ist nicht immer der löbliche Beweggrund, der zum Kirchenbesuche drängt; der würdige Priester des Städtchens stand vor dem auf den Stufen des Hochaltares knienden Brautpaare und hielt an dasselbe eine längere, ergreifende Rede, wobei viele Leute schluchzten. Nun ging er an die Kopulation. In üblicher Weise legte der Bräutigam sein Versprechen mit einem kräftigen »Ja!« ab. Jetzt wandte sich der Geistliche an die myrtenkranzgeschmückte Braut, um auch ihr das Jawort abzufordern. Plötzlich aber fing das Mädchen am ganzen Körper zu zittern an, Leichenblässe überzog ihr unsagbar schönes Gesicht und – »Nein, nein!« schrie sie leidenschaftlich heraus, dass es durch die heilige Stille gellte, und dann sank sie in eine Ohnmacht.

So etwas hatten die guten Waldstädter noch nicht erlebt. Die Aufregung war groß, wochenlang besprach man nichts anderes als diesen seltsamen Vorfall; der Apotheker war ein vernichteter Mann. Diese Schande konnte er nicht ertragen, und deshalb verkaufte er sein Geschäft und verließ den Ort mit dem ernsten Vorsatze, das Heiraten für alle Zeiten »auf den Nagel zu hängen«.

Line nahm nach ihrer Genesung im Krankenhause die dunkle, freudenarme, grabesdüstere Klosterzelle auf, das treue Mädchen, das den irdischen Bräutigam verloren hatte, vermählte sich mit dem himmlischen Bräutigam und wurde aus Liebe zu ihrem verschwundenen Hans – Nonne. Drei Jahre trug sie gottergeben den Schleier, dann segnete sie das Zeitliche und schlief – den ewigen Schlaf. –

Und Hans? Dieser suchte nach der Gartenszene seinen zeitlichen Trost in der – Kutte. Mit dieser Welt hatte er abgeschlossen, ohne Line schien ihm das Leben nicht des Lebens wert, ein freudenloser Mann sollte er fortan sein, und so erwählte er statt der Medizin die »Gottesgelehrtheit« und studierte Theologie.

Drei Jahre lang hielt er es in den finsteren, sonnenarmen Mauern des Klosters aus – er zürnte seiner Mutter, er zürnte dem vermeintlich treulosen Mädchen, die er als Apothekersgattin glücklich wähnte, er zürnte der ganzen Welt. Da kam wieder das liebliche Pfingstfest in den Wald, die Vögel jubilierten, die Gärten prangten in den rosigen Farbengluten, der Schlehdorn schimmerte im Schnee seiner Blütenfülle und die Wiesen schmückten sich mit bunten Farben.

Hans war »Meister«, in einem Jahre sollte er die heilige Weihe empfangen. Bevor er jedoch der Welt auf immerdar Valet gab, wollte er noch einmal sein Waldstädtchen, seine Line im Kreise ihrer Kleinen sehen, wollte wissen, ob sie glücklich sei und ob sie seiner ganz vergessen hätte. So nahm er Urlaub und wanderte den gründämmernden Waldbergen zu. Im Kruge eines kleinen Dörfchens vor der Stadt stillte er seinen Durst, denn die brennenden Lippen verlangten nach Kühlung. Der Wirt, ein gutmütiger Mensch, hatte ihn alsobald wieder erkannt, hatte doch Hans im kleinen Lindengärtlein vor dem Wirtshause so manche Stunde an seiner Line Seite verträumt, so manchen Steinkrug geleert, so manches selige Lied gesungen.

»Herr Jegerle! Das ist ja der Herr Saurer-Haus!« stieß der Wirt hervor, und nun ging es an ein Fragen, Antworten und Erzählen, dass den beiden die Stunden wie Minuten verrannen. Vom Wirte erfuhr nun Hans alles, das ganze traurige Schicksal seiner armen Line und auch deren Tod, und nun kam die Reihe des Verzweifelns und der Reue an ihn. Keines Wortes mächtig, stürmte er wie ein gehetztes Wild, furiengepeitscht, von der Schänke hinweg, draußen im grünen, kuckuckdurchklungenen Walde vergrub er die fiebernde Stirne im kühlen Moos und weinte und klagte, bis der Vollmond über den rauschenden Tannenwipfeln aufstieg, und die silbernen Sternlein am Himmel leuchteten. Ringsum von den Bergen klangen im melodischen Tonwechsel die Abendglocken. Dann schlossen sich seine Augen und die heilige Nacht deckte den Unglücklichen mit ihrem dunklen Schleier zu. –

Des anderen Tages fanden ihn Holzhacker noch in bewusstlosem Zustande. Als sie ihn »zu sich selbst« gebracht hatten, redete er irre – die Nacht des Wahnsinns war in seine Seele eingezogen – der hoffnungsvolle, kraftstrotzende Jüngling wurde in der Zeit der verspottete »närrische Saurer-Hansl«, der in Zwilchkittel und »Schnepflhaube«, gestützt auf einen knorrigen Bergstock, die Walddörfer »abging«, um durch Betteln sein vernichtetes Leben zu fristen. Dabei war er alles: Pfarrer, Papst, Kaiser, König, Schinder und Henker; wozu man ihn haben wollte. Uns Buben las er oft auf der Hutweide bei einem moosigen Felsblocke die Messe, den Kühen hielt er stundenlange Moralpredigten, die Heuschrecken, welche an seinem Kittel emporkletterten, wurden salbungsvoll geköpft und die raufenden Hunde zu lebenslänglichem Kerker verurteilt: kurz, der Saurer-Hansl war der Narr des Waldes, bis ihn endlich an einem Pfingstsonntag der Tod von seinem Leiden erlöste und ihn mit seiner Line für ewige Zeiten vereinte. Dort oben bei der himmlischen Liebe werden sie jetzt wohl glücklich sein! –


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