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Der »Dreikönigssinger«

Dem sonnenhellen Wintertage folgte ein stürmischer Abend. Ein scharfer, markerstarrender Ostwind durchfegte den verschneiten Bergwald, und des Arbers doppelzackige Kuppe, die sonst so stolz die Gegend beherrschte, war in ein trübes Nebelmeer gehüllt. Sturmgepeitschte Schneeflocken wirbelten in tollem Tanze auf das Erdenland hernieder, und die dunkelgrünen Fichten und Tannen des Hochwaldes schmückten sich mit dem schimmernden Hermelin des Winters. Wege und Steige waren verweht, und die kleinen Holzhäuser des Dörfchens guckten aus dem Schnee hervor wie die Buschwindröslein aus dem grünen Waldmoos zur lieblichen Maienzeit.

Des Dörfchens liebliche Fenster begannen sich allmählich zu erhellen; die Abendglocken erklangen von den Bergen und aus den Wäldern, und einzelne Goldsternlein tauchten an dem sich lichtenden Himmel auf. Die Männer gingen ins Wirtshaus, Mädchen und Burschen wanderten in die Rockenstube, um bei Arbeit, Spiel, Tanz und Gesang die Langeweile des Winterabends, »die Sitzweil«, wie der Wäldler sagt, zu bannen.

Andresl, der saubere Knecht im Michlhofe, schmauchte auf der Ofenbank seine Pfeife und betrachtete leuchtenden Blickes die reizende Gestalt Gustis, der begehrenswerten Tochter des grundreichen Michlbauers, und eine Sturmflut von Empfindungen durchwogte dabei sein armes Herz. Was war er? Seit zwei Jahren diente er auf diesem Waldhofe als Knecht, er, der elternlose Bursche, der nichts sein eigen nannte als die ihm von Gott verliehene Kraft, Gesundheit und einen leichten, frohen Sinn.

Und dennoch wagte er es zu der stolzen, schönen Gusti aufzublicken, die als die stattlichste Jungfer in der ganzen waldreichen Arbergegend, vom Falkenstein bis zum Spitzberg, vom Arber bis zum Panzer, bekannt war. Und glaubte er doch Grund genug zu haben, des Mädchens Liebe erwerben zu können, zumal Gusti während seiner Anwesenheit auf dem Michlhofe für keinen anderen Aug' und Wort hatte als für ihn. Und nun gar erst im verwichenen Herbst! Da hatte Andresl Gelegenheit gefunden, sich beim »Streu-Recheln« im Laubwalde der geliebten Dirn' zu erklären – unter einer fruchtreichen Hagebuche war es – und Gusti hatte für jedes seiner Worte ein beglückendes »Ja«. Und Andresl war es dabei zum ersten Male in seinem bisher so freudearmen Leben gegönnt, die belebende Wärme und berauschende Süßigkeit eines holden Mädchenmundes kennen zu lernen. Doch musste die Liebschaft sehr geheim gehalten werden, denn der Michlbauer und noch mehr die scheinheilige, als Betschwester bekannte Bäuerin, würden solch einer »Dummheit« ein baldiges trauriges Ende gemacht haben. Doch Andresl hielt sich wacker. Er traf seine Gusti täglich dreimal im Stalle bei der Viehfütterung und schnalzte ihr bei passender Gelegenheit »Eines« hinauf, dass die breitgestirnten Rinder die Ohren spitzten und die Gänse neugierig die Köpfe drehten. Beim Dreschen gab es oft Gelegenheit, die Gusti in der »Stroh-Est« allein zu treffen, und nächtlicherweile, wenn der Michlbauer seine Räusch' »ausschlief« und die fromme Bäuerin ihre Rosenkränze murmelte, huldigte Andresl der schönen Gewohnheit des Fensterlns.

So hätte dem Knecht auf dem Michlhofe eigentlich nichts zu seinem Glück gefehlt, wär' es nur immer so geblieben. Allein das Unglück schreitet schnell. Dieses leider nur zu wahre Dichterwort sollte auch unser Andresl verstehen lernen. Zu »Kathrein« kam der reiche »Girgl–Toni« aus der Gegend des Mittagsberges in den Michlhof und begehrte die schmucke Gusti zum Weibe. Vierzig Stück Rinder, darunter fünf Paar Ochsen, zehn Schweine, hundert Schafe und ein Dutzend Kälber stünden in seinem Stalle, meinte er großmäulig, Wiesen und Wälder hätte er, dass man sich die Füße »zu tot« gehen müsste, wollte man sie eingehend besichtigen – und Geld gäb' es in den umliegenden Sparkassen wie Mist! – In solchem Tone wusste der »Girgl-Toni« sündhaft-höllisch zu prahlen, so dass der scheinheiligen Michlbäuerin »brennangst« wurde und sie unwillkürlich ein Kreuz schlug. Und als der hochmütige Freier genug von Ochsen, Stieren und von sich gepredigt, sprach der Michlbauer sein »Ja«, die Bäuerin sagte Amen darauf und Gusti? Die sagte entschieden Nein und abermals Nein!

»Z'weg'n was?« meinte der Michlbauer.

»Halt darum!« erwiderte Gusti etwas schnippisch, und dabei streifte ein glutvoller Blick den zerknirschten Andresl, der Zeuge dieser herzerschütternden Werbung war.

Dem Michlbauer entging dieser Blick nicht, und ein Lichtlein stieg in seinem etwas versumperten Kopf auf. Er beschloss, den jungen Leuten von heute an »auf die Eisen zu gehen«.

Der »Girgl-Toni« zog ärgerlich vom Michlhofe zu seinen Ochsen und Kälbern zurück, während der Andresl im Fichtenwalde beim Brennholzmachen einen Juchezer um den anderen in die Luft steigen ließ. Aber nicht lange sollte dieser Siegesjubel dauern. Der misstrauische Michlbauer schützte heute Abend vor, ins Wirtshaus zu gehen, tat es aber nicht, sondern verbarg sich im hintersten Stallwinkel, um die beiden Jungleute zu belauschen. Und da erfuhr er denn, dass Andresl heute gegen Mitternacht die Gusti von der Rockenstube abholen werde ...

Schnaubend vor Wut stürzte der entsetzte Bauer aus seinem Hinterhalte hervor, packte den vor Schreck sprachlosen Andresl mit der Kraft eines Recken so derb an der Kehle, würgte ihn entsetzlich stark, warf den hilflosen Burschen unter grässlicher Verwünschung zur Stalltür auf den Düngerhaufen hinaus und verbot ihm, den Michlhof fürderhin zu betreten ...

Das war nun freilich ein tragisches Ende dieser romantischen Liebschaft. Während Gusti in ihrem Kämmerlein laut schluchzte, lag der bedauernswerte Andresl bewusstlos im Schnee draußen, bis ihn gegen Mitternacht der grimmige Wintersturm zu sich brachte. Jetzt ward ihm alles klar, und nun kam auch seine Wut zum Ausbruche. Hundertmal schlug er sich auf die Stirne, gotteslästerlich fluchend, dass er sich so schmählich wie einen Hund habe hinauswerfen lassen – und er schwur dem Michlbauer bittere Rache.

Sein einziger Freund im Dorfe, der biedere Schulmeister, der just von der Schänke kam, traf den obdachlosen Burschen sitzend und schluchzend auf einem Markstein, und er nahm ihn mit ins Schulhaus, wo er ihm Nachtruhe gab. Des anderen Tages schickte der Andresl in den Michlhof um seine Kleider, Wäsche und um seinen Jahreslohn, und der Gusti ließ er sagen, dass er ihr treu bleiben werde bis ans Grab. Dann verließ er den Ort.

Dienen mochte er nimmer. Er hatte nur zu sehr den unbändigen Bauernstolz gefühlt – er hasste jetzt das Herrenbrot. Frei wollte er leben in der Welt, das Wandern kam ihm in den Sinn, und ein herrlicher Gedanke blitzte in seinem Kopfe auf. In seiner Kindheit hatte er mit großer Geschicklichkeit Heiligenfiguren geschnitzt, er hatte im Christkindlspiel wacker mitgetan und als Dreikönigssinger hatte er eine Art Ruf erlangt. Er wusste, wie diese Künste den Wäldlern imponierten, er wusste auch, dass sie ihren Mann anständig ernähren – und so wurde er Schnitzer, Komödiant und Dreikönigssinger. ...

Das ganze Waldland vom Arber bis zum Lusen und Dreisesselberg durchzog er im Sommer mit seinen zierlichen Heiligenbildern und Kinderspielwaren und verdiente sich mit diesem Handel so manchen Spargroschen. In den Waldhäusern hatte er freie Station; die Leute, insbesondere die Kinder, liebten ihn, denn er wusste so schöne Lieder vom Christkindl und den heiligen drei Königen zu singen, und im Geschichtenerzählen tat ihm's kein Zweiter gleich. Im Winter schloss er sich einer Truppe »Christkindlspieler« an und zog mit ihnen von Dorf zu Dorf, von Einöd' zu Einöd', um die Rolle des heiligen Josef recht wirkungsvoll durchzuführen. Und kam die Dreikönigszeit, dann nahm Andresl, der Dreikönigssinger, als welcher er weit und breit bekannt war, den »Dreikönigsstern«, der mittels einer Kurbel gedreht wurde, die »Dreikönigskrone«, bestehend ans steifem, buntem Papier und Rauschgold, und das »Dreikönigsg'wand«, zumeist ein weißes Hemd, das über den Kleidern getragen wird, und sang den andächtig lauschenden Wäldlern die rührenden, echt volkstümlichen Lieder von der Geburt des Herrn, der seligsten Jungfrau, dem Kindlein in der Krippe und den drei Weisen aus dem Morgenlande vor, wobei der »Stern« fleißig gedreht wurde.

Es war nichts Neues, was der Andresl sang; aber wie er's sang – das Gefühl, das er hineinlegte – das zeichnete ihn vor allen anderen aus:

»Wir kommen vom fernen Morgenland,
Der Herr im Himmel hat uns gesandt;
Zur Krippe im Stalle von Bethlehem
Führt uns ein glänzender Stern bequem.« –

Kein Operntenor hätt' dem Andresl das so nachgesungen, wie er's eben sang.

*

Vier Jahre waren seit jenem »großen Wurf« auf den Misthaufen vergangen. Andresl, der Dreikönigssinger, trug das Bild seiner Gusti treu im Herzen, und auch die Erbin des Michlhofes blieb ihrem »Buam« treu trotz der wiederholten Werbungen des »Girgl-Toni«. So kam das Dreikönigsfest in den Hochwald, und Andresl beschloss, dieses Mal in der Arber-Gegend als Dreikönigssinger herumzuziehen. Trat doch das Bild des so treuherzig geliebten und so opfermutigen Waldmädchens lebendiger denn je vor seine Seele, wollte er sie doch wieder, wenn auch nur aus der Ferne, sehen, wollte erfahren, ob sie seiner noch gedenke und wie es ihr ergehe. Es war in der heiligen Dreikönigsnacht, als er durch den tiefverschneiten Bergwald dem recht weit abseits gelegenen Orte Ludwigsthal zuwanderte. Kein Sternlein war am Himmel zu sehen, unheimlich heulte der Sturm, und wahre Schneefluten ergossen sich über den Wald.

Andresl hatte sich in den Dörfern längs des Regen als Dreikönigssinger produziert, und mit einem Beutel voll blanker Münzen wanderte er nun der Böhmergrenze zu, als ihn bei Ludwigsthal die wilde Sturmnacht überraschte. Nichtsdestoweniger schritt er munter fürbass, auf den Schuhen hatte er sogenannte Schneereifen angeschnallt, die ihn leicht und sicher über die Schneefläche trugen.

Eben hatte er die Mitte des pfadlosen Hochwaldes erreicht, als der Sturm in einen der Tannenwipfel fuhr und denselben mit furchtbarem Gekrache zur Erde schmetterte. Gleich darauf erschallte durch den nächtlichen Wald ein leises Rufen und Jammern, dann war es eine Weile still, und nur der Uhu ließ seinen schaurigen Schrei durch das erneute Sturmeswüten ertönen. Andresl war kein Mann der Furcht – es gab nicht eine Stunde der Nacht, wo er nicht auf waldigen Pfaden gewandelt wäre, aber heute war es eine Losnacht, wo die Hexen und höllischen Drachen, die Druden und Teufel die Macht über den Menschen hatten. – Und was sollte dieses Wimmern bedeuten, das vorhin wie ein Menschenlaut an sein Ohr gedrungen? Lange horchte er aufmerksam in den Wald hinein – da klang es wieder an sein Ohr wie Stöhnen und Ächzen, und gleich darauf hörte er deutlich den Schmerzensruf: »Hilfe! Jesus, Maria und Josef!«

Jetzt war es dem Dreikönigssinger klar, dass hier ein armes Menschenleben gefährdet sei, und mit wilder Hast eilte er der Schallquelle zu. »Wer hat g'rufen?« schrie er in den Wald hinein, und »Hilfe! Hilfe!« jammerte es aus nächster Nähe zurück. Und in wenigen Minuten stand der Andresl vor dem bis an den Hals zwischen Schnee und Baumwurzeln eingeklemmten – Michlbauer, der auf seinem nächtlichen Rückwege von Zwiesel, wohin ihn Geschäfte gerufen, in diese todbringende Falle geraten und sich nicht mehr emporarbeiten konnte.

»Bei allen Heiligen im Himmel – Michl!« rief der Andresl mit Entsetzen, »so finden wir uns wieder?«

»Verzeihung, Andresl!« stöhnte der gedemüthigte Großbauer, »rette mich und alles soll wieder gut werden!« Da wich aller Groll aus Andresls Herzen, mit großer Anstrengung zog er den schon halb erstarrten Todfeind aus dem Schneeloche empor, und auf seinen Händen trug er ihn bis Ludwigsthal, borgte sich dort einen Holzschlitten aus und zog die schwere Bürde keuchend und schwitzend nach dem Waldhofe, der um Mitternacht glücklich erreicht ward ...

*

Und als dann die hellen »Faschingsstreiche«, echte Gebirgsländler, in den Waldschänken erklangen, da führte der glückliche Dreikönigssinger seine Gusti zum Traualtar, und aus dem armen Michlknecht von einst wurde jetzt ein Großbauer, während der alte Michl in Folge seines Unfalles in der »Rauhnacht« bald nach der prunkvollen Hochzeit auf den Gottesacker hinaus wanderte.

Andresl aber vergaß seine Herkunft nicht; er ward ein Wohltäter der Armen, und wenn die trautselige Weihnachtszeit kam, dann versammelte er seine blühenden Kinder um sich, zog den Dreikönigsstern aus dem Verstecke hervor und lehrte sie das »Dreikönigssingen«, wobei die Dörfler gerne als Zuhörer gesehen waren. So kam es, dass man im Dorfe nicht sagte: »Der Michlbauer«, sondern »Andresl, der Dreikönigssinger« bis auf den heutigen Tag.


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