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Boden

Tage in London

Kleine Seereise

Der Zug fuhr über die grünen Weiden der holländischen Insel Seeland, die Wolken wurden immer glänzender und fetter. Nun besteige ich am Kai von Vlissingen ein breites, farbig bemaltes Schiff, das pünktlich abfährt und ruhig atmend über das Meer geht. Als Junge fuhr ich einmal um Mitternacht von Vlissingen hinüber. Es war auf einem jener kleineren Dampfschiffe, die längst ausgeschart sind und jetzt wohl irgendwo den griechischen Archipel befahren. Die Dampfpfeife brüllte markerschütternd, an Bord war der verwirrendste Geruch von Hyazinthen und Bücklingen. Holland versorgt heute den Londoner Frühmarkt mit geschlachteten Schweinen, die in ihren aufrechtstehenden Gitterkästen die Gänge an Deck verengen. Die Schiffe sind behaglicher geworden. Ein elegantes Geländer führt mit sicherem Schwung in die teppichbelegten Gänge hinunter, die Kabinen, die Speisesäle könnten nicht einladender sein.

Die belgische Küste schwindet wie ein zu zarter Pastellstrich, auf der See liegt grelles Licht. Im Windschutz der Deckaufbauten sind die Reisenden in ihren Liegestühlen ausgestreckt. Es ist ein Publikum in zartfarbenen Regenmänteln. Einige junge Herren tragen Haarnetze, um ihr glatt zurückgestrichenes Haar vor dem Wind zu schützen, man sieht Knickerbockers mit hellen rauhen Wollstrümpfen, schöne Halbschuhe und kränklich aussehende Damen. Unser Schiff verdient einen schönen großen Namen. Es ist gesund und unschuldig wie der Riese Christophorus, wie der Fährmann, der eine Furt des Weltmeeres überschreitet. Und es schleppt auf seinem breiten Rücken mühelos alles mit sich, die Gecken, die Kränklichen, die geschlachteten Schweine.

Was für Farben gegen Abend! Das glasgrüne Meer, die feuergoldenen Wolken über den englischen Kreideklippen, die über dem dämmernden Wasser stehen wie ein Hain von Blütenbäumen. Die Blinkfeuer über dem Hafeneingang von Dover, der wie ein Gatter offensteht, dann das strenge Lichtauge über der haushohen Landungsmauer von Folkestone. Feuer sind die sichersten Zeichen des Landes. Während das Festland, das wir verlassen haben, schon im Dunkel liegt, ist über diesem Lande noch der helle köstliche Schein des Abendlichts.

Unterkunft

Ich traf auf dem Schiffe einen Herrn, der über die Zukunft Europas einschließlich Deutschland und sogar über die Zukunft des Orients sehr optimistisch denkt. Er paßte außerordentlich gut zu dem schönen breiten Schiff und zu dem spielzeugmäßigen Eindruck der englischen Küste. Ich begegne demselben Herrn noch einmal im Menschengewühl der nächtlichen, glänzend beleuchteten Victoria-Station. Zahllose schwarze Autos mit nickelglänzenden Naben stehen ganz nahe am Bahnsteig, man reicht die Gepäckstücke gleich vom Zug in den Wagen. Es ist in solchen kritischen Augenblicken der Ankunft in einer sehr großen Stadt sehr angenehm zu wissen, wo man nun eigentlich bleiben wird. Ich war nicht in dieser Lage, aber das Auto des optimistischen Herrn öffnete sich, um mich mitzunehmen, bis ich Unterkunft gefunden hätte. Es war spät am Sonntagabend, trotzdem lagen die herrlichen Beete vor dem Buckingham-Palast im hellsten Lichte der Bogenlampen. Der Strand, die lange, am Tag so stürmisch belebte City-Straße, bot eine reizvolle Abwechslung hell beleuchteter Schaufenster und tiefer Dunkelheit. Der Portier eines großen Hotels teilte mir mit, es sei in seinem Hause kein Platz mehr. Aber er gab mir einen Zettel an den Portier eines kleineren Hotels, in dessen Erdgeschoß sich ein chinesisches Restaurant befand. Mein freundlicher Helfer fuhr mich auch dorthin. Ich stieg aus, war untergebracht und hatte kaum Zeit, ihm noch zum Abschied die Hand in das Auto zu stecken, schon war ich auf der Wanderung vier Treppen hoch in ein kleines Zimmer, das sich als durch Holzwände aus einem mit Stuckornamenten verzierten Saal herausgeschnitten erwies. Es war grade halb eins, ehe die letzten Untergrundbahnzüge fahren, die letzten Restaurants schließen und die Straßen endgültig leer sind. Zimmer und Frühstück hatte ich vor dem Hinaufgehen bezahlt, ich saß nun in meiner Zelle und wunderte mich, daß ich durch eine regelrechte Stubentür hereingekommen war und nicht durch eine Telephonklappe in einem ungeheuren Zellenbau.

Das Triptychon

In den großen, Höfen ähnlichen, der Straße zugekehrten Winkeln des Parlamentsgebäudes sammeln sich morgens die riesigen Gesellschaftsautos. Jedes faßt sechzig Personen, Landpublikum, das gekommen ist, London anzusehen. Autobusse sausen, Automobile jagen vorüber, der Polizist an der Straßenkreuzung regelt den Verkehr mit einer unnachahmlichen vernünftigen Festigkeit. Vor den schwarzen steinernen Schilderhäusern von Whitehall stehen die Schildwachen der Garde zu Pferde. Hier leuchten die historischen roten Uniformen als hätte es niemals Khaki gegeben, im Vorhof dieses alten Schloßgebäudes versammeln sich, von Neugierigen umringt, die Rotröcke mit hohen Bärenmützen auf schwarzen Pferden mit weißem Lederzeug. An den langen Straßenwänden des Gebäudes kleben die verlockend hübschen Werbeplakate der Regimenter Royal Welsh, Goldstream und Irish Fusileers. Der Verkehrsstrom dreier Straßen umschneidet den Trafalgar-Square in Viertelsbogen, vor der Nelsonsäule und ihren Löwen sprudelt das Wasser. Über den Automobilen, die nicht stehenbleiben, und den Menschen, die sich auf Augenblicke an den Straßenecken stauen, um die in Dachhöhe vorüberwandernden Buchstaben einer Zeitungsnachricht zu lesen, flattern Schwärme von Tauben, die grau sind wie London selber. Das rußgeschwärzte verwitterte Marmordenkmal eines Generals zeigt an seinem Sockel das britische Wappen mit dem Löwen und der Harfe in weißem Marmor. Es sieht am hellen Tage aus wie eine Radierung.

London ist ein gewaltiges Triptychon, das großartigste Abbild einer schichtenmäßigen, unumstößlich geordneten Gesellschaft. Der sahnefarbene Westen mit seinen immergrünen Parks, auf deren Rasenflächen unschuldige Schafe weiden und die Silhouetten ferner weißlicher Türme an die Phantastik indischer Städte erinnern, die Westminsterabtei, umgeben von den glänzend schwarzen Erzfiguren der Staatsmänner auf grünen Rasenteppichen, die grauen Paläste, aus denen sich alle wichtigere Architektur mit einem kreidigen Weiß und einem eigentümlichen Braunschwarz abhebt. Dann die City, in deren gassenähnlichen Straßenzügen dieselbe Schwarzweiß-Architektur des alten London steht, aber so eng beisammen, so gleichmäßig in ihrem Zweck, daß man selten einen Abstand bekommt und der Eindruck des Einzelgebäudes fast verschwindet. Endlich der Osten, diese Unendlichkeit der tristen Backsteinzellen mit den zahllosen, dunkel sprudelnden Rauchkrügen auf den Dächern, mit den Schiffsmasten, die hinter den Mauern der Werften und Güterhöfe ragen. Der Osten von London mit seinen melancholischen lärmenden Straßenzügen, mit seinen Kurbelklavieren und seinem tragischen Geruch von schlecht gebratenen Fischen, mit seinen zahllosen Kneipen hinter großen Goldbuchstaben auf Fenstern aus geätztem Glas, mit den Strömen von rauchigem Gin, von bitterem Porter, von saurem Ale, die die Gesichter gichtig röten und die Augen der Menschen wässerig machen. Durch die Teile dieses unermeßlichen Triptychons ziehen die rotglänzenden Autobusse ihre Bänder. Das von Strömen frischer Luft durchwehte unterirdische Labyrinth der Röhrenbahnen heftet mit ihren blauen Stationen diese riesige Stadt zusammen. Ein Heer von Polizei, großartig in seiner Ruhe und in seiner Disziplin, bewahrt diese Menschengemeinde vor dem Auseinanderfallen.

Kongreß-Atmosphäre

Ein großer Kongreß, der europäischen Sorgen gewidmet ist, tagt in einem Versammlungsgebäude der methodistischen Kirche, das modern und nüchtern ist wie sein Name. Das Gebäude ist grau wie das alte Hospital, das ihm gegenüber liegt, und seine halbdunkeln Säle befinden sich für das Empfinden mancher Engländer in allzu großer Nähe des klassischen stolzen Parlamentsgebäudes von Westminster. Im Vorsaal des Versammlungsraumes schauen, von elektrischen Querlampen beleuchtet, gemalte Bilder der Königin Viktoria und des Königs Georg auf die Gäste hernieder. Es sind etwa hundert Franzosen und fünfzig Deutsche gekommen. Die englische Beteiligung erscheint leider nicht besonders zahlreich. Die Liste des Ehrenkomitees allerdings weist glänzende Namen auf, aber die Luft, die hier weht, ist weder die der kontinentalen Leidenschaftlichkeit, noch die kühlere Luft der auf praktisch Erreichbares gerichteten Vernunft; es ist ein wenig die Genfer Atmosphäre mit ihrem Gemisch von Aktenmappen-Idealismus und reservatio mentalis-Diplomatie. Zuweilen taucht der grüne faltige Turban eines indischen Besuchers auf, der dunkele Fes eines Ägypters wirkt schon fast unauffällig. Jeder Besucher findet bei seinem Eintreffen einen Brief, in dem alle die Einladungen verzeichnet sind, die ihn erwarten; diese privaten Luncheons, Teebesuche und Dinners sind der überaus lebendige Hintergrund des Kongresses, sie führen zu Begegnungen, zu kleinen Reisen in allen Richtungen der Weltstadt, zu Familien und Anstalten. Das Ministerium der öffentlichen Arbeiten gibt einen Abendempfang im Lancaster House, einem jener Paläste, die früher von den Familien des englischen Hochadels bewohnt waren und neuerdings für öffentliche Zwecke verwendet werden. Das Haus ist in ein Museum der Stadt London verwandelt, in ihm bieten jetzt die großen Glaskästen mit den Hermelinen und Hofroben englischer Königinnen und Prinzen den prächtig leblosen Hintergrund einer unübersehbaren Gesellschaft in Fräcken und Orden, Reiseanzügen und Wandervögelkluften. Der Reiz und die Enttäuschung solcher Empfänge liegt in der Flüchtigkeit der Begegnungen, in der aphoristischen Abgerissenheit der Gespräche, im Unverbindlichen aller Eindrücke. In den Vitrinen eines entlegenen Saales befinden sich Tonkrüge, die im siebzehnten Jahrhundert am Themseufer ausgegraben wurden, kein Zettel verrät eine Vermutung über ihre Herkunft. Man könnte meinen, es seien vorgeschichtliche Funde. Aber es sind Weinkrüge, wohlerhaltene Bartmannkrüge aus der Kölner Gegend, vermutlich stammen sie aus den Trinkstuben der deutschen Kaufleute, die im 14. und 15. Jahrhundert in London Handel trieben. Ihr Sitz, der Stahlhof der in Köln gegründeten Hansa, lag da, wo jetzt die Straße Cheapside verläuft, die damals eine wichtige Marktstraße war.

Nuancen

Ich genieße den Vorzug, der Gast einer Familie zu sein, deren Oberhaupt seine Tage in vollkommener Regelmäßigkeit einer ihm unterstellten wissenschaftlichen Bibliothek widmet. Die Wohnung ist zwischen dem Bibliotheksgebäude und einer alten Kirche an einem der ruhigen Squares im Herzen Londons. Die Bibliothek ist aus einer vor zwei Jahrhunderten gemachten Stiftung hervorgegangen und steht einem wohlanständigen Publikum von Geistlichen und Studenten zur Verfügung. Der Morgen des alten Herrn beginnt mit einem Blick in die Zeitung unter den alten Bäumen der Squares, die in die Fenster des Hauses ihre grünen Schatten werfen. Schlag acht Uhr ruft das Gong den Hausherrn auf seinen Posten. Er präsidiert der Morgenandacht und dem Frühstück der versammelten Familienmitglieder. Eine halbe Stunde später trennen sich die Wege der Tischgenossen. Der alte Herr begibt sich in seine Amtszimmer, auf die geräuschlose Kommandobrücke seines geräuschlosen Schiffes, das mit seiner Fracht von Büchern, mit den gedunkelten, doch keineswegs verstaubten Bildern seiner sonst vergessenen Stifter und früheren Verwalter, mit seinen Schätzen an mittelalterlicher theologischer Literatur, seinen hebräischen, griechischen, lateinischen Textbüchern, seinen sorgfältig verwahrten Handschriften aus der Zeit Wiclefs, mit seinen Protokollen vergessener Religionsgespräche, mit seiner altersschwarzen beglaubigten Totenmaske Cromwells, seiner vor hundert Jahren ererbten und niemals angetasteten kompletten Sammlung der Schriften Jakob Böhmes, – seinen ruhigen Weg durch die Jahrhunderte fortsetzt, als ob es Tagesereignisse nicht mehr gäbe.

Die großen, ziemlich stark besuchten Abendversammlungen des Kongresses sind heftige und erregende Angelegenheiten im Vergleich mit der absoluten Friedfertigkeit dieser stillen Welt, die ein seltenes und schönes Stück des englischen Alteuropa darstellt. Mit einer Ungeduld, die morgens die reine Freude auf die Weltstadt, abends mehr ein innerer Widerspruch gegen ein Übermaß von Reden ist, breche ich jedesmal aus diesen Umgebungen aus, um die Stadt zu durchmessen. Die Reise auf dem schnellfahrenden Autobus ist sicherlich den Einheimischen, die ihren Tagesdingen nachgehen, ein geringeres Vergnügen als mir; ich finde keine bessere Art, um die Stadt wiederzuerkennen. Das Innere scheint luftiger und großartiger geworden. Früher gab es hier viele alte enge Gassen mit kleinen Dickensschen Häusern, einen Buchladen neben dem andern. An ihrer Stelle stehen neue Gebäude wie das Australia Haus. Ihre stolzen grauen Fronten und großen Glasscheiben bestimmen den luftigeren und großartigeren Eindruck, den das Zentrum heute macht. An einer der Straßenkreuzungen zwischen dem Britischen Museum und Tottenham Court Road wehte einst der übersüße Küchengeruch einer Marmeladenfabrik, der sich mit den dumpfen Fett- und Lavendelgerüchen einer Seifenfabrik vermischte. Heute ist auf den Straßen neben dem herben trockenen Hauch der Shagpfeifen nicht einmal der einst typische Geruch der Gummimäntel geblieben. Shagtabak ist der Bart der Bartlosen. Dieser kräftige, fast tierisch aufreizende Rauch des körnig geschnittenen, braunblondmelierten Krauts an den hunderttausend Stummelpfeifen von London! Aber die anregende, atemversetzende Nuance des eigentümlichen Mischduftes nach starkem Tee, Kochgas und Schmalzgebäck in den wie damals überfüllten Teerestaurants der City ist unverändert wie die Auslage dieser Läden mit ihrer Überfülle von Pasteten und angeschnittenen gelben Kuchen. Die lackglänzenden Kutschen, Viktorias, Breaks in gewissen Entresols der Oxfordstreet haben allen erdenklichen Formen von Luxusautomobilen Platz gemacht. Die Kinos an der Straße haben Hoteleingänge und hohe pompöse erstaunlich vornehme Säle. Man zeigt einen Marinefilm, die technisch fabelhafte, erregende Darstellung einer Seeschlacht an Bord eines modernen Panzerschiffes, eingefügt in den Liebesroman einer japanischen Dame und eines englischen Seeoffiziers.

Lichter, Dunkelheit und Laternen

In dieser Stadt ist nichts gewaltiger als die Nacht. Der Widerschein von London in den Wolken ist gering, ungeheure Finsternisse verbergen sich hinter Lichtreklamen, die das Auge blenden. Diese Lichtreklamen, ein paar schwarze goldgeränderte Rauchwolken, der Strom mit seinen dumpfen Brücken fast ohne Laternen, das ist alles. Der Autobus schwirrt wie ein Pfeil durch die schnurgeraden, kaum noch belebten Straßen irgendeiner der Querverbindungen. Jetzt beginnt schon der eigentümliche Ost-London-Geruch nach halbverbrannten Lumpen und nassen Steinen. Ich fahre, neben den zuweilen auftauchenden Reihen rubinroter Fahrdammlaternen, durch die Unendlichkeit der Old Kent Road bis auf den dunkeln, schon fast wieder vorstadtmäßigen Hügel von Southwell und muß eine Strecke zu Fuß zurück. Um neun Uhr sieht man die vielen ärmlichen Fischbratereien, die in den halbdunkeln Häuserreihen wie große Lampen glänzen, von dichten Gruppen von Frauen und Kindern gefüllt, die mit ihren Schüsseln und Körben warten. Noch um zehn Uhr sieht man spielende Kinder, müde und schlampige Frauen auf den Treppenstufen der kleinen unbeleuchteten Wohnhäuser, deren Scheiben kahl und staubig glitzern; Frauen an den Straßenecken, Silhouetten von Männern vor den hellbeleuchteten Lokomobilen der Bouillon- und Kartoffelküchen. Die Süßigkeitenläden, die Obstgeschäfte sind noch offen. Mitten in einer Reihe verdunkelter Schaufenster beglänzen elektrische Leuchter die lackierten Särge eines Begräbnisunternehmens. Alle diese kleinen Züge wirken scharf und grausam schamlos wie in China. Bis um elf Uhr sind die Kneipen an den Straßenecken gefüllt. Jede dieser Kneipen hat drei oder mehr Eingänge, doch führt jeder nur in einen ganz engen Raum, der durch eine von der Wand bis zur Bar gezogene Verschalung vom nächsten abgetrennt ist. Der Barwärter, der mit seinen Gehilfinnen in der Mitte seines hufeisenförmigen Schankbords hantiert, übersieht alles in einem Nebel von Tabaksrauch und Whiskydünsten. Auf dem mit Sägemehl bestreuten Boden stehen die Menschen so dicht wie ihre halbausgetrunkenen Gläser auf den nassen schmalen Borden; schmutzige Hände leeren immer wieder den neben der Tür stehenden Topf mit scharf gesalzenen Krabben.

Auf einmal umschließt mich ein von Bogenlampen taghell bestrahlter Zirkus an der Blackfriars-Brücke. Dort finden Boxkämpfe statt. Das Publikum besteht ausschließlich aus Männern. Es ist ein eifrig mitschaffendes Publikum, das mit Johlen, Lachen und Pfiffen nicht spart. Der Kampf ist von einer bemerkenswerten Roheit; einer der beiden schweißglänzenden Boxer ist blutig zugerichtet und kaum noch fähig auszuhalten, aber das Treffen wird bis zur zwölften Runde ausgekämpft. Die harten Schellenzeichen des Preisrichters, das Emporheben der Signale, das blitzschnelle Herauf-Entern von je vier weißgekleideten Assistenten, die den erschöpften Kämpfern während der Pausen mit großen Handtüchern Kühlung wehen, die Glieder massieren, die Wasserflasche an den Mund setzen; das ständige Wiedereinsetzen und Unterbrechen der Spannung, das alles ist von großer Intensität. Auch das ist ein Stück von Altengland, einer der festeren Sehnenstränge im Körper des Seevolkes, dessen feinempfindliche Nerven ganz anderswo verlaufen.

Unter Straßenlaternen öffne ich eine Zeitung, die Evening News. Zwischen Inseraten von Modegeschäften, Meldungen von Selbstmorden und Schiffsunfällen, Berichten über die Sportbekanntschaften des Prinzen von Wales in Kanada und Nachrichten über den Leichengeruch, den das Schlachtfeld vor Schanghai nach den letzten Kämpfen zwischen Chinesen und Japanern verbreitet, steckt eine Notiz, daß es von der britischen Flotte mit Unbehagen aufgenommen würde, wenn man etwa auf den Gedanken kommen sollte, sie zu einem Polizeiorgan des Völkerbundes zu machen.

Empire-Ideologie

Eines der farbensatten, typographisch schönen Plakate der Weltausstellung, die gegenwärtig in Wembley stattfindet, zeigt einen Aufmarsch der Männer, die das Weltreich gemacht haben. Es sind Seeleute, Staatsmänner, Truppenführer in historischen Uniformen, es sind Inder und Buren unter britischen Fahnen. Der Stadtteil Wembley liegt außerhalb Londons wie der Mond außerhalb der Erde. Aber das aus dem ganzen britischen Kosmos geborgte Licht dieser bleichen Ausstellungsstadt strahlt tausendfach auf London zurück. Der Weg der Autobusse geht schließlich durch eine Wiesenlandschaft und endet bei einer jener kleinen roten Vorstadtsiedelungen, die längst nicht mehr außerhalb des großen Atems von London sind. Jede Minute bringt neue Schwärme von Autos und Autobussen in die Eingangshöfe der Ausstellung. Der Besucher studiert die großen Relieflandkarten im Regierungsgebäude, die zahllosen Feldzugsreliquien des Kriegsdepartements, die nach Sandelholz und Jasmin duftenden Verkaufshallen der indischen Abteilung, die riesigen Guckkästen der Canadian Pacific-Eisenbahn und die großartige, etwas kindische Phantastik der Vergnügungsunternehmen, besonders der Tanzplätze und des Großen Rades, dessen zwanzig Waggons geräumig wie D-Zugwagen sind. Unter den kleineren Pavillons, neben einem elektrischen Melkapparat, der an einer ausgestopften Kuh demonstriert wird, interessiert mich ein Glashaus. Es enthält nichts als eine ausgiebige Sammlung von Büchern und billigen Broschüren. Es erweist sich als eine Propagandastelle der British-Israel World Federation. Es ist der Zweck dieses eigentümlichen Zweiges der populären Literatur, mit einem beträchtlichen Aufwand unkontrollierbarer Philologie, Geschichtsphilosophie, Metrologie, Symbolistik und Rassentheologie auf die Abkunft der angelsächsischen Stämme von den seit der babylonischen Gefangenschaft verloren gegangenen zehn Stämmen Israels hinzuweisen. Fünfzig Gründe werden für diese Theorie aufgezählt, darunter einige ausdrückliche Verheißungen der Bibel auf die Größe des englischen Weltreiches und seiner Flotte, die angeblich direkte Abstammung der englischen Dynastie von dem König David, das besondere Interesse des Apostels Paulus für die Briten, die Beziehungen der Iren zu dem Propheten Jeremias, der Schotten zu den Skythen, der Sachsen zu den Söhnen Isaaks, des Union Jack zum Namen des Erzvaters Jakob, die Bedeutung der Löwen und der Harfe im Reichswappen, das in ihren freundschaftlichen Beziehungen zu den orientalischen Christen »nach Osten offene Fenster der anglikanischen Hochkirche«, der alttestamentliche Charakter englischer Sitten und Gesetze, die britische Herrschaft über Großpalästina einschließlich der Euphratländer, des Sudan und Ostafrikas. Da kommt mir in Erinnerung, daß übrigens auch andere Völker ihre Auserwähltheits-Theorien haben. Wie ist es mit den Franzosen? Und sogar die Russen haben eine Bewegung, die sie »Skythentum« nennen. Wer weiß, ob nicht eines Tages die Sachsen in Pirna Anspruch auf einige Nebenprodukte der englischen Auserwähltheits-Theorie erheben werden, die für britische Interessen, homöopathisch angewandt, sehr zuträglich ist und bis jetzt eine ernste Kritik nie gefunden hat. Diese britische Israeltheorie ist jedenfalls ein fein vernebelter Versuch, das Schwergewicht eines religiösen Mythos, auf den offenbar die europäische Kultur nicht verzichten kann, von Rom hinweg nach den britischen Inseln zu verlegen. Gewiß, jedes Volk spürt sich selbst als einen Gedanken des Schöpfers, es hat seine eigene Schönheit, seine Charakterkraft, seine Sprachmelodie, seine Aufgaben, und den Völkern allzusammen macht die Natur es nicht immer leicht, einander zu verstehen oder gar zu lieben. Was soll aber daraus werden, wenn jedes eine Lehre seiner Unfehlbarkeit ausbrütet, um den andern mit Erstgeburtsrechten aufzuwarten, die doch niemals genügen, so vergängliche Zugaben des Schicksals, wie äußere Machtfülle und Wohlergehen, als ewige Ansprüche zu begründen.

Jordans

Das Auto des Freundes setzt mich an einer belebten Straßenkreuzung ab, ich renne einem Portal zu, das ich für den Eingang von Euston Station halte, aber es ist das Euston Hotel; trotzdem erreiche ich mit fortgesetztem Geschwindschritt gerade noch den Zug der Great Western. Nach vierzig Minuten bin ich in Seers Green, einer freien Haltestelle neben einem riesigen Golfplatz in der leichtgewellten, von Hecken durchzogenen Landschaft. Es regnet sanft und silbern auf den grünen Pelz der Wiesen, es prasselt leicht und lieblich in den alten Bäumen am Wegrand. Hölzerne Gatter umschließen die Pferdeweiden. Kein Mensch ist auf dem Feldweg, der für den Gebrauch der Radfahrer so gründlich asphaltiert ist, daß das Wasser in breiten Lachen stehen blieb. Nach einer Viertelstunde seh ich Jordans; das alte dörfliche Haus war leicht zu finden. Die Wiese, an der es liegt, ist eingezäunt, doch die Luken im Zaun lassen alles sehen. Es ist eine lange Wiese mit schönen dichten Linden an der Seite, ein alter Begräbnisplatz, auf dem einige hundert Menschen begraben liegen; aber nur wenige ganz einfache Grabsteine sind erhalten, zwei unvollständige Reihen, und noch ein paar vereinzelte. Einer trägt die Namen William Penn und Hannah Penn und die Jahreszahl 1718. Hier ist der Gründer des gewaltlosen Staates Pennsylvanien begraben, ein Mann, der Verträge schloß, die nie beschworen, gesiegelt und ratifiziert, doch treu gehalten wurden; ein Staatsmann aus jener Schar, die unter den Friedensfreunden von heute zu den bewährtesten gehört, da ein reines Fühlen ihnen sagt, daß ein so großes Problem wie das des Weltfriedens nur aus der Ganzheit der Weltlage heraus gelöst werden kann, niemals aus dem Winkel einer einzelnen Klasse oder eines Staates und wäre es selbst das britische Weltreich mit seiner stillen und stählernen Polizei. Das Quäkertum, dem William Penn angehörte, ist ein Sproß aus der Ehe des Puritanertumes mit der deutschen Mystik. Es ist sehr englisch, aber seine Herkunft aus den Tiefen des großen Jahrhunderts der englischen Regeneration gibt ihm einen Charakter, der über das bloße Engländertum in allmenschliche Bereiche hinausführt.

Es genügt mir, diesen stillen, wenig besuchten Ort gesehen zu haben, diesen Ruheplatz ohne Kreuze und ohne Blumen, der mit seinem gepflegten Rasenteppich und seiner Lindenreihe tief heimatlich ist und zugleich ein wenig an die Feierlichkeit alter östlicher Begräbnisplätze erinnert.

Die Tür zu dem Bauernhaus an der Wiese steht offen. Drinnen ist ein schmuckloser Raum mit sauberem Ziegelboden, kahlen Wänden und oft gewaschenen hölzernen Bänken. Den Bankreihen steht etwas erhöht die Galerie gegenüber, auf der einst die Ältesten der ländlichen Quäkergemeinde Platz zu nehmen pflegten. Wenn man da drinnen sitzt und ein wenig den Kopf wendet, sieht man ins Grüne. Wenn ich die Quäker nenne, meine ich nicht eine Sekte, deren Frauen vor nicht langer Zeit noch den grauen Überwurf und die Haube trugen, sondern eine religiöse Gesellschaft, die sich Menschen aus allen Völkern freundschaftlich verbunden weiß, weil sie, ohne Dank zu erwarten, im Weltkrieg und lange nachher viel Gutes an leidenden Menschen tat und immer bereit war, Frieden zu stiften. An der Rückseite des Hauses ist der längst geräumte Stall, in dem einst die Besucher der einfachen schweigenden Andachten, die schon vor zwei Jahrhunderten hier stattfanden, ihre Pferde unterzustellen pflegten. Unter dem Dach ist eine niedere Stube mit Großväterhausrat. In der Küche verbreitet das offene Feuer im Kamin eine solide Wärme, und ich gehe mit einem Gruß an den Hausbewohnern vorüber, die in der Dämmerung ihren Nachmittagstee bereiten.

Ein Herd von Meinungen

Da sind die endlosen Straßen. Die lärmenden Märkte am Samstagabend. Die grauen, von Stürmen der großen Arbeitervorstadt umwitterten Kirchen, an deren Zäunen dringende, telegrammähnliche Einladungen befestigt sind. Die gaffende Menge am Eingang der Nebenstraßen mit dem Akrobaten und dem Fesselkünstler und dem Pistonbläser in der Mitte. Die rostigen Türen, an denen Firmennamen und Verordnungen in hebräischer Schrift kleben. Die namenlosen feuchten Mauern der Docks. Die dürftigen Fischzüge der Syndikalisten und der Heilsarmee mit ihren heiseren Rednern neben den Schlupfwinkeln kragenloser Apachen und heulender, blaugeschlagener Frauen. Dieses ganze östliche London ist trotzdem nur der Ausschnitt aus einer Stadt von sieben Millionen. Die eigentliche Bevölkerung ist ein kleiner Mittelstand von Angestellten, Geschäftsleuten und bessergestellten Arbeitern. Kirchen, Bethäuser und Kneipen sind überall und erzeugen gemeinsam das, was schließlich die öffentliche Meinung von London ist, und die öffentliche Meinung von London beherrscht einen erstaunlich großen Teil der Welt. Man muß schon die Technik englischer Staatsmänner haben, um diese öffentliche Meinung, die wie irgendeine ihre Bretterzäune hat, jeweils einen Zoll weiter nach links oder rechts zu rücken und sie für Überraschungen offen zu halten. Hier ist auch Deutschland nur das, was die Pennyblätter daraus machen, ein kurioses Land, das nicht viel bedeutet.

»Times«

In dem Zuge, der am Sonntagmorgen die Victoria Station verläßt, ist eine Gruppe übernächtiger Herrschaften, die unförmige, große Gegenstände in eleganten Futteralen mit sich führen. Es sind die Mitglieder einer Jazzband, die bis zwei Uhr nachts gearbeitet hat und sich jetzt auf einer Reise nach dem Festland befindet. Um ein Reisegrammophon versammelt, studieren sie später in einem Winkel des Schiffssalons die eben aus Amerika eingetroffenen neuesten Negerplatten.

Ich finde in der »Times« einen Aufsatz des Dichters John Drinkwater über ein Buch von Alfred Noyes, das mich wegen einiger Bemerkungen über Shelley interessiert und mir den Wunsch eingibt, daß diesen Denkern die kleine, wenig beachtete Schrift des Gießener Anglisten Theo Spira über Shelley bekannt würde, die mir als ein besonders schönes Zeugnis wesenhafter Philologie erscheint. In derselben »Times« schreibt Mr. Amery, früher Lord der Admiralität: der Sicherheitsfaktor der englischen Flotte sei bereits so niedrig, daß es undenkbar sei, ihren Aktionswert durch irgendeine Erweiterung ihrer Aufgaben noch mehr herabzumindern. Das suggeriert ja den verblüffenden Ausweg, diese Aufgaben, sofern sie jemals vom Völkerbund kommen sollten, durch noch größere Rüstungen wettzumachen!

Auf der Konferenz machte ich übrigens die Bekanntschaft eines Slowaken, der durch eine temperamentvolle Rede für die Unabhängigkeit der Minderheiten auffiel. Ich treffe ihn an Bord wieder in Gesellschaft eines Schwarzen, eines Mediziners, der Wembley gesehen hatte. Er nannte Wembley eine imponierende Sache, äußerte aber bestimmte Hoffnungen auf eine künftige vollkommene Unabhängigkeit Afrikas von allen weißen Mächten; die schwarzen Armeen von Frankreich könnten einmal für die künftige Erhebung ihre Bedeutung haben. Er sprach auch von Gandhi, auf den die ganze Welt sehe, er sei ein erhabener Mensch, aber die indische Nationalbewegung werde über seine Skrupel hinweggehen. Dieses Gespräch erinnerte mich an die Begegnung mit einem anderen Herrn in einer Londoner Gesellschaft, einem Kopten, der sich als ein glühender Anhänger der ägyptischen Nationalbewegung erwies und sagte: Wir wollen die Unabhängigkeit von England, die vollkommene Unabhängigkeit, und wir bekommen sie.

Es wird Anstrengungen kosten

Im Koffer habe ich einen Farbendruck, ein Bild des vor ein paar Jahren auf einsamer Hochgebirgsgrenze zwischen Argentinien und Chile errichteten Christusdenkmales, das aus der Bronze eingeschmolzener Kanonen gegossen und als ein ewiges Friedenszeichen zwischen beiden Staaten errichtet worden ist. Eine alte Dame in Chelsea, die eine Anzahl Kongreßteilnehmer in ihr Haus eingeladen hatte, war auf den hübschen Einfall gekommen, jedem ihrer Gäste ein Exemplar dieser Abbildung zum Geschenk zu machen und die Hoffnung auszusprechen, daß einmal ein ähnliches Denkmal im Rheinland errichtet werden möchte, zum Zeichen, daß die Streitaxt zwischen Deutschland und Frankreich für immer begraben sei. Jedenfalls, der Kongreß war nützlich. Er lehrte sehen, daß es größere Anstrengungen kosten wird, einmal ein solches Denkmal guter und argloser Nachbarschaft in den offenen Breiten des Rheintales zu errichten als an den Schneegrenzen eines weltentlegenen Hochgebirges. Aber auch welche Hoffnungen könnten dann mit einem Zauberschlage lebendig werden!

Feldgraue

Die holländischen Grenzstädte wimmeln von einberufenen Soldaten. In Breda, in Bergen op Zoom, in Venlo ist Kirmes und Manöverstimmung. Aus den Wirtschaften dringen die schmelzenden Stimmen der Balladensänger, die Leute stehen bis auf die Straße. Vor abendlich erleuchteten Läden stehen die üblichen Karren der Straßenhändler mit Heringen und geräucherten Aalen. In eine Bierwirtschaft, wo sich die Gäste an Schüsseln voll Muscheln gütlich tun, tritt eine Gruppe junger Soldaten mit einer Mandoline, vollführt ein mißtönendes Konzert und beginnt zu sammeln. Einige Gäste werden ärgerlich und bezeichnen diesen Bettel als eine ganz niederträchtige Verunglimpfung des Militärs. Wie? Es scheint den alten Ländern von Jahr zu Jahr immer schwerer zu werden, ihre Regimenter mit wirklich gutwilligen und fröhlichen jungen Leuten anzufüllen. Welche Idee wird eines Tages zünden und die Jungen wieder kampflustig machen? Wann werden sie kämpfen, mit welchen Mitteln und für was? Für das neue, ganze Europa? Und gegen welche Völker, in denen sie nicht unser eigenes Abbild wiedererkennen würden?


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