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Die Stadt, genannt Die Ferne

Boulevards

Dalny liegt mit seinem noch unvollendeten Hafen in einem weiten Kranz von kahlen, rötlichen Bergen. Kleine Droschken, die aus der russischen Zeit zurückgeblieben sind, fahren die Ankömmlinge in das Gasthaus der Südmandschurischen Bahn. Es ist eine halbstündige Fahrt mitten durch die Stadt über den hundert Meter breiten Boulevard, der jetzt Schikischima Matschi heißt. In der Russenzeit führte er zu Ehren des Berges, den man jenseits der Bucht als das eigentliche Wahrzeichen der Stadt erblickt, den Namen Samssonskij Bulwar; der Berg heißt Mount Sampson, und zwar zu Ehren eines englischen Admirals, der diese Bucht in die Landkarte Asiens eintrug. Vom Hafen aus verzweigen sich die Schienen der neuen elektrischen Straßenbahn, deren Gesamtnetz dreizehn englische Meilen lang ist, durch die weitläufige Stadt. Die mit der Gleichmäßigkeit eines riesigen Spinnennetzes angelegten Straßenzüge erwecken den Eindruck einer amerikanischen Normalgroßstadt; ihre breiten Prospekte laufen strahlenförmig auf dem großen kreisrunden Platze zusammen, sie erinnern an die Perspektiven des Petersburger Newskij-Viertels. Monumentale Fassaden stehen da, Baumassen wie die von Versailles, Dächer und Türme ragen. Noch sind viele Grundstücke des nach einem einzigen Schema zerlegten Bodens gänzlich unbebaut, viele höchstens von Bretterzäunen umgeben. Ganze Straßenzüge sind nur noch an der Fluchtlinie vereinzelter Häuser zu erkennen, und auch in den geschlossenen Häuserreihen der inneren Stadt, die wie die Speichen eines Rades auf den von einer doppelten Baumreihe umgebenen ehemaligen Nikolaiplatz zu laufen, herrscht die Öde des Unfertigen. Hier stehen die stattlichsten Gebäude, die gerade im Rohbau vollendet waren und jetzt unbewohnt zerfallen: das Haus des Chefingenieurs, dem vom russischen Finanzministerium der Bau und die vorläufige Verwaltung von Dalny übertragen war, der Palast der Russisch-chinesischen Bank, das Theater, das Gericht, der Städtische Klub. Von der Stadtmitte führt der jetzt nach dem Marschall Ojama benannte Boulevard zu einer mit Kandelabern bestandenen Straßenbrücke und über das Eisenbahngeleise. Sie ist der Zugang in die sogenannte Verwaltungsstadt. Dort ragt auf einem Hügel die Kathedrale. In ihrem Schatten wohnten einst die Beamten der russischen Eisenbahnverwaltung in herrschaftlichen, von Gärten umgebenen Häusern. Auch die Verwaltungsstadt hat einen großen Platz in der Mitte. Dort steht die steinerne, rohe, russische Front des jetzigen Gasthofes der Südmandschurischen Eisenbahn.

Die große Verbindung

Seit dem Schicksalstage, dem 26. Mai 1904, als die russische Bevölkerung auf die Nachricht von der Landung der Japaner in wilder Flucht nach Port Arthur aufbrach, hat diese Stadt ihre Bewohner bis auf den letzten Mann gewechselt. Plündernde Chinesen trieben tagelang, bis zum Einzug der japanischen Truppen, ihren Unfug in den verlassenen Häusern. Nach dem Friedensschluß kehrte nicht eine russische Firma zurück. Privater Grundbesitz war nur in geringem Umfange vorhanden, der riesige Boden gehörte dem Finanzministerium, das mit einem Aufwand von nahezu hundert Millionen Rubeln hier am Endpunkte der sibirischen Überlandbahn die künftige Großstadt auf Spekulation erbaute. Man zeichnete den Plan einer gigantischen Stadt auf dem Reißbrett, begann unverzüglich zu bauen und sah erst nach der Gründung, daß man in der Wahl der nach Norden offenen, von ungünstigen Meeresströmungen beeinflußten Bucht nicht mit Umsicht verfahren war. Graf Witte – welch ein Gipfel von Macht und Großzügigkeit war einmal dieser Name! Aber trotzdem die Wittesche Verwaltung durch alle erdenkliche Reklame und tausend Einwanderungserleichterungen den Zuzug des internationalen Handelselementes begünstigte, trotzdem diese Gründerstadt, dieses Klondyke, diese Stadt, die den Namen des Zaren Nikolai II. auf die Nachwelt bringen sollte wie Petersburg den Namen Peters des Großen, dem älteren Wladiwostok die schärfste Konkurrenz machte und Wohnungen entstehen ließ, die Raum für Hunderttausende bieten wollten, erreichte die Bevölkerung mit ihrem Heer von Beamten und Arbeitern nicht zwanzigtausend Menschen, während das benachbarte, unter der Verwaltung des Kriegsministeriums stehende Port Arthur rasch auf vierzig- und sechzigtausend russische Einwohner anschwoll.

Die Japaner haben die Anregung, die in der Gründung dieser Stadt enthalten war, aufgenommen. Dalny heißt »Die Ferngelegene«, fern von Europa. Jetzt trägt sie den Namen Dairen, »Große Verbindung«, und dieser neue Name bezeichnet, was die Eroberer von den übergroßen, unvollendeten Anlagen, die sie vorfanden, erwarten. Sie setzten ihre Kräfte daran, das Vorhandene auszubauen. Dairen soll den Japanern das Calais des Ostens werden, die bequeme Verbindung des Inselreiches mit den schlecht verteidigten chinesischen Nordprovinzen, das Tor zur Mandschurei, zu einem der reichsten zugänglichen Teile des asiatischen Festlandes.

Torso

Niemals würde aus japanischen Köpfen die ungeheuerliche Idee dieser Stadt entsprungen sein. Auch als Gespenst, als Torso, ist sie noch ein unvergängliches Denkmal der zarischen Macht. Das einzige, was diese jetzt von fünfzigtausend Japanern und kaum sechzig Europäern bewohnte Siedlung beim ersten Blick von den russisch gebliebenen Städten des fernen Ostens unterscheidet, ist die Sauberkeit, die ebenmäßige Glätte ihrer Straßen. Riesenhaft wie die Ausdehnung des Stadens, der mit seinen vorgebauten Molen nicht weniger als zehn Kilometer lang ist und durch gewaltige Wellenbrecher geschützt werden mußte, ist der ganze Plan der Stadt. Sie besteht eigentlich aus mehreren selbständigen, durch leere Landstreifen voneinander getrennten Städten, die man gleichzeitig zu bauen begann. Nicht weit vom Hafen entstand die sogenannte Hafenstadt mit den Kontorgebäuden, den Speichern und Lagerhöfen der Firmen. Daran schloß sich die Europäerstadt, wiederum in mehreren getrennten Vierteln, im Westen die Kleinhäuser für die Masse der kaufmännischen Angestellten, im Osten eine luftige, helle Villenvorstadt über der Bucht. Den Maurern, Zimmerleuten, Tagelöhnern, die am Hafen und beim Häuserbauen beschäftigt waren, baute man ein besonderes russisches Handwerkerdorf. Man nannte es die Olonetzkaja Sloboda, denn den Stamm dieser Handwerker bildeten Wanderarbeiter aus dem nordrussischen Waldgouvernement Olonetz. Die Europäerstadt war für ausländische Kaufleute bestimmt, für Deutsche, Engländer, Amerikaner. Dort sorgte man für Parks, Spielplätze und Anlagen. Man legte den Grundstock zu einem Zoologischen Garten, gründete ein Stadtmuseum, errichtete ein Gebäude für die künftige Börse, ein Knaben- und Mädchengymnasium. Am Fuß der Berge ebnete man den Boden für eine Rennbahn. Ein Chinesenviertel entstand im Südosten, wieder ein Gebiet für sich, von der Europäerstadt durch ein breites unbebautes Feld getrennt.

Schon am Tage wirken die Straßen Dalnys in ihrer Großspurigkeit fast leblos. Die Abende sind noch stiller und trauriger. Das Licht der Läden und das Geräusch des Verkehrs bleibt nur noch in der Nähe des großen Platzes übrig, und auch hier nur in den Nebenstraßen, den engen häßlichen Alleys zwischen den Rückenmauern der Hauptgebäude. Da brennen die Gasflammen der Volksküchen, da schaukeln die weißroten japanischen Windlampen über den Waren der Lebensmittelverkäufer, Mechaniker und Leinenwarenhändler. An den größeren Straßen leuchten hell die Kinos. Glanz strömt aus den Gewölben eines Warenhauses. Es gibt hier einige nicht besonders verlockende Gasthäuser, wo man für billiges Geld eine Flasche Bier und ein Beefsteak erhalten kann. Wer andere Vergnügungen sucht, mag sich nach dem Fuschimipark begeben. Er liegt draußen, umkränzt von Schnüren bunter Lichter, er ist der Anfang eines Vergnügungsplatzes nach amerikanischem Muster. Dort hat die Stadtverwaltung eine Rollschuhbahn, eine Kegelbahn und ein Varieté angelegt; ringsum liegen Sportplätze, kleinere Rennbahnen. Auf der anderen Seite der Stadt, den Eisenbahnwerkstätten zu, nicht weit von dem Seebad Hoschigaura, mit diesem durch eine elektrische Vorstadtbahn verbunden, liegt The Nightless City, ein gewöhnliches Joschiwaraviertel mit einem Zirkus und den hellbeleuchteten Eingängen mit den zahllosen Photographien kleiner, blumenhaft geschmückter Sklavinnen.

Neue Herren

Am Morgen ging ich durch die Verwaltungsstadt. Die Kathedrale ragt aus einem verwilderten Gärtchen. Eine Kathedrale ohne Kreuz ist keine Kathedrale mehr. Das russische Kreuz auf der Turmspitze ist verschwunden, die grünen Eisendächer sind ganz von Rost überzogen, sie haben eine Staubfarbe wie welkes Schilf. Die Fensterscheiben sind zertrümmert, das eiserne Gitter ist zerrissen. Obwohl die geistlichen Gebäude der Stadt nach geschriebenem Völkerrecht im Besitz der russischen Kirchenverwaltung geblieben sind, machen sie doch alle den Eindruck der Verwahrlosung. Christlichen Zwecken dienen sie nur einmal im Jahr; gelegentlich veranstaltet die Church of England in einem Seitenraum der Kathedrale einen Gottesdienst. Im Plan von Dalny waren nur Synagogen und japanische Tempel nicht enthalten; Juden und Japanern war die Ansiedlung verboten. Die Russen hatten den Bau von mehreren griechisch-orthodoxen Kirchen begonnen, auch eine lutherische, eine katholische und eine anglikanische sollten folgen. Die lutherische Kirche war klein und häßlich wie die meisten deutschen Kirchen in Rußland, eine Scheune mit Bänken und kahlen Wänden. Vor ihrer Tür hingen jetzt Zettel mit der Ankündigung eines Vortrages für Japaner in englischer Sprache über »Christentum und Geschäft«.

Zur Verwaltungsstadt gehörten einige mit Vorgärten versehene Wohnhausblocks; Reihen kleiner Häuschen im Schweizer Stil, die durch eine gemeinsame riesige Torfahrt miteinander verbunden sind. Mitten in dieses Viertel legte man den Zoologischen Garten; ein bescheidenes Gehölz mit ein paar leeren Käfigen ist davon übriggeblieben, ein paar eiserne Turngeräte, die lungernden Chinesen zur Unterhaltung dienen. Es ist nicht weit von hier zum Strande. Aus der kleinen Bucht, die auf dem Stadtplan als der Holzhafen bezeichnet ist, wurde ein Anlegeplatz für die Dschunken der koreanischen Fischer. Hinter windschiefen Palisaden haben chinesische Bauern ihre Gemüsegärten angelegt; am Landeplatz steht jetzt das unansehnliche Gebäude des Seezolls. Die Statistik dieser Behörde verzeichnet einen Aufschwung des Handels in Dalny. Die zunehmende Einfuhr von chinesischen Schuhen und Stiefeln gibt einen untrüglichen Aufschluß über die starke Vermehrung der chinesischen Bevölkerung in der Mandschurei.

In der Verwaltung der Stadt haben sich die Japaner an das Beispiel der Russen gehalten. Auch in Dairen tritt das militärische Element hinter dem des Handels ganz zurück. Nur selten sieht man Soldaten, aber die an allen Straßenecken angebrachte Bekanntmachung, die das Zeichnen und Photographieren bei hoher Strafe verbietet, erweckt in dem Fremden ein Unbehagen über den Hauch von übertriebener militärischer Wichtigkeit, der noch immer über dem Pachtgebiet der Kwangtung-Halbinsel weht. Überall begegnen einem die spitzen schwarzen Blicke dieses in europäischen Kleidern unnatürlichen Volkes. Der Europäer ist ihnen auf den großen leeren Straßen wie ein Gezeichneter preisgegeben, und die mißtrauischen Fragen dieser leidenschaftlichen Aufpasser treiben den Gast nicht selten bis an die Grenzen der Höflichkeit. Die Garnison liegt außerhalb der Stadt auf den Höhen der Umgebung. Immer tritt die Südmandschurische Eisenbahngesellschaft als die eigentliche Verwalterin der Stadt hervor. Sie leitet die Hafenbauten, verfügt über Werften und Güterhallen, bestimmt den Fahrplan der Dampfer, die den regelmäßigen Personenverkehr nach den chinesischen Häfen vermitteln; ihr untersteht die Straßenbahn, das Elektrizitätswerk, die Gasfabrik, die Eisenbahnwerkstatt. Daneben führt sie die Aufsicht über die Hotels, die sie in der Nähe aller ihrer Bahnhöfe errichtete. Ihre Fürsorge für die Entwicklung der Stadt zeigt sich bei dem Zustandekommen einer Produktenbörse. Neben den Tafeln mit Warnungen und Verboten sind an den Straßenecken die Stadtpläne ausgehängt, damit sich die Unkundigen nicht verlaufen, denn alle diese Straßen sehen einander ähnlich, entfernen sich aber vom Zentrum aus immer weiter voneinander. Durch ihre Zeitung »Manchuria Daily News« mit den Reutertelegrammen, den japanischen Nachrichten, den Wetterberichten und Kursnotierungen über Bohnen, Weizen und Silber übt die Eisenbahngesellschaft einen genügenden Einfluß auf die öffentliche Meinung aus, um andere Informationsquellen entbehrlich zu machen. Durch ihre Tarifpolitik lenkt die Verwaltung der Eisenbahn den Güterverkehr der ganzen Südmandschurei und bekämpft so die Russisch-chinesische Ostbahn und den Ausfuhrhafen Wladiwostok als böse Konkurrenten. Außerdem verfügt sie über die reichen Kohlenminen von Jentai und Fuschun. Sie ist also mit allen ihren Nebenbetrieben, die zusammen einen kräftigen wirtschaftlichen Organismus bilden und untereinander durch ein gemeinsames Laboratorium für technische und chemische Versuche verbunden sind, nichts anderes als ein riesiger Trust, eine mit Hilfe des japanischen Finanz- und Verkehrsministeriums entstandene und von erfahrenen europäischen Fachleuten beratene Chartered Company, die sich systematisch bereichert und die Einkünfte der japanischen Volkswirtschaft alljährlich um die Zinsen einer halben Milliarde vermehrt.

Die Wagen, Lokomotiven, Fahrpläne und Preise der Bahn sind amerikanisch. Im inneren Betrieb scheint das deutsche Vorbild Schule gemacht zu haben. Noch während des Krieges stellten die Japaner die den Russen abgenommene Bahn auf Normalspur um. Die unerwartete Zunahme der Ausfuhr von Bohnen und die Ergiebigkeit der Kohlengruben gestattete bald den Ausbau eines doppelten Geleises für die ganze Strecke, die Anschaffung eines größeren Wagenparkes, die Erweiterung der Bahnhöfe und der Speicher. Die Mandschurei ist ein Land der Zukunft. Der Boden ist fruchtbar. Der Hafen von Dalny vermag schon jetzt dem internationalen Durchgangsverkehr und den Anforderungen der Güterbewegung, wenigstens in der Hauptzeit der Verladungen, kaum zu genügen. Die Zufuhrfähigkeit der Eisenbahn beträgt fünftausend Tonnen den Tag, die Leistungsfähigkeit des Hafens dagegen läßt nur eine Ausschiffung von viertausend Tonnen zu. Im Winter stauen sich die Warenmengen so gewaltig an, daß sich die Abtragung bis in den Sommer hineinzieht. Industrien beginnen in Dairen zu entstehen. Da man die Erfahrung machte, daß der Eisenbahntransport die im Hinterlande für die Ausfuhr hergestellten Bohnenkuchen beschädigt, so errichtete man Bohnenmühlen nah am Hafen, ganz moderne Mühlen mit deutschen Maschinen. Die größten dieser Mühlen sind natürlich japanisch, aber die chinesischen werden folgen. Schon mahlen dreißig kleinere Mühlen auch in der Chinesenstadt, an den hügeligen, schmutzigen Gassen dieses einzigen Viertels von Dairen, das von fleißigen, zum Bleiben entschlossenen Menschen wimmelt. Und es macht nichts, daß die grobkörnigen granitnen Scheiben dieser Mühlen einstweilen nur von Menschenkraft, zuweilen auch von Maultieren, in Bewegung gehalten werden.


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