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Große Welt

Altes Rußland

Die Schlüssel

Es riecht wieder nach Juchten und alten Säcken, nach Pferden, nach lange getragenen Kleidern, – man weiß nicht, woher auf einmal. Auf dem Steinboden des Bahnhofswartesaales lagern die Bauern mit struppigen Bärten, den Stecken neben sich, und blonde Frauen in faltigen bunten Röcken, aus denen die Schaftstiefel ragen. Dem Büfett gegenüber, wo der gelbe Messingbauch des Samowars blinkt und ein paar Männer Trinkgläser voll wasserhellen Schnapses hinunterstürzen, um sich dann die Backen mit Brot und Fisch und Zwiebeln vollzustopfen, glimmt der Altar mit klaren Kerzen und goldstrahlenden Heiligenbildern durch die taghelle rauchige Halle. Zurückgezogener hängt das kleine Heiligenbild im Wartesaal zweiter Klasse hoch oben in der Ecke und schaut mit sentimentaler Traurigkeit und mohrenbraun wie alle russischen Heiligen aus dem goldenen Ausschnitt seines Rahmens in den Saal hinunter, wo an den weiß gedeckten, mit einer Barriere von Gläsern und Papierblumen besetzten Tischen die Reisenden in Schleiern und Mänteln einander gegenübersitzen und Kohlsuppe mit saurer Sahne mischen oder im Teeglas die Zitronenscheibe umherrühren und flüssige Hitze schlürfen, bis ein wohltätiger Schweiß ausbricht ... Ja, hier hinter Wirballen beginnt ein Leben im großen Stil. Die Züge fahren langsamer, breit, schwerfällig, mit stoßenden schreienden Achsen. Die Lokomotiven brüllen zweistimmig; Stationsglocken schlagen an, ehern wie die Saiten einer riesigen Gitarre. Die Wagen, von Schnee und Staub umhüllt, beschmutzt von den Mahlzeitresten, die die Passagiere zum Fenster hinausschütten, verwittern wie Ozeandampfer auf ihren tagelangen Fahrten. Burschen in schwarzer moskowitischer Mütze schleppen dann mit kräftigen Fäusten die Siebensachen aus dem Zug heraus. Sie gleichen Kürassieren, die sich zum Spaß statt des Küraß grauweiße Schürzen vorgebunden haben und ihre Blechmarke auf der Brust tragen wie ein allgemeines Ehrenzeichen.

In Rußland geht jetzt der Winter zu Ende. Ich bleibe ein paar Tage in Petersburg und ergebe mich wieder der Gewöhnung an Rußlands große Eigentümlichkeit. Schülerinnen eines Mädchengymnasiums trippeln zu zweien über die Moikabrücke; blonde, braune und schwarze Zwölfjährige und Vierzehnjährige, verschmitzte und frische, rotbackige Gesichter, aber all die süße Wildheit dieser Mädchenjugenden gebändigt in der Uniform, in der kleinen, bei allen gleichen Mütze, dem brav gescheitelten Haar, dem schokoladenbraunen Kleid und der schwarzen Schürze. Eine Kirche mit weißen barbarisch breiten Türmen und grellblauen Kuppeln und die breiten rötlichen Häuserfronten zu beiden Seiten des Kanals bilden den Hintergrund. Hier betrete ich die Halle eines vornehmen Hauses. Sie ist groß wie ein Saal. Diener, deren Livreen braun sind wie die Täfelung, melden den Gast. Ein blutjunger Offizier in dem unförmigen, an 1812 erinnernden Tschako der Junkerschule, fährt mit hinauf in dem aus Mahagoni und geschliffenem Glas gebauten Lift. Und in einem Saal, den die mächtigen Fliederbüsche aus den Treibhäusern von Zarskoje in einen Garten verwandeln, sitzen die Damen, hell gekleidet, mit einem feinen französischen Geplauder beim Tee, und wir blättern im Album der Amateurphotographien aus Kissingen, Meran und der Krim. Von den Wänden schauen in goldenen Rahmen die dunkelfarbigen Bildnisse mit Ordensbändern geschmückter Admirale; auf den Tischchen fügen sich in kostbaren Medaillons die zart gemalten Köpfe und die Namenszüge russischer Kaiser zur Gesellschaft; und vor den Fenstern liegen schön wie eine Küste in einer silbrigen Luft die Dächer des Monumentalviertels der Hauptstadt: die roten Fronten und Giebel des Generalstabsgebäudes, der kaiserlichen Paläste und die funkelnden Turmlanzen der Admiralität und der Peter-Pauls-Festung.

Es folgt ein Nachmittagsausflug zur finnischen Grenze. Zuerst eine Fahrt in den roten Wagen der Elektrischen über die blanke Newa hinüber und durch breite Kleinbürgerstraßen; dann die Fortsetzung der Fahrt auf dem Dach eines Pferdebahnwagens, der schwarz ist wie ein Leichenwagen, an der endlosen rosenrot gestrichenen, mit altersschwarzen Kanonen geschmückten Front des Arsenals, an den übermäßig hohen Mauern des Gefängnisses, an gerümpelhaften Fabriken, krassen, nach Kalk riechenden Neubauten und platten Vorstadtgärtnereien vorbei. Endlich ein Marsch über die aufgeweichten Feldwege eines Landgutes unter winterlichen Birken und Weiden bis in ein hölzernes Haus, das ärmlicher und hölzerner ist als irgendeines in Deutschland, aber in dessen Stube eine geschnitzte chinesische Lampe von der Decke hängt, massiv silberne Modelle chinesischer Pflüge und Sämaschinen und Werkzeuge im Glasschrank stehen und in der Dachstube Sättel, Pelze und Seidengewänder durcheinander liegen, wie sie mongolische Fürsten tragen. Wir sitzen am ungedeckten Tisch, essen Trockenbrot mit Honig und trinken heißes reines Wasser dazu. Mein russischer Freund hat seine eigene Auffassung vom Leben; wir reden davon, wie wir beide vor zwei Jahren in unserer weißen Filzhütte in der mongolischen Steppe hausten und unsere von Wölfen gebissenen Pferde ritten. Nun wohnt er wieder in der Nähe seiner Verwandten, denen er sechs Jahre verschollen war. Tagsüber ist er ein kleiner Bankbeamter in der großen Stadt. Und ich? Wo war ich unterdessen? Irgendwo, in drei, vier durch die Eisenbahn verbundenen Städten des europäischen Westens. Will nicht in seinen Augen ein stiller Neid erscheinen, mich wieder unterwegs zu sehen nach dem geliebten Osten, wo uns Wenigen, die wir uns verstehen, das Alte oft so neu und kostbar, das Neue alt und nicht selten zuwider ist? Er mag über Japan die Achsel zucken; aber China? Er geht nicht soweit, zu sagen: Ihr China gibt es nicht. Er hat sein China in Petersburg gefunden, er wurde Führer einer Gesellschaft von Menschen von einer fast insulanerhaft schlichten Lebensweise, das Haupt einer Gemeinde von Einsiedlern. Ich will in China das Li suchen, auf das Sie sich vorbereiten, sage ich ihm scherzend. Dies kurze Wörtchen, so fein wie ein Vogelruf, wird das erste bedeutende Fremdwort sein, das die europäischen Sprachen von China annehmen. Es ist vieldeutig und eindeutig zugleich, also unübersetzbar; und es ist eigentlich nichts anderes als der wohlklingende Ausdruck für Anstand, Schönheit, Maß, innere Höflichkeit, Zeremonie, die jedem das Seine zumißt; der Schlüssel eines ganzen Volkes, das in seinen Handlungen wohl oft unverständlich, ja unbegreiflich, in seinen Schicksalen unglücklich, aber in seinen Gebräuchen unendlich verfeinert, in seinen Riten geisterhaft und daher im Besitz einer bemerkenswerten Seelenruhe ist.

Im Nachhausegehen verbringe ich eine Stunde in der Kasanschen Kathedrale. Ihr monumentaler Bau lockt mich von der grauen hellen Straße in diese feierliche Dämmerung. An glatten roten Granitsäulen hängen an goldenen Haken die fußlangen Schlüssel von fünfundzwanzig eroberten Städten, darunter Dresden, Hamburg und Utrecht. In weißen Marmornischen stehen Napoleons feuer- und schneegetaufte Fahnen in stillen senkrechten Falten. Während die dunkle Menge der Andächtigen schweigend und vom Licht unzähliger Kerzen beleuchtet sich drängt, schreiten Priester in violetten und goldenen Mützen und Gewändern, die Häupter von wirrem Haar umsträubt, durch das hell aufgestoßene Kirchentor dem Innern zu. Und in der Rotunde vor der strahlenden Hauptwand stimmt ein Chor von Sängern, gekleidet wie Lakaien, einen Gesang an. Ihre Kehlen klingen wie das volle Werk einer Orgel. Nur das Lied der menschlichen Brust ist imstande, vom bezifferten Baß bis empor zum jubelnden Diskant der Knabenstimmen eine solche Jakobsleiter freudiger und glaubensvoller Töne aufzurichten.

Unterdessen rollen draußen auf dem Newskij-Prospekt die Wagen in zwei Reihen ohne Ende wie an einer Schnur gezogen. Dreigespanne mit wulstig gekleideten Kutschern, trompetende Automobile, Hofequipagen mit feuerroten Livreen auf dem Bock, schmutzige Mietdroschken, in denen Betrunkene übereinander liegen mit starr ausgestreckten Armen, und Augen, die nur das Weiße zeigen. Es ist ein selten milder Frühlingsnachmittag für Petersburg. Die Sonne verklärt mit starken rötlichen Strahlen die mächtige Perspektive vom Anfang bis ans äußerste Ende in einem einzigen nordischen, unerhörten Licht. Die Häuser scheinen in Flammen getaucht, und all das Metall der Straße, das Glas unzähliger Fenster scheint in einen stillstehenden Strom von Blitzen verwandelt. Die Hauswände strahlen mit der ganzen Leuchtkraft großer Flächen, das Denkmal Alexanders des Dritten vor dem Nordbahnhof am Ende des Newskij-Prospektes beginnt zu glühen wie ein Kupferblock. Wie ein apokalyptischer Reiter leuchtet dieser schwere Mann auf dem breitbeinig eingestemmten Gaule. Der Gaul gräbt den Kopf zwischen die Beine, und der Mann schaut voll seherischer Ruhe nach Osten, über Sibirien hinweg, dessen große Bahn das Werk seines Willens ist.

Expreß

Samstag mittags um zwölf fährt der Sibirische Expreß ab. Der Zug besteht nur aus wenigen Wagen und ist bis zum äußersten vollgestopft mit Menschen, mit Gepäck, mit Proviant und Brennholz. Gruppen von Abschiednehmenden mit Gendarmen dazwischen füllen den Bahnsteig. Die Glocke schlägt an: ein Ausbruch von Umarmungen, Tränen, Tücherwinken. Und dann ganz sacht tritt die nasse schwarzgraue Erde Nordrußlands mit einigen armseligen Hütten in endloser Fläche und zitterigen Birken vor den Blick des Erwartungsvollen. Birke, du armer frierender, zitternder Baum des Nordens! In endlosen Waldflächen erscheinst du dem Auge wie die schneekalte Ausstrahlung der armen grauen Erde. Bis an den äußersten Rand des Festlandes wirst du meinen schmalen Weg begleiten. Ihr jungfräulichen Dryaden, ihr trotzig-zarten Birken, deren bleiche Rinde mit dem Silberglanz des Reifes wetteifert, der euch in endlosen winterlichen Nächten bedeckt. Gespenstische Birken, die auch im Sommer noch an Frost und Schnee erinnern und deren Laub sich im Herbst in Gold verwandelt, daß es funkelt wie das reiche goldbraune Haar der Frauen meiner Heimat, bis es in einer einzigen Schneenacht unter der weißen Last verschwindet. Schlanke, anmutige Birken, die im Frühling von süßen Säften schwellen und deren sehnsüchtig dünnes, schleierhaftes Gezweig, eh wieder alles grün wird, von der Zartheit des Nebels und der Wolke ist!

Die Hände im Schoß, schaut man zum Fenster hinaus und lauscht dem dumpfen Rollen unter den Füßen. Doch die Armut der Außenwelt weist den Blick unwillkürlich ins Gedränge des Zuges zurück. Es gilt, sich zurechtzufinden. Man betrachtet die Gefährten. Die Gepäcknetze sind vollgestopft bis an das Dach mit Koffern und Eßkörben, mit Flinten im Futteral, mit Bettzeug, Pelzen und Rucksäcken; der Haken hängt voll mit Mänteln. Mein Gegenüber ist ein Pope, mein Nachbar ein aufgeschossener junger Mann mit einem Jagdhütchen.

»Wie weit reisen Sie?«

Wir antworten einander fast gleichzeitig: »Bis Charbin.« »Bis Chabarowsk.« »Bis Wladiwostok.«

Dies Ergebnis bringt uns gleich erheblich nahe zueinander. Es bedeutet nichts anderes, als daß wir drei Insassen dieses Abteils eine Woche lang auf diesen rot und weiß gestreiften Matratzen beieinander wohnen werden. Ich schlage vor, zu frühstücken. Allseitiger Beifall. Wir kramen aus. Der junge Grünrock, ein Pole, der auf einem Gut der baltischen Provinzen zu Hause ist, holt zwei geräucherte Zungen nebst einer Mandeltorte hervor, und ich sehe nicht ein, warum sich mein Rucksack mit einer Probe roten Kaviars und einem herzerquickenden Wodka nicht von seiner besten Seite zeigen sollte. Nicht ohne Neugier sehen wir beiden Weltleute den Frühstücksvorbereitungen des Popen zu. Er führt einen unbegreiflich großen Vorrat geräucherter Fische und ein paar Flaschen kaukasischen Weines mit sich. Es ist kachetinischer Rotwein von der süßen Sorte. Natürlich laden wir uns gegenseitig ein, und das Mahl jedes einzelnen von uns erhält nun eine abenteuerliche Abwechslung. Der Pole erklärt, es sei ihm, als ob wir schon zwei Wochen zusammen lebten. Der Pope ist zurückhaltender. Sein Wein mag gut sein, aber es ist nicht recht von ihm, daß er keine Fleischspeisen annimmt und auch meinen Wodka durchaus verschmäht. Ach richtig, er hält das Osterfasten.

Die Landschaft draußen rinnt still vorüber. Zuweilen blinkt aus der Fläche eine Kirche weiß wie ein Leuchtturm hervor. Wir ziehen den Vorhang vor, strecken uns auf den Diwanen aus und suchen Schlaf am hellen Tage. Aber durch die über den Kopf gezogene Jacke pocht leicht und ehern das Rollen der Räder in der ganzen Länge des Zuges, und die gedämpft rumpelnden Achsen skandieren eintönig Lord Byrons Strophe:

»Die Dichtung ist episch und soll einst bestehn
Aus zwölf ganzen Büchern, und jedes enthält
Nebst Lieb und Krieg und starkem Wogengehn
Schiffslisten, Kapitäne, Herren der Welt,
Charakterneuheit – –«

Ganz leise klappert die Teekanne, klirren die Gläser unterm Tischchen mit. Das gleichförmige hohle Rollen, das Knirschen der Wagen erscheint bald nur noch wie neue Art von Stille. Man hört genau, wie im benachbarten Abteil sich jemand auf dem krachenden Polster umdreht.

Wann hält nur dieser Zug einmal?

Selten einmal fängt unser Takt zu schleppen an, und die Breitseite der Wagen pflanzt sich, als sei es immer so gewesen, vor einem einsamen Stationshause und einem Gendarmen auf. Immer wieder steht da derselbe Gendarm in seinem groben erdbraunen Mantel mit den roten Fangschnüren, den silbernen Sparren auf den Ärmeln und dem übergroßen Säbel an der Seite. Immer steht er mitten auf dem Bahnsteig, bloß jedesmal mit einem anderen Gesicht. Kein Mensch steigt ein. Die Passagiere spazieren am Zug entlang und betreiben wie auf Verabredung den Sport, jedesmal erst dann einzusteigen, wenn der Zug schon wieder anzieht.

Die Städte Wjatka und Perm, getrennt durch eine bleiche klare Mondnacht, schwinden vorüber mit ihren halbstündigen Aufenthalten. Abends bringt der Pole sein Grammophon in den Speisewagen. Dann ergreifen einige empfindliche Seelen die Flucht. Andere, die für Musik in jeder Form dankbar sind, bemühen sich, das Instrument mit Hilfe ihrer Taschenmesser aufzuziehen. Denn der junge Mann, der in Tharandt Forstwissenschaft studiert hat und sich Lohengrin und die Lustige Witwe auf seinen Posten in den Wäldern des Amurlandes mitnehmen wollte, hat den Schlüssel zu Hause liegen lassen.

Unser Geistlicher betritt den Speisewagen nie. Er lebt still vor sich hin in seinem Gewand aus glänzendem schwarzen Serge, mit seiner silbernen Brustkette, seinem gepflegten langen Haar. Er liest in kirchlichen Zeitschriften und chinesischen Manuskripten. Nur vor dem Schlafengehen läßt er sich zu einer kurzen Unterhaltung herbei. Er wird im April auf den Schlachtfeldern des japanischen Krieges Gedächtnisgottesdienste abhalten. Er ist ein milder Mann; nur sein Fasten beginnt allmählich uns anderen unangenehm zu werden. Daran sind seine Fische schuld. Ein luftdicht verschlossenes Eisenbahnabteil mit Dampfheizung kann unmöglich günstig auf einen Vorrat von toten Fischen wirken, und wenn es lauter Störe wären. Wir schnuppern, wir halten uns die Nase zu, aber es hilft nichts. Ein Geruch wie in einer Kinderstube beginnt allmählich von unserem Abteil aus den Waggon zu durchziehen. Aber am dritten Tage sind wir daran gewöhnt.

Fast mit Fußgängerlangsamkeit steigt der Zug durch die finsteren Tannenwälder des Ural. Birkenhaine liegen wie bleiche Wolken in der weiten, leicht gewellten Ebene, die sich am asiatischen Abhang des Gebirges öffnet; wir grüßen in ihrem feinen rauchgrauen Geäst schon den ersten violetten Hauch des Frühlings. Im Morgenlicht unterscheiden wir auf einer Bodenschwellung eine Menge niederer grauer Hütten mit Straßen, die breit sind wie Anger und ins Leere auslaufen. Nur die weiße Mauer und die zuckerhutblauen Kuppeln eines Klosters heben sich aus der Mitte ab. Da und dort liegen Backsteingebäude, eines mit dem hoch aufgerichteten Blechrohr einer Brennerei.

Im Bogen umfahren wir jetzt einen stumpfroten Bau mit vier steinernen Wachttürmen an den Ecken. Außen an den Mauern führen ungewöhnliche hölzerne Leitern herab. Soldaten stehen oben wie auf den Zinnen einer Burg, andere halten Wache am Fuß dieser Treppen. Den Mantel übergeworfen, das Bajonett am Gewehr, sehen sie aus, als trügen sie Spieße auf der Schulter. Wir sind jetzt auf sibirischem Boden. Dieses erste solid gebaute stattliche Haus ist ein Gefängnis.

Aber wir sind rasch vorüber. Wie ein Magnet, der uns anzieht, blinken Schienenpaare auf dem Boden. Sie geben sich beim Näherkommen in der Breite eines ungeheuren mit Gleisen gepanzerten Platzes zu erkennen. Eine kleine Stadt stillstehender Züge nimmt uns in ihren Gassen auf. Es sind nichts als rote Güterwagen und graue heizbare Wagen vierter Klasse mit kleinen Fensterchen. Und kaum haben wir den Fuß auf festem Boden, so ist es, als seien wir plötzlich zu einem Heer gestoßen, das sich in voller Bewegung befindet. Auf dem kilometerlangen Bahnsteig unter freiem Himmel umschließt uns ein Gewimmel von Männern, Weibern und Kindern, alle im Schafspelz, Säcke und blechbeschlagene Koffer auf dem Rücken. Sofort teilen wir mit diesem Fußvolk das Gedränge und die Aufregungen seines Lagerlebens. Eine Horde roher Gestalten mit schmutzigen Schildmützen und großen Bärten ist friedlich beschäftigt, den aus blaugehefteten Broschüren bestehenden Inhalt einer zerbrochenen Frachtkiste zu plündern. Auf dem kalten Zementboden lagern Bauernweiber, ihre weißblonden Kinder auf dem Schoß; der Vater, der daneben sitzt, hebt die blecherne Teekanne gen Himmel, um ohne Becher seinen Durst zu stillen. Der Wasserstrahl fließt von oben herab in den weit aufgesperrten Mund. Und auch drinnen im Saal, an den zappelnden Bewegungen des in Dampfwolken gehüllten, die Portionen verteilenden Kochs, der in dieser lärmenden, winterlichen Gesellschaft der einzige weiß und leicht Gekleidete ist, läßt sich ermessen, was solch ein Biwak hungriger Menschen verlangt.

Draußen rangieren Züge, ein Auswandererzug fährt ab. Das unaufhörliche dumpfe Brüllen der mächtig gebauten Maschinen, die diese gleichförmigen, mit Menschen gefüllten Güterwagen hinter sich herziehen, gibt den Vorgängen etwas Fabrikmäßiges.

Wiedererkennen

Hier in Tscheljabinsk lasse ich mein Gepäck aus dem Expreß herausholen und nehme einen Schlitten in die Stadt. Ich bin früher schon zweimal hier gewesen. Damals war manches anders. Es war noch vor dem mandschurischen Krieg, die große Einwanderung hatte erst begonnen. Das Bahnhofsgebäude, das kurze Zeit in seinem Kalkbewurf sehr weiß und neu war, sieht schon baufällig aus. Das kommt von den furchtbaren Wintern, die es seitdem erlebt hat, es kommt von der sibirischen Kälte, die bis zu fünfzig Grad unter den Nullpunkt sinkt. Das sind Kältegrade, die die Erde klingen machen und die Bäume zum Bersten bringen.

Ströme erdentrissener russischer Bauern sind durch dies Bahnhofsgebäude nach Asien geflossen, um von einem unsichtbaren Sämann ausgestreut zu werden auf die weiten Äcker Sibiriens. Gott allein weiß, ob sie Wurzel fassen werden. Schwärme von ihnen kehren entmutigt in die alte Heimat zurück. Es ist, als habe das Gebäude etwas angenommen von der Dumpfheit der Hinausziehenden und dem Kummer der Zurückkehrenden. Ein Jahrmarkt von grauen Baracken für die Einwanderer umgibt jetzt das breite Haus, das damals noch allein im Felde stand. Nur die aus groben Stämmen gefügte Kirche mit den grünen Knäufen ragte schon auf der Anhöhe wie ein Fels. Ich meine, ich sollte sie wiedererkennen, diese ausgefahrene Landstraße und das Birkenwäldchen mit der weißen Mauer und den weißen Grabkreuzen in der blanken Schneekruste. Lauter alte Bekannte, diese tristen grauen hölzernen Häuser in der Stadt, deren zierliche Dachränder wie mit der Laubsäge geschnörkelt sind. Mannslange Eiszapfen hängen daran. Einen Bettler erkenne ich wieder. Er ist nur einen halben Mann groß, denn er hat keine Beine mehr, aber er hat einen mächtigen Bart und trägt einen zerschabten Fuchspelz. Alte Bekannte sind auch diese hausierenden Chinesen mit den Ohrenklappen aus Dachsfell und den wattierten blauen Jacken. Sie kommen wie immer vom Bahnhof, verteilen sich über die Feldwege, klopfen eigentümlich leis und durchdringend an die schweren hölzernen Türen und bringen, wenn man ihnen öffnet, die Inhalte ihres Sackes oder Koffers zum Vorschein. Auch die schwarzäugige Frau in dem Lädchen, wo Zigarettenspitzen aus Mammutknochen zu haben sind, und diese unbewegt im Hintergrund ihrer Buden lauernden Männer, die echte Ural-Rubine, bunte Edelsteinsplitter, kleine milchige Opale verkaufen, lauter alte Bekannte.

Ein paar Stunden später fahre ich mit dem gewöhnlichen Postzug weiter. In einem jener Züge, die geradewegs auf den leeren Horizont lossteuern, mit der grünen kleinen Flagge am letzten Wagen, die ein bärtiger Kondukteur herausstreckt, bis wir außer Sehweite sind und eingehen in das geographische Nirwana Sibirien, den Stillen Ozean des asiatischen Zarenreiches.

Steppe

Diesmal habe ich einen Eisenbahnwagen fast für mich allein. Ein Streckeningenieur leistet mir ein paar Stationen weit Gesellschaft und überläßt mich dann dem Schweigen in dem wackelnden, mit einer silbergrauen Wachstuchtapete und grau und blau gestreiften Matratzen ausstaffierten Abteil. Nur eine schüchterne junge Frau bleibt noch übrig, die nach Tomsk reist, um sich in die Klinik zu begeben. Goethe ist mit dabei in einem Bändchen aus dünnem Papier, und aus den wispernd umgewendeten Blättern überglänzt das alte Deutschland mild und lebhaft diese blöde Steppe mit ihren von welken Gräsern und Schneewasserpfützen bedeckten Mooren. Salzseen blicken wimperlos und trübe wie weit aufgerissene Tieraugen gen Himmel. Immer dieser traurige Anfang! Wir sind in der Gorkaja, der ungastlichen bitteren Steppe des westlichen Sibiriens. Zuweilen begleitet ein rotes Glimmen die Strecke, ein Gitter von Flammen steht ohne Rauch in der Mittagssonne. Es sind die letzten Reste der vorjährigen Vegetation, die monatelang unterm Schnee begraben waren. Jetzt, wo sie endlich wieder zum Vorschein kommen, frißt sie der Funke der Lokomotive. Das Wasser, das man auf der Station zum Teekochen bekommt, ist schwefelhaltig, der Tee wird schwarz davon und ungenießbar. Selbst das Brot schmeckt schlecht, das man auf diesen Stationen von den Bauern kauft, sogar die Eier schmecken verdächtig.

Aber dann glüht Kurgan mit roten Dächern und den orangefarbenen Holzwänden seiner Häuser in der Abendsonne. Jörgensen hat sich am Bahnhof eingefunden, um eine halbe Stunde mit mir zu verplaudern: er ist ein Hamburger Kaufmann, der Butterexport betreibt. Wir reisten vor zwei Jahren zusammen in Südsibirien. Er hat einen Angestellten mitgebracht, einen jungen Holsteiner. Und ehe noch an den folgenden Tagen der Anblick der frisch gepflügten Felder, der schwarzen, riesigen Zedernwälder, der von einem Birkenpark bedeckten Hügelweiten, der Glanz der breiten, noch von mürbem Eise bedeckten Ströme dem Auge zusagt, reden schon diese Tatsachenberichte in ihrer einfachen Sprache das Lob des Landes. Das halbtatarische Kurgan hat seit zwei Jahren seine Bauernhöfe und seine Holzhäuser immer näher zur Bahn hingeschoben. Die leere Strecke zwischen dem Bahnhof und der alten Stadt ist verschwunden, der Bahnhof selbst ist zur Börse geworden, wo die ansässigen und die vorüberfahrenden Geschäftsleute sich treffen. Junge Leute in brandroten Blusen und schäbigen Uniformmänteln und die in schwere Pelze und blauseidene Kopftücher eingepackten jungen Damen wandeln vor den Expreßzügen auf und ab und mustern die Hüte der fremden Damen, die Munterkeit der Deutschen, die schmalen, unerschütterlichen Gesichter der sich Bewegung machenden Engländer und die kurzen, westländisch gekleideten Gestalten der Japaner. Die Passagierzüge, die gewissermaßen für den Lokalverkehr da sind, obgleich auch sie sämtlich die sieben Tage lange Reise zwischen Tscheljabinsk und Irkutsk abzumachen haben, sind für die Einheimischen weniger von Interesse. Vor ihnen versammeln sich an den größeren Stationen die Bauern zu regelrechten Märkten, wo es alle Lieblingsspeisen des Volkes zu kaufen gibt: Fische und Sahne, Eier und gekochtes Gekröse, saure Gurken, Wurst, Honigwaben und das herrliche lockere schwarze Brot. Im Innern dieser Züge mit ihren Geschichtenerzählern, ihren Kartenspielern, ihren essenden und sich in furchtbaren Räuschen umarmenden, auf den Holzbänken ausgestreckten und gesund schnarchenden Passagieren blüht der Weizen der Kondukteure, die zu privaten Abkommen über den Fahrpreis bereit sind und ihren Schützlingen die besten Plätze verschaffen. Wie solch ein Zug auf irgendeiner nebensächlichen Weiche beim Sinken der Nacht den entgegenkommenden Zug abwartet. Seine Bevölkerung schöpft draußen Atem, unter abenteuerlichen Pelzmützen tauchen abenteuerliche Gesichter auf, schmutzige und sehnsüchtige Mienen mit etwas zu großen schwarzen Augen; derbe Kosakenköpfe, spitze Tatarengesichter und blonde stülpnäsige Treuherzigkeit. Aus dem endlos langen Militärzug, der ebenfalls wartet, bricht der rauhe Gesang der Soldaten hervor, Gelächter und der Klang der Ziehharmonika, während die mit Segeltuch bedeckten Formen der Feldgeschütze und Trainfahrzeuge sich gegen den maßlosen dunkelgoldenen Himmel abheben. Gleichzeitig mit dem eintreffenden laternenflackernden Zug setzt der hinausfahrende sich wieder in Bewegung, prompt, wie es sich für dies ungeheure Pumpwerk geziemt, in dem unaufhörlich achtundzwanzig Züge sich in Tagesabständen auf demselben Gleise folgen. Wie auf hohem Meer fährt der Zug durch die lichtlose Nacht der Wälder und über die sanften Wogen der Steppe hin, legt an bei Petropawlowsk, dessen Glühlichter gleich weißen Monden die fahle Ebene bescheinen, und fährt mit ein paar Passagieren weiter, die in dem einsamen Bahnhofsgebäude warteten. Auch sie entledigen sich ihrer Stiefel, sie breiten Kissen und Decken aus und legen sich zum Schlafen nieder, während die Stadt zusammengedrängt wie eine Schafherde in der endlosen Weite zurückbleibt.

Nowo

Der Zug rollt über die siebenbogige Eisenbrücke des Ob. Kanonen und Schildwachen stehen auf den Brückenköpfen, Gendarmen im Seitengang des Zuges passen auf, daß niemand die Ufer und die Brücke photographiert. Auf dem Ufer drüben liegt weit ausgedehnt eine Stadt: hellbraune Holzhäuser mit roten Dächern zwischen dem glitzernden Fluß und dem frostig blauen Himmel. Der Zug bewegt sich durch einen Graben zum Stationsgebäude und hält zwischen einer Menge von Rohbauten, neben unfertigen Lokomotivschuppen, Eisenbahnwerkstätten und Militärbaracken. Wo vor zwei Jahren noch offenes Feld war, beginnen gleich die Häuser um das Bahnhofsgebäude, das damals den kurzen Namen Ob trug und das seitdem den langen Namen Nowonikolajewsk erhalten hat, so daß man ihn wieder auf ›Nowo‹ verkürzen mußte. In einem planlosen Durcheinander stehen die Häuser da wie ein Auflauf von Neugierigen, die den Urwald von Birken niedergetreten haben, der früher dort stand und dessen letzte Reste man eingezäunt hat, um sie als den bescheidenen Anfang großer Parkanlagen für die Zukunft aufzuheben.

Vor dem Bahnhof hält ein Dutzend bärenhafter Kutscher mit struppigen Kleppern und schlammbespritzten federlosen Kaleschen. Man braucht eine halbe Stunde Trab bis in die Stadt. Der Feldweg ist jetzt eine vom Tauwetter aufgeweichte, im plötzlichen Frost aufs neue gefrorene Straße mit einstöckigen Blockhäusern und hölzernen Hofzäunen zu beiden Seiten. Die schwarzen grobgemalten Schilder von Herbergen, Handwerkern und Kramläden verraten, warum diese Häuser sich zum Bahnhof hingezogen fühlen. Man hat gebaut, massenhaft und in einem amerikanischen Tempo, aber man baute nichts als häßliche, von mistgefüllten Höfen umgebene Hütten. Erst im Innern der Stadt sind an einigen Straßenecken Rohziegelbauten entstanden mit Apotheken, großen Magazinen, Kontoren und Klubräumen. Ich suche einen deutschen Kaufmann, dessen Bekanntschaft ich einst machte, und finde schließlich seine Bauernhütte mit dem fest verschlossenen Hoftor hinter einer riesigen gefrorenen Tauwasserlache. Es scheint niemand zu Hause, aber auf mein energisches Klopfen kommt schließlich der Besitzer, erkennt mich und öffnet mir die Tür in das kalte, dürftig eingerichtete Zimmer, wo er mißmutig damit beschäftigt ist, seinem kleinen Söhnchen Unterricht zu geben. Wie die Geschäfte gehen? Nun, so, – man wartet eben. Alles wartet, daß die Schiffahrt wieder beginnt. Der Winter war lang; die Gasthöfe sind überfüllt, die Kontore feiern. Man erhoffte den Eisgang schon vor einer Woche, aber noch einmal ist Frost gekommen. So friert man denn neben dem Ofen, den es nicht mehr zu heizen lohnt und langweilt sich zu Tode. Ich setze nun mit dem Landsmann meine Spazierfahrt fort, hinüber zu dem riesigen, kahlen, zum Flusse hinabführenden Nikolai-Prospekt. Man muß wissen, diese Stadt wurde erst 1900 gegründet und hatte 1908 schon über vierzigtausend Einwohner. Es sollen jetzt zweiundsechzigtausend sein. Alles hier war neu; es gab da einen blutroten windmühlenähnlichen Turm der Stadtpolizei und nebenan einen Metzger, in dessen Schaufenster zwischen unwahrscheinlich schönen Preßköpfen das Diplom einer sagenhaften internationalen Charcuterie-Ausstellung zu Brüssel prangte. Wo ist der rote Turm samt dem Metzger geblieben? Ein ganz anderer, höherer Turm aus Eisenblech erhebt sich in der Nähe, und ich frage zweifelnd meinen Begleiter. Vor einem Jahre ist dieses ganze Viertel abgebrannt, erklärt er; siebenhundert Häuser; aber alles wurde wieder aufgebaut. Also darum sehen die niederen Eisendächer so neu aus. Noch frischer grün als damals. Die Höfe sind sauberer, und über den angelehnten, nach sibirischer Sitte mit schweren Ketten befestigten Torflügeln stehen eiserne Pflüge auf dem Querbalken zum Zeichen, daß hier landwirtschaftliche Maschinen zu kaufen sind. Etwas weiter zum Flusse hin steht die Kirche in ihrem schablonenhaften neurussischen Stil, nüchtern wie die Dampfmühlen in ihrer Nachbarschaft und aus demselben roten Backstein. Und am Stromufer selbst, wo die Seitengleise der Eisenbahn an Erdwällen vorbeiführen, die im Sommer als Keller für die Butterfrachten dienen, erheben sich Berge von Waren. Es sind landwirtschaftliche Maschinen, eiserne Wagengestelle und fertige Faßdauben, die auf die ersten Dampfer warten; überall riecht es nach Holz, Teer und aufgeweichter Erde. Schon sind die Schollen mürbe: die Waschplätze, Fuhrmannshütten und Schlittenwege, die während der Wintermonate zwischen den weit auseinanderliegenden Ufern auf dem Eise entstanden, sind verödet. Das graue Eis vor den Landungsbrücken ist aufgehackt. Bauern aus Nordrußland, die in den Einwandererbaracken Unterkunft gefunden haben, sitzen auf den Ankerpfosten am Ufer. Sie sehen geduldig mit ihren kleinen blauen Augen auf die Breite des Flusses hinaus, die regungslos wie ein eisiger Acker daliegt, und warten.

Es sind jetzt zwei Jahre. Da rastete ich selber hier, nicht viel anders als dieser Bauer mit dem kleinen in den Schafspelz gekleideten Knaben zwischen seinen Knien. Ich saß trübsinnig in einer elenden Gasthofstube, plötzlich flog wie ein Rauschen der Ruf durch die Stadt: Eisgang. Da ließ ich alles stehen und rannte zum Ufer. Man sah im Süden die Rauchsäule des ersten Dampfers, der gleichzeitig mit dem knirschenden Eise am Horizont anrückte. Am selben Tag noch begann die Fahrt stromaufwärts durch die polternden Eisschollen, die sich am Rumpf des Schiffes brachen, zu den Dörfern am hohen sandigen Ufer, das noch mit dem angetriebenen Eis bedeckt war. Die Hähne krähten schmetternd in diesen kleinen Dörfern, die Bauern worfelten auf den Dächern das naßgewordene Getreide in der heißen Sonne, bäurische Frauen und Mädchen brachten ans Schiff die ersten, mit zartem Haarflaum überzogenen Blumen der Steppe. Entgegen kamen uns auf dem majestätischen Strome die schwerfälligen Barken aus dem Winterhafen von Barnaul, und wenige Tage später, da setzte mich die Fähre von Bijsk mit meinen Pferden über. Dort führt die Landstraße in den Altai hinauf und endet nach unendlich mühsamen und gewaltig schönen Strecken vor den pfadlosen weißen Höhen des mongolischen Grenzgebirges.

Das weite Daurien

Der Zug umfährt bei Nacht die dreißig Tunnels am Baikal. Frühmorgens sieht man die mürbe mattglänzende Eisfläche des riesigen Landmeeres durch die Tannen des Ufers. An aufgetauten Stellen glänzt das Wasser klar wie gehämmertes Silber. Bei dem kurzen roten Leuchtturm des kleinen Kosakendorfes Myssowaia biegt dann der Zug in das waldige Tal der Selenga, deren Quellflüsse den noch kaum ergründeten Bergzügen der nördlichen Mongolei entstammen. An den Ufern liegen Eisschollen wie riesige Marmorblöcke. Wir fahren langsam zwischen den apfelrunden Hügelrücken des Jablonowoi-Gebirges, wir halten eine Stunde in Werchne-Udinsk, wo im Sommer ein unregelmäßiger Verkehr von Barken und kleinen Dampfern nach Kjachta stattfindet, der gewesenen Hauptstadt des russisch-chinesischen Teehandels. Die Garnison von Werchne-Udinsk ist im Winter in den Kasernen. Im Sommer bezieht sie ihr Lager auf dem vom Fluß umbogenen Gelände. Nicht weit von hier durchfährt der Zug den einzigen Tunnel der ganzen sibirischen Strecke. Der Bergrücken, den sie durchbohrt, ist die Wasserscheide zwischen dem Stillen Ozean und dem Atlantischen.

An der Wand des Abteils hängen diesmal Militärmäntel, Mützen und Säbel. Das Gepäcknetz ist voll von Körben und Koffern; Angelruten sind auf dem Boden untergebracht, daneben ein riesiges Bild der Stadt Petersburg in goldenem Rahmen. Meine Reisegenossen sind ein Rittmeister der Grenzwache, der von seinem in Südrußland verbrachten Urlaub mit diesen Gegenständen in seine mandschurische Garnison zurückkehrt, und ein junger Kapitän der Festungsartillerie in Wladiwostok. Seinen Säbelgriff ziert das rote Lederband des Annenordens für Tapferkeit. Er war in Petersburg, um sich wegen einer bei Mukden empfangenen Wunde operieren zu lassen. Ein Kanonenrad ist ihm über den Kopf gegangen. Man hat ihm über der Stirn ein fast faustgroßes Stück des Schädelknochens herausgenommen und ihn trotz der pulsierenden, nur von Haut überzogenen Narbe als dienstfähig wieder entlassen. Am zweiten Tag unserer Bekanntschaft zogen wir zusammen aus, um die Stadt Tschita mit ihrem chinesischen Tempel zu betrachten und Lebensmittel einzukaufen.

Vom Baikal aus durchquert die Bahn das gesegnete Hügelland der Burjäten, das weite Daurien, dem die Geographen den farblosen Namen Transbaikalien gegeben haben. Seit Jahrzehnten haben sich russische Ansiedler in diesem Lande niedergelassen und sich mit den kleingewachsenen, rotbackigen Eingeborenen vermischt. Auf den Stationen sieht man Hirten und Bauern in ihrer halbrussischen Tracht. Man muß schon weit in das Innere dringen, um die Burjäten in ihren ursprünglichen Zeltlagern und ihren von hölzernen Mauern umgebenen Klöstern kennenzulernen. Die alten Eigentümlichkeiten dieses Mongolenvolkes sterben aus oder gehen in die von den russischen Bauern eingeführten und von der Missionsgeistlichkeit geförderten Gebräuche über. Wie die Indianer Nordamerikas bewohnen auch die Burjäten große Weidegründe, deren Besitz ihnen von der Regierung bestätigt ist. Die Gutmütigkeit dieser Hirtenbevölkerung und ihrer Nachbarn, der russischen Siedler, hat niemals eine so grausame Feindschaft zwischen den Rassen aufkommen lassen, wie sie die Kämpfe des weißen und des roten Mannes bei der Eroberung des amerikanischen Westens kennzeichnet.

Teebesuch

Die fünf grünen Wagen unseres Zuges sind mit Passagieren der dritten Klasse gefüllt. Es ist auch ein Wagen mit Gefangenen dabei. Seine Fenster sind vergittert, die Türen werden von Soldaten mit bloßem Säbel bewacht. Die braunen Wagen der zweiten Klasse sind fast leer. In dem blauen Wagen der ersten Klasse bewohnt eine Dame ein Abteil für sich. Durch einen Zufall kommt es zu einem Gespräch, ich erhalte eine regelrechte Einladung zum Tee, und ich erlaube mir, auch meine Reisegenossen mitzubringen. Die Dame ist die Gattin eines Obersten der Grenzwache in Charbin. Es ist bei den Familien höherer russischer Offiziere und Beamten nichts Ungewöhnliches, daß der Gatte, vielleicht sogar von einem oder mehreren der Kinder begleitet, auf einem fernen Posten Jahre verbringt, während der Rest der Familie in Petersburg oder in Moskau zurückbleibt. Die Gräfin ist auf dem Wege zu ihrem Gatten und ihrer Tochter, die sie seit zwei Jahren nicht gesehen hat. Sie will das Osterfest mit ihnen verleben und dann über Japan und Amerika wieder nach Hause. Als wir uns zur Teestunde bei ihr einstellen, finden wir auf dem weißgedeckten Tischchen am Fenster eine duftende blaue Hyazinthe und in silbernen Rahmen die Photographien des Obersten und der Kinder. Der Konduktor hat für Teewasser gesorgt, sogar ein Topf Warenije fehlt nicht, das sind süß eingekochte Waldbeeren, die man ungern auf einem russischen Teetisch vermißt. Man sitzt in einem fahrenden Zuge, und doch hat man das Gefühl, in einem Salon zu sein, diese wenigen einfachen Mittel erwecken ein beglückendes reines Behagen. Respektvoll sitzen die beiden Offiziere da, das Teeglas in der Hand, die Mütze auf den Knien, wir verabschieden uns nach der ersten Zigarette. Draußen ist kahle, noch teilweise mit Schnee bedeckte Steppe unter grauen hängenden Wolken.

Andere Litzen

Sonnenaufgang. Feuergeränderte Wolken. Ein Himmel von opalischem Glanz bescheint die olivgrüne Steppe. Wir erreichen morgens die Grenzstation Mandschuli, wo die Geleise der Transbaikal-Eisenbahn und der Chinesischen Ostbahn ineinander greifen. Hier ist schon chinesischer Boden.

Die Landschaft trägt noch den Charakter des ebenen östlichen Transbaikaliens: ein unabsehbares, kaum gewelltes Meer von brauner Erde und hartes Gras darauf, das struppig ist wie ein Fell. Auch die Veränderungen bei den Menschen sind gering. Das russische Militär, dem der Schutz der Strecke obliegt, trägt jetzt die schwarze Uniform oder den Schafpelz mit den grünen Achselklappen der Grenzwache. Gendarmerieoffiziere, die im Zuge mitreisen, vertauschen im Bahnhof von Mandschuli ihre dunkelblauen Mützen mit trübgrünen, ihre silbernen Fangschnüre gegen goldene. Politische Farbenkunst. Umgehung von Staatsverträgen durch eine Kleiderordnung. Statt der Blockhäuser stehen aus Stein gebaute, festungsähnliche Häuser und Wassertürme an den Stationen. Neben ihnen ragt die mit Werg umwickelte Signalstange. Kilometerlange Gräben zum Schutz gegen Grasbrände, die diese Ansiedelungen leicht zerstören könnten, durchschneiden die Steppe. Vereinzelt liegen bei den Stationen die Erdhütten der Eisenbahn-Kulis, die ein paar kärgliche Felder bestellen und sich an den Zügen einfinden, um ihren reisenden Volksgenossen Nahrungsmittel und Zigaretten zu verkaufen. Man bemerkt jetzt immer neben dem russischen Gendarm auch einen oder mehrere chinesische Polizisten; schwächliche Leute in unansehnlicher Khakiuniform mit kurzem Säbel und der zu großen Mütze, unter der sich der aufgerollte Zopf verbirgt.

In der Ferne tauchen niedere Bergzüge auf, weiche kahle Formen wie ungeheure Klauen. Der schmelzende Schnee hat überall Seen gebildet, die schwarzblau in der Sonne leuchten und sich im Winde weiß überziehen. Es ist ein warmer Tag. Doch ein heftiger Frühjahrswind fegt über die Fläche und wirft die Temperaturen schroff durcheinander. Plötzlich fällt in den hellen Sonnenschein ein Schneegestöber; fast ebenso rasch ist es verschwunden und verdunkelt schon den fernen Horizont. Der Schwall der Luft bricht sich mit starkem Pfeifen an den Wagenwänden. Gras, zu Bündeln geballt und in phantastischen Rädchen fortgerissen, rollt über die Steppe, fliegt im Wettrennen mit dem Zuge. Als wir auf einer Station halten, umbraust uns ein Orkan. Die Sonne scheint bleich im pastellgrauen Himmel. Die erdbraunen Mäntel der Soldaten, das aufgelöste schwarze Kopfhaar der Chinesen draußen im Freien flattert, von Staub umsprüht, die einsamen Birken schütteln sich, und die aus Draht und bunten Kugeln gemachten Fühlhörner der chinesischen Fabeltiere und Drachen auf dem First des frostbeschädigten Stationsgebäudes bewegen sich in Aufregung.

Am Abend verabschiedet sich der Rittmeister: wir erreichen Chailar. Den befestigten, mit modernen Eisenbahnwerkstätten versehenen Bahnhof umgibt eine große Eisenbahnstadt hinter der Brücke über den mächtig breiten Fluß. Die ältere Stadt ist in der Entfernung sichtbar, über einen schwachbewaldeten Hügelrücken ausgebreitet, von Wasserflächen umgeben. Wir beneiden unseren bisherigen Reisekameraden nicht um seinen Posten in dieser Einöde. Er ergibt sich in sein Schicksal und scheidet mit der Einladung, ihn auf der Heimreise zu besuchen. Hinter Chailar belebt sich die Landschaft. Kahle Berghöhen im Süden glühen feuerrot mit blauen, verschwiegenen Falten. Immer brennender wird die durchsichtige Glut der Wolken und verglimmt dann zart wie Rosenblätter. Den Großen Chingan mit seinen Tälern, wo im Sommer Rhododendren blühen und seltene Schmetterlinge fliegen, durchqueren wir bei Nacht.

Am folgenden Nachmittage erreicht der Zug Charbin. Man sieht überrascht die vielen aus Lehm gebauten Gehöfte, die Felder voller Spuren sorgfältiger Arbeit und Bewässerung. Aus der einstigen Einöde ist in wenigen Jahren ein unverfälschtes Stück China geworden. Seenartige Tümpel spiegeln den hellblauen Himmel; jenseits des bronzebraunen Flusses leuchtet hell die Stadt. Nie ist mir Charbin so heiter, so farbig erschienen wie heute. Dampfmühlen, Speicher und große Geschäftshäuser mit flammend roten Güterwagenketten davor stehen am hohen Ufer des gewaltigen Stromes, den eine Flotte von schwarzen Dampfern belebt. Langsam rollt der Zug durch die sieben Bogen der Eisenbahnbrücke. Wir fahren an der mit Laternen geschmückten Häuserreihe des japanischen Viertels entlang. Mit ihren grünen Flaggen winkend, stehen die Konduktore auf dem Trittbrett, es sind dieselben grünen Winkerflaggen wie die vor Tscheljabinsk. Wir halten auch diesmal unter freiem Himmel.

Die Gräfin wird am Bahnhof von ihren Verwandten erwartet. Sie küßt nach orthodoxer Sitte zum Abschied Stirn und Wangen des Artilleriekapitäns, der seine Reise fortsetzt. Ich muß versprechen, der Gräfin am Ostersonntag einen Besuch zu machen. Dann mache ich mir freie Bahn durch ein Spalier von Hotelkommissionären und fahre nach dem Flusse, dem Stadtteil Landungsbrücke oder Pristan.

Die Stadt des Abenteuers

Die Geschichte der Stadt Charbin gäbe eine der merkwürdigsten Monographien über den chaotischen Einbruch der europäischen Zivilisation im fernen Osten zu Beginn unseres Jahrhunderts. Diese Stadt, die von den Russen Ende der neunziger Jahre an der Stelle eines armseligen Chinesendorfes am Sungari angelegt wurde, bedeckt mit ihren fünf Stadtteilen, die alle in weiter Entfernung voneinander liegen, ein riesiges Gelände. Als ich mich im Sommer 1903 zum ersten Male in dieser Stadt aufhielt, war sie noch im vollen Werden. Mächtige Gebäude schossen aus freiem Felde zwischen den chinesischen Erdhütten empor. Straßenzüge waren abgesteckt, die Fundamente künftiger Häuser waren nur angedeutet. In der Nähe des Bahnhofes entstand ein Wohnungsviertel von der eintönigen Art Londoner Vorstadtstraßen. Einzelne Gärten blühten schon. Durch die noch fast menschenleeren Straßen gellten die mißtönenden Rufe chinesischer Hausierer. Auf dem Hügel stand die Kirche, ein rohes Blockhaus mit goldenen russischen Kreuzen darauf und mit eroberten chinesischen Kanonen vor dem Gittertor. Es war ein Feiertag. Die Kirche, von einer singenden Menge gefüllt, glänzte von Gold und Kerzen. Ein Trauergottesdienst fand statt. Eine Prozession von Menschen trug die mit weißem Flor bedeckten offenen Särge gestorbener Kinder herzu; im Hafenviertel herrschte eine Epidemie. In die feierlichen, hochansteigenden, wortreichen Kirchengesänge mischte sich das Schluchzen der Frauen.

Ich ging durch den Stadtteil am Flußhafen. Dort war ein noch wilderes Bauen und Hämmern als um den Bahnhof. Vor den mit Waren angefüllten, kaum unter Dach stehenden Geschäftshäusern verkaufte man auf offener Straße Bettgestelle und Haushaltungsgegenstände. Jedes halbfertige Haus war Hotel, in den Geschäften der Chinesen und der zahlreichen jüdischen und armenischen Handelsleute kaufte man chinesischen Tee, japanische Elfenbeinschnitzereien, Äpfel und Melonen aus Kalifornien, Ananas aus Indien, Zigarren aus Manila für ein Spottgeld. Und dieses fieberhafte Treiben nahm täglich zu; zur Zeit des Krieges schwoll die Bevölkerung auf 150 000 Menschen an. Die Dampfmühlen mahlten in ungeheuren Mengen das Getreide der nördlichen Mandschurei, das der Fleiß der eingewanderten chinesischen Bauern dem Heere lieferte. Großhandelshäuser lärmten, Brauereien dampften. Der Kanonendonner der im Süden geschlagenen Schlachten störte kaum das Treiben der in Scharen zusammengelaufenen Abenteurer aus aller Herren Ländern. Die Sterbenden und Verwundeten, die von den winterlichen Schlachtfeldern eintrafen, verschwanden in den Hospitälern hier im Rücken der Armee, die Leiber der Toten versanken in den Massengräbern, im Frühjahr umwitterte der fürchterliche Geruch der Verwesung die Stadt. Als nach dem Friedensschluß das besiegte Heer die Mandschurei verließ, schien alles Leben aus der Stadt zu fliehen. Dennoch hielt die Lage an der Bahn und an einem der größten schiffbaren Ströme des Festlandes einen kleinen Stamm von Kaufleuten hier zurück, die das Spiel nicht aufgaben. Die chinesische Regierung erklärte Charbin für eine internationale Niederlassung, Rußland übertrug die Vertretung der Russen einem Generalkonsulat, die russische Direktion der chinesischen Ostbahn blieb unumschränkte Stadtgebieterin. Ein halbes Dutzend Konsulate mußte errichtet werden, um die Fremden vor der Willkür dieser Verwaltung zu schützen. Bald begann der unerschöpfliche Zustrom chinesischer Bevölkerung die von den Russen verlassene Handelsstadt auszufüllen. Etwas unterhalb am Sungari, außerhalb des Machtbereiches der Eisenbahnverwaltung, entstand dann jenes berüchtigte Chinesennest Fudatien, das seitdem die Geißel der Europäer, ein Herd des Schmutzes und der Pest geworden ist. Wochenlang sah man Abend für Abend Schwärme von Einwanderern mit ihren Papierlaternen vom Bahnhof in die Chinesenstadt hinüberwandern, in deren Lehmhütten sie ihr erstes Obdach fanden. Im Charakter der massenhaft herzuströmenden Chinesen vollzog sich ein Wechsel. Früher waren es unterwürfige, zerlumpte, fast unbekleidete, erdbraune Kulis gewesen, Schararbeiter am Hafen, Karrenzieher, Lastträger. Die Unterwürfigkeit schlug um in ihr Gegenteil. Der gelbe Herr Fong wurde reich, kaufte russische Häuser und hielt sich russische Dienstboten, der Kuli verlernte es, auf der Straße von Charbin dem Russen auszuweichen, und er hielt im Anfang jeden Europäer für einen Russen.

Kirchenglocken, Sterne

Trotz der harten Rückschläge hat sich der Pristan zu einem lebhaften Handelsplatz entwickelt. An den langen schlecht gepflasterten Straßenzügen wechseln die schwergebauten, mit doppelten Türen und Fenstern verschlossenen Häuser der Russen mit Jahrmarktsbuden und den niederen, leicht gezimmerten Baracken chinesischer und japanischer Kleinhändler. Sogar Wohlstand und Menschenliebe machen sich bemerkbar, nicht gerade in den sanitären Einrichtungen, aber in der Zunahme der Kirchenbauten. Über verstaubten Dächern funkeln neue goldene Kettenkreuze. In das dünne Rasseln der Stimmgabeln, mit denen die chinesischen Straßenhändler auf ihre mit Waren gefüllten Tragkasten aufmerksam machen, mischt sich heute abend das heftige blecherne Klirren und Klingeln der Kirchenglocken. Beim Anbruch der Dunkelheit erstrahlen die Konturen der neugebauten Kathedrale in einer Beleuchtung bunter elektrischer Lämpchen nicht würdevoller als bei einem Kino. Alle großen Gebäude, alle russischen Geschäfte sind wegen des Ostervorabends geschlossen.

Es wohnen einige Bekannte hier im Geschäftsviertel, aber ich treffe keinen zu Hause. So verbringe ich in dem kahlen Gasthauszimmer den langen Abend mit Teetrinken und dem Lesen der Charbiner Zeitungen. Die kirchlichen Anzeigen machen die Stunde des nächtlichen Ostergottesdienstes bekannt. Heute ist an Ruhe in diesem Hause nicht zu denken, dessen Gänge von Singsang, keifenden Stimmen und Grammophongeplärr widerhallen. Um Mitternacht gehe ich aus. Die Straßen sind holprig wie ein frisch gepflügter Acker und völlig dunkel; um so heller glänzen die Sterne. Eine kleine Kirche in der Nähe des Stromes ist rings mit bunten chinesischen Windlampen geschmückt. Wie ein leuchtendes venetianisches Boot schwimmt sie in der nordisch kalten Nacht. Die Gestalten, die der Kirche von allen Seiten zuströmen, sind in Mäntel und Pelze gehüllt. Um so heißer spürt man im Innern das Gedränge der Menschen, den hundertfachen Schimmer der Kerzen, den Widerschein der goldstrahlenden Wände und Heiligenbilder. Alle halten brennende Kerzen in den Händen. Eine Frau schreit auf, ihr Haar geriet in Feuer; die Gefahr wird durch schnell zugreifende Hände erstickt. Man steht schwitzend zwischen alt und jung geklammert, doch Auge und Ohr trinken die Schönheit dieses feurigen Ofens. Wir alle vergessen den von Verbrechen und Schande besudelten Boden dieser Stadt, vergessen die fremde asiatische Einöde, die sich rings in der Nacht ausbreitet, vergessen das Gefühl unsäglicher Trauer und menschlicher Armseligkeit, von der keine Stadt des Erdenrundes ein so erschütterndes Denkmal ist wie Charbin. Der von den Priestern gesungenen altslawischen Liturgie antworten die tiefen Männerstimmen, die hohen, etwas schrillen und unsicheren Frauenstimmen im Chor. Die Priestergehilfen sind in kostbar gestickte Goldgewänder gekleidet; einige von ihnen sind Chinesen, wahrscheinlich Zöglinge der Mission. Ein Priester tritt aus der funkelnden Kammer im Hintergrund hervor; er trägt die hohe schwarze griechische Mütze und den Schleier des Klostergeistlichen. Er singt mit fester sanfter Stimme die Liturgie. Seine Züge kommen mir bekannt vor. Auch über sein Gesicht geht ein verwundertes Erkennen. Es ist der Erzmönch, Abt Christophor, mein Reisegenosse von Petersburg bis Tscheljabinsk. Jetzt schreitet er an der Spitze eines Zuges von Heiligenbildern und strahlenden Kirchenfahnen mitten durch den menschengefüllten Raum und aus der Pforte, um in der Nacht die Kirche zu umwandeln. Draußen warten Menschenreihen mit brennenden Lichtern; vor ihnen auf dem Boden stehen die Schüsseln und Teller mit farbigen Ostereiern und die mit Zucker übergossenen Osterkuchen. Mit flackernden Flämmchen, unaufhörlichem Gesang und Segen und leuchtenden Gewändern bewegt sich der Zug an allen vorüber; und während er nun wieder in die Kirche verschwindet und sich drinnen die fröhlichen Auferstehungsgesänge und die Glückwünsche erheben, beginnen auf ein Zeichen mit der Schelle in dem Gestühl im Garten die ehernen Glocken zu brummen. Auch die kleineren Glocken schallen mit, und die kleinsten vollführen ein rasendes lustiges Geklingel. In einem Zusammenklang von mächtiger Melodie steigt dies Dröhnen der Glocken hinter den bunten Lampions und den brennenden Kerzen zum dunkelblauen sternbesäten Himmel empor. Aus der Ferne antworten die anderen Glocken der Stadt.

Osterfeier

Die Stille der Osterfeiertage und bedeckter Himmel liegt über Charbin. Die russische Bevölkerung feiert. Notgedrungen feiert der größte Teil der chinesischen Stadtbevölkerung mit. Bis Mittag sind die Straßen wie ausgestorben. Dann erwacht das blecherne Klirren der Glocken. Vereinzelt sieht man die ersten Anzeichen einer allgemeinen Bezechtheit. Ich gehe über die Anhöhe der Eisenbahnstadt und komme an dem alten Blockhaus der Kirche mit den chinesischen Kanonen vorüber. Ein Muschik torkelt über die fast menschenleere Straße. Er trägt ein Brett auf der Schulter, das er wohl irgendwo aufgegriffen hat. In diesem Augenblick fangen die Glocken und Glöckchen der Kirche wild durcheinander zu läuten und zu dröhnen an. Der Mann läßt das Brett auf die Erde fallen, wirft sich mit seiner ganzen Länge in den Straßenschmutz, und mit stieren Augen und triefendem Munde beginnt er, völlig von Sinnen, seinen Kopf auf das Brett zu schlagen. Zuweilen richtet er den Oberkörper auf und hebt Gesicht und Fäuste gen Himmel. Allmählich werden seine Bewegungen im Delirium vollkommen rhythmische Reflexe der durcheinander läutenden Glocken. Ein paar zerlumpte Chinesen kommen des Weges und bleiben grinsend stehen.

Ich nehme am Nachmittag einen Wagen, um der Gräfin meinen Besuch abzustatten. Die Wohnung ist weit draußen in dem Barackenlager der Grenzwache. Es ist eine lange Fahrt über freies, unbebautes Feld. Am Ende des Eisenbahnviertels stehen die monumentalen Gebäude, die einst für die künftige Verwaltung der gesamten Mandschurei errichtet wurden. Sie stehen leer und verlassen da, ihre im Jugendstil verklebte klobige Bauweise trägt einen unedlen und tragischen Ausdruck. Schon das riesige Wartesaalgebäude am Bahnhof zeigt jene in den Tagen der ersten Gründerperiode mit Vorliebe angewendete Bauart, der man hier draußen mit einem einfältigen Stolz den Namen Dekadence-Stil beigelegt hat. Blumen mit langen Stengeln, ausdruckslose weibliche Köpfe mit Wasserrosen fanden an Giebeln, Fensterumrahmungen und Wänden dieser Paläste eine ebenso üppige wie absurde Verwendung. Das Schicksal der Kriegszeit und die grimmigen Fröste der mandschurischen Winter haben diese Lügen aus Zement und Gips mit harter Faust zerschlagen.

Im Feld begegnen mir betrunkene Soldaten. Einer liegt schnarchend über einem Holzstoß. Andere wanken singend einher. Mutterseelenallein treibt sich ein Husar in seiner bunten Uniform bei einer verlassenen chinesischen Erdhütte herum. Endlich erreicht der Wagen die von einer einzigen Straße durchzogene Stadt der Baracken. In den kleineren Häusern wohnen die Familien der Offiziere und der Unteroffiziere; die Mannschaften hausen jetzt in den Sälen ehemaliger Hospitäler. Eine Wache zeigt mir den Weg zur Wohnung des Obersten, die sich äußerlich von den übrigen Bauten wenig unterscheidet. Und während schon mein Kutscher seine Pferde im Hof unterbringt und in der Küche verschwindet, um sich von den Dienstleuten bewirten zu lassen, führt mich der Bursche, der meinen Besuch anmeldete, in das Zimmer. Die Gräfin ist von einer ganzen Gesellschaft von Besuchern umgeben. Auch ihr Gemahl tritt bald herein, eine hochgewachsene soldatische Gestalt, Nansen-Typus. In der Mitte des Zimmers ist der festlich gedeckte Ostertisch aufgestellt, überreich beladen mit Kuchen und Delikatessen, riesigen Schinken, Fisch, Wein, Kwaß und goldverkapselten Likören. Der Oberst, der seit dem Kriege nicht wieder in Rußland gewesen ist, hat die Baracke ganz zu seinem Hause gemacht. Riesige turkestanische Teppiche bedecken Wände, Fußboden und Diwane. Waffen, Jagdtrophäen, chinesische Kunstgegenstände verdecken den Mangel an europäischen Bildern und Möbeln. Die Tochter des Hauses, die den Aufenthalt hier draußen der Petersburger Langeweile vorzieht, ist eine lebhafte junge Dame. Sie hat eine Vorliebe für die weiße Farbe. Das Kosakenregiment des Oberst ist nur mit Schimmeln, flinken mongolischen Ponys, beritten. Ihre Reitpferde, ihre Hunde, Katzen, selbst ihre Kleider und die Gegenstände ihres Zimmers sind ebenfalls weiß. In ihren freien Stunden erteilt die Komtesse an einer in Charbin gegründeten Volksuniversität französischen Unterricht.

In der Bevölkerung von Charbin, die sich aus so verschiedenartigen Elementen zusammensetzt, scheidet sich die Gesellschaft natürlich in streng getrennte Gruppen. Die höheren Kreise der russischen Verwaltung, des Militärs und der Kaufmannschaft sind die Oberen Hundert. Sie haben sogar ihre private Kirche. Der Offiziersklub und der Eisenbahnklub, der Klub Portsmouth in der Handelsstadt, die Sobranje und der Kaufmännische Klub gelten als die Zirkel, wo man immer sicher sein kann, Gebildete zu treffen und den Abend mit einem Spielchen zu verbringen. Das russisch-jüdische Element bleibt wiederum unter sich, ebenso das der Tataren, Armenier, Tscherkessen, Grusiner und Griechen. Auch Japaner, Chinesen, Koreaner halten sich aus gegenseitigem Hochmut voneinander fern. Eine kleine, abgeschlossene Kaste bilden die an ihren hohen, in Khaki gekleideten Gestalten und an den roten Turbanen kenntlichen Sepoys, ausgediente indische Soldaten, die sich aus ihrer fernen Bergheimat bis in die Nordmandschurei verlaufen haben und von den großen Geschäftshäusern als Wächter angestellt wurden.

Am Abend tummelt sich ein Volksfest auf dem Platz zwischen Eisenbahnviertel und Pristan, auf einem sumpfigen Boden, der grau und zähe ist wie Gummi. Es gibt hier eine der altmodischen russischen Luftschaukeln, die sich zu ihrem modernen Verwandten, dem Großen Rad, verhalten wie eine Postkutsche zum Eisenbahnzug. Chinesen drehen ausgediente, mit den Lumpen ihres ehemaligen Flitters behangene Karussells, sie drehen auch die Achse dieser knarrenden Schaukel, auf deren kastenähnlichen Bänken lachende Soldaten mit ihren drallen Mädchen am Arm in die Höhe steigen. Chinesische Strolche haben Glücksräder und Guckkästen für die Straßenjugend aufgestellt. In der Stadt glänzen die Lichterbogen der Kinos, die mit ihren Darstellungen von Verbrechen und Schweinereien in der Welt vorangehen.

Küstenprovinz

Mit vielen Windungen, Schlingen, Durchbrüchen und Tunnels überschreitet der Zug östlich von Charbin ein gebirgiges Waldland. Er durchquert eines der Hauptgebiete des mandschurischen Holzreichtums.

Die ersten Stationen sind die belebtesten. Hier ist Aschiche, das einstige Hauptquartier in der Kriegszeit. Weite Flächen ringsum sind mit Rüben bebaut; eine Zuckerfabrik ist hier errichtet worden. Auf dem Bahnhof bieten Chinesen Lebensmittel zum Kaufe an: Eier zu einer Kopeke das Stück, riesige Bündel Meerrettich. Ninjanpo, eine der folgenden Haltestellen, hat eine Brauerei, deren Bier in Charbin getrunken wird. Man kommt in das Gebiet der Schneidemühlen. An den Stationen stehen Wachttürme zum Schutze gegen die Überfälle der Chunchusen. Oft ragt auf den Anhöhen eine Schildwache und das Schilderhäuschen, eine Stange mit pilzartig ausgebreitetem Schutzdach, das aussieht wie ein hölzerner Regenschirm. Zuweilen durchfährt man brennenden Wald, weite Flächen, die mit Asche und verbrannten Baumstümpfen bedeckt sind. An den weißen zarten Birken fressen die Flammen. Ein starker wohlriechender Rauch schwelt zwischen kohlschwarzen Stämmen hervor, und aus dem glühenden Gezweig fliegen im Winde die Funken davon wie feurige Vögel.

Der Zug hält vor dem Bahnhofsgebäude von Grodekowo, einer Staniza des ussurischen Kosakenheeres in der Küstenprovinz. Wegen der Feiertage ist das Stationsgebäude mit einer Menge weiß-blau-roter Flaggen behangen. Im Garten am Bahnhof leuchtet das erste Grün. Da sitzt auf den Bänken eine Reihe frischer Mädchen und Kinder in ihren gelben, orangefarbenen, roten, blauen Röcken und weißen enganliegenden Kopftüchern. Auf dem Bahnsteig spazieren Burschen in himmelblauen oder bordeauxroten Blusen, Kosaken in schilfgrüner Uniform und Mütze mit breiten schwefelgelben Streifen. Blonde und blauäugige Gesichter sind unter dieser Kosakenbevölkerung neben scharf geschnittenen feinen Gesichtszügen vom südrussischen und polnischen Typus und runden gelbhäutigen schwarzhaarigen Mongolenköpfen. Auch Chinesen haben sich auf dem Bahnhof eingefunden und Koreaner in schmutzigweißen wattierten Kleidern und den kuriosen Zylinderhüten aus schwarzer Gaze, die den braunen faltigen Gesichtern einen spitzen und weltfremden Ausdruck geben.

Mit langsamem Fahren überwindet der Zug die Höhenrücken, die sich als das Rückgrat der Halbinsel zwischen den Buchten der Amurmündung und des Ussuriflusses in das Gelbe Meer erstrecken. Schon umwittert Seeluft diese wildzerrissenen, mit Urwald bestandenen Berge. Rasch fahren wir bergab, entlang an dem von den Lichtern ankernder Schiffe funkelnden Wasserspiegel der Buchta. Nun tauchen durch Nacht und Regen die Lichterschnüre der Stadt auf. Noch einmal entzieht uns ein Grabeneinschnitt die Aussicht. Dann hält der Zug im alten, im Umbau befindlichen Bahnhof von Wladiwostok, kaum hundert Schritt vor der Kaimauer des Stillen Ozeans.

Einschiffung

Durch den zarten silbrigen Flor des Meeres stoßen die leichtgebogenen Masten mit den kurzen blutroten Wimpeln. Das sind Dschunken koreanischer Fischer und Landleute, die sich unten am Hafen von Wladiwostok zum Markt versammeln. An den Kaimauern und auf der Reede liegt der Dampfer »Simbirsk« der Russischen Freiwilligen Flotte, der heute nach Japan abfährt. Auch die Dampfer »Poltawa« und »Pensa« derselben Gesellschaft liegen da, zwei Dampfer der Hamburg-Amerika-Linie und ein paar japanische Schiffe im grauen Anstrich mit merkwürdig häßlichen, heliotropfarbenen Kaminen. Am Ufer herrscht Lärm und Leben, ein ewiges Hin und Her der kleinen Dampfboote und der eirunden chinesischen Nachen, auf denen man für wenige Kopeken die Breite der Bucht bis zur gegenüberliegenden Halbinsel durchkreuzt. Diese Bucht heißt das Goldene Horn, sie erinnert wirklich ein wenig an die Bucht, die Konstantinopel in zwei Hälften scheidet.

Mit einem deutschen Landsmann gehe ich über die langgezogene Hauptstraße zwischen den stattlichen Großhäusern der Kaufmannschaft und den über dem Meer gelegenen, von Anlagen umgebenen Palästen der Behörden.

Der Landsmann ist ein Göttinger Philologe, den sein Schicksal als Hauslehrer einer reichen Kaufmannsfamilie an das Gestade des Stillen Ozeans verschlagen hat und der mit etwas weicherem Gemüt als die nüchternen Hamburger Kaufleute hier draußen seine erste Fremde erlebt.

Das Tagesgespräch bildet die Ermordung eines Barwirts, eines Deutsch-Amerikaners. Das lenkt unsere Betrachtungen auf die Zustände dieser Stadt im allgemeinen. Man kann das Heimweh eines alten Studenten verstehen, dem sein Stammwirt eines Nachts in so ruchloser Weise abhanden kommt. Wo soll man jetzt seinen Schoppen trinken? Soll man nun jeden Abend im Kaufmannsklub sitzen? Dieser Klub gilt als der langweiligste, den es in Ostasien gibt. Seitdem auch hier die Kinos aufgekommen sind, bleiben die wandernden Theatertruppen aus, die früher ein wenig Abwechslung in das ewige Einerlei des Lebens brachten.

Um einen alten Onkel in Deutschland zu erfreuen, der Schmetterlingsammler ist, möchte ich eine Serie der im Ussuriland heimischen Lepidopteren erstehen. Mein Führer bringt mich zu einem seiner Bekannten, einem Oberarzt im Übersiedlerhospital, der durch seine Reisen ins Innere reichlich Gelegenheit hat, seiner Liebhaberei des Schmetterlingjagens nachzugehen. Ich lerne einen der Männer kennen, die bei der Ausübung ihres Berufes im Dienst der Übersiedlungsbehörde selber noch oft genug den Kampf mit dem Raum aufzunehmen haben, wie ihn die Ansiedler mit Zelt, Axt und Flinte in den unwegsamen Wäldern führen. Das ärztliche Verfahren ist ganz summarisch. Finden sich zum Beispiel die häufig vorkommenden Augenkrankheiten in einem jener fernen Bezirke, so werden die damit Behafteten von weit und breit in ein bestimmtes Dorf bestellt, und Hunderte von Operationen werden dann am selben Tage vorgenommen. Mein Wunsch nach Schmetterlingen wird herrlich erfüllt.

Am Nachmittag gehe ich an Bord. Ich habe einen Fahrschein nach Tsuruga hinüber. Die Fahrt geht zuerst nach Osten, sie wird bald in direkt südlicher Richtung, nur um zwei Längengrade nach Osten abgelenkt, vom 43. bis zum 36. Breitengrade gehen, was in Höhe und Luftlinie ungefähr der Entfernung von Triest bis zur Westspitze von Kreta entspricht. Langsam schwindet das breite Bild der am Bergabhang locker emporstrebenden Stadt und des schimmernden Hafens. In seiner Mitte liegt der russische Kreuzer »Askold«. Die Schmarren, die das gewaltige eiserne Schiff im Kriege erhalten hat, sind ausgebessert. Seine Flucht in den Hafen von Schanghai rettete es vor gänzlicher Zerstörung. In der Krupphalle der Düsseldorfer Ausstellung 1902 sah ich das elegante Modell des damals neugebauten Panzers. Trotz seiner düsteren schwarzgrünen Bemalung, aus der wie Siegellacktropfen nur die Stellen der Signalapparate hervorleuchten, erkenne ich ihn an seiner schlanken Form und dem eigentümlichen Orgelpfeifensystem der Kamine. Wie bewunderten wir damals dieses Schiff mit dem Wikingernamen, wie beneideten wir die Seeleute, die auf ihm fahren durften!

Abschied vom Festlande

Im Abendschein gleitet die »Simbirsk« aus der schmalen Wasserstraße zwischen goldbraunen Landzungen ins freie Meer. Das Becken der dem eigentlichen Hafen vorgelagerten Bucht ist von gleichmäßigen Höhen umgeben, es ist sicherlich eine der großartigsten Seefestungen. Nur selten verraten sich die von Menschenhand geschaffenen Anlagen durch Abplattungen, durch einzelne Signalstangen oder die Rohre einer offenen Batterie. Auf dem Murawiew-Vorgebirge blitzen die Fensterreihen der langgestreckten Kasernen. Die Sonne schwebt, ins Unheimliche vergrößert, wie eine rubinrote Lampe über dem unermeßlichen Festlande, das in einem schmutziggrauen Dunste zurückbleibt. Als letztes Wahrzeichen ist auf der hohen äußersten Landspitze der Sapernij-Halbinsel das griechische Kreuz und das dunkelgrüne Dach einer kleinen Kapelle sichtbar; kaum hebt sie sich noch von dem schwarzen Hintergrund der Wolken ab. Auch die kleine Insel Askold mit dem Feuerschein ihres Leuchtturms bleibt zurück. Vor uns liegt das düstergraue Meer und die Nacht; schon schmückt sich das breite weiße Kielwasser mit funkelnden, grünen Demanten. Deutscher Herkunft ist auch dieses gute, noch fast neue Schiff. Die Schiffsoffiziere sind Balten; doch ihre schwarzen Uniformen und der bis zu den Füßen reichende Schafspelz des Wächters am Ausguck sind moskowitisch.

Ein japanischer Dampfer, der »Hozan Maru«, hat gleichzeitig mit uns den Hafen von Wladiwostok verlassen. Er fährt ebenfalls nach Tsuruga. Anfangs bleibt er in unserer Nähe, langsam entfernt er sich in seinem eigenen Kurs und steht bald mit den Lichtern seiner Takelage wie ein fernes Sternbild am Horizont. Es ist kaum anzunehmen, daß dies Schiff da drüben mehr Menschen und Fracht nach Japan hinüberfährt als unser russisches Schiff. Es macht ihm nur Konkurrenz. Die Geschwindigkeit und der Überfahrtspreis ist der gleiche. In unseren zahlreichen Kajüten machen nicht mehr als vier Personen die Überfahrt. In der dritten Klasse hat ein Grüppchen Japaner Unterkunft gefunden, von denen schwer zu begreifen ist, warum sie nicht ihr heimatliches Schiff dem fremden vorgezogen haben.

Am nächsten Morgen hüllt sich das Meer in einen dichten Nebel. Der dumpfe Ruf der Sirene dringt durch die kühle, undurchdringlich scheinende Masse, die in weißgrauen klebrigen Fetzen über das von Ruß beschlagene Deck hinströmt. Die Sonne kommt bleich hervor und malt in die trübe Atmosphäre des Himmels einen geisterhaften weißen Brückenbogen. Ohne Ereignis, ohne Ausblick vergeht der Tag; das Schiff streicht mit steilen schwarzen Wänden rauschend durch das Wasser, das dunkelgrün und weißgeädert ist wie ein schöner Achat. Wir erreichen am Abend unser Ziel nicht mehr. Erst in der Nacht wirft das Schiff in der Bucht von Tsuruga Anker.


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