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Die Hauptstadt des Ostens

Unterbliebenes Gespräch

Der Europäer hat es gar nicht schlecht in diesem Zuge, der nur zwei Wagen erster Klasse führt. Ich wohne in einem mit schwarzem Leder gepolsterten Abteil. Ein sauber gekleideter Diener ruft mich in den Speisewagen zum Lunch. Ich finde dort nur zwei chinesische Kaufleute mit ihrem in karmesinrote Decken eingewickelten Gepäck. Der ältere mit seiner schwarzseidenen Mütze und dem Elfenbeinfächer, der jüngere mit seinem länglichen klaren Gesicht, dem mächtigen, von einem Kränzchen kurzgeschnittener Haare umgebenen Vorderkopf, der Adlernase und dem feinen Kinn, sehen aus, als müsse sich nicht ohne Humor mit ihnen plaudern lassen. Er sieht aus wie Freund Hermann Hesse auf chinesisch. Ich erinnere mich an ähnliche Begegnungen. Einmal auf der sibirischen Bahn saß ein junger Mann ein paar Stunden mir gegenüber, Anfang Dreißig, schmal, blasses Gesicht – dessen ganze Ausdrucksweise, ein Gemisch von geschäftsmäßiger Klugheit und ungeheuchelter Freundlichkeit des Wesens, mich so sehr an einen Jugendfreund erinnerte, daß ich ihn selbst vor mir zu haben glaubte. Und in einem Dorfe im Altai, vor seiner Haustür sitzend, sah ich einen Doppelgänger des von Dürer gemalten Nürnberger Patriziers Hanns Holzschuher. Merkwürdig sind die Spielarten der Menschen; zuweilen scheint es als sei der Typus stärker als die Rasse. Die Sprache versagt, aber der Blick findet sich im Gesicht des Nächsten zurecht. Was nun meinen Nachbar hier im Speisewagen der Peking-Eisenbahn betrifft, so reicht das platte Ausländerenglisch, dessen man sich hier draußen bedient, nicht aus zwischen uns, und die Möglichkeit eines unterhaltenden Gespräches, die wir uns am Gesicht ablesen, bleibt sozusagen kosmisch. Und so sitzen wir uns nach ein paar Worten zuerst befangen, dann gelangweilt, beinah feindselig gegenüber: ich mit diesem Eisenbahnzug um mich her, diesem gewaltigen, meinem Europäertum zukommenden Attribut, sie als die buntgekleideten Männer des Landes, die diese Eisenbahn jetzt zwar benutzen, aber mit ihren tieferen Gedanken, Plänen und Träumen in einem ganz anderen Rahmen leben. So hole ich aus meiner Reisetasche ein Buch, um wenigstens auf dem papierenen Umweg der Gelehrsamkeit hinter die verschlossenen chinesischen Stirnen zu dringen. Hier lese ich den schönen Satz des Laotse über die Selbständigkeit: Mögen Schiffe und Wagen vorhanden sein, niemand fahre darin. Mach den Menschen angenehm ihre Speise und friedlich ihre Wohnung. Nachbarländer mögen in Sehweite liegen, daß man den Ruf der Hähne gegenseitig hören kann: und doch sollten die Leute im höchsten Alter sterben, ohne hin und her gereist zu sein. – Zuweilen zwischen dem Lesen sehe ich die Chinesen an und könnte von ihnen ein paar Körnchen Salz auf das trockene Brot meiner Lektüre wohl brauchen. Schade.

Blick auf eine Stadt

Viel fremdes Militär ist auf dem Bahnsteig von Schanheikwan. In ihrem bräunlichen Khaki unterscheiden sich die Soldaten nur durch den Schnitt ihrer Uniformen: schwarzbärtige Inder mit faltigen Turbanen, kleine stämmige Japaner, polternde lachende Franzosen. Im Davonfahren sieht man die Zeltlager und die Sommerbaracken der Truppenplätze in der Ebene nahe dem Erdwall, wo die Große Mauer ihren Weg über die Höhen eines wildzersägten Gebirges beginnt. Jetzt schimmert das graue Meer über dem Strande. Zerrissene Berge erheben sich auf der anderen Seite mit den alten Wäldern um Peitaho, dem Erholungsort der Missionare, den die Pekinger Diplomatie und die reiche Kaufmannschaft von Tientsin zu einem europäischen Badeort gemacht hat. Am Bahnhof stehen Sänften und Kutschen. Warenhöfe, Hauswände, die mit riesigen schwarzen chinesischen Firmenzeichen beschrieben sind, reihen sich an die mit Strohdächern bedeckten, aus Lehm und Häcksel gebauten Häuser. Die Ebene verbreitert sich wieder; Reisfelder im silbernen Glanz der Bewässerung sind mit ihren wehenden Halmen wie eine grünblinkende Damastdecke über das Land gebreitet; wir erreichen Lantschau. Schwarze rauchende Rundöfen deuten auf eine Kohlengegend. Eine Schar von Dschunken liegt vor der Stadt in der ockergelben trägen Flut des Lwanho. Am Flußufer geht ein großer amtlicher Aufzug vor sich. Das blaugekleidete Volk verteilt sich in Massen auf den flachen Dächern und auf dem Bahndamm. Ein mit roten Tüchern behangenes Gerüst ist aufgeschlagen wie eine Tribüne, eine Prozession von Reitern mit roten Troddelhüten und Beamten in bunt strahlenden Kleidern kommt den Hügel hinauf. In diesem Moment fahren wir weiter; das Auge faßt nur noch eine sonderbare, kaum vier Fuß hohe Gestalt auf der Straße, einen kleinen schmierigen Japaner mit zerfransten Hosen, breiten goldenen Fingerringen und grünlichem Gesicht, die Zigarette mit der Bernsteinspitze in den goldenen Zähnen.

Gräber

Zart und herrlich blaut die See über einer flachen hellbraunen Sandlandschaft, aus der viele durch niedere Dämme voneinander getrennte Tümpel glänzen. Das sind die Flächen, auf denen die zurückgelassene Flut des Meeres zur weißen Kruste vertrocknet. Wie weiße Zelte spiegeln sich in der Ferne ein paar Salzstapel in den Lagunen. Der Himmel mit seiner tiefen Mittagsfarbe scheint eins mit dieser blauen See, in der draußen die Inseln und Schiffe zu schweben scheinen. Einzelne Hütten tauchen auf, nackte braune Kinder plätschern in den Meerwasserpfützen und grüßen schreiend.

Eine zahllose Menge spitzer Erdhaufen breitet sich hier bis an den Rand des Meeres aus. Es sind Gräber, wie vom Himmel herabgeregnet in dieser unfruchtbaren, von Salz verpanzerten Fläche. Friedhöfe gibt es nicht in China, darum findet man Gräber außerhalb der Städte überall. Was für den Lebenden der Atem, das sind für den Toten die Knochen, lehrt ein Chinese den andern. Und so schützen und erhalten die Lebenden in einer einzigartigen Totenknechtschaft alle Gräber des Landes, auch die der längst vergessenen Generationen. China hat über vierhundert Millionen Einwohner, doch kaum weniger Gräber. Die Bauern begraben ihre Toten auf den Äckern, die Ärmeren belegen die dem Staat gehörenden Ödländereien, die Bergabhänge und das Meeresufer. Drei- oder viermal in der chinesischen Geschichte haben allgemeine Gräbervernichtungen stattgefunden, jedesmal beim Wechsel von Dynastien; die letzte beim Antritt der Mingdynastie im Ausgang des vierzehnten Jahrhunderts. Die Mandschudynastie ließ die Gräber des Volkes nicht zerstören, wie sie auch die Grüfte der Mingkaiser verschonte. Es klingt sehr seltsam, aber durch dieses pietätvolle Verhalten versagten die Mandschukaiser dem Lande eine Wohltat. Wären alle Gräber Chinas seit mehr als dreitausend Jahren noch vorhanden, so würde wohl kaum ein Platz für die Lebenden übrig sein. Aber auch der jetzige Zustand genügt für eine Bodenkrisis. Die Berge bei Kanton und Nanking, die Küstenflächen in der Nähe der Seestädte sind ungeheure Totenfelder. Bei manchen Städten wird der Raum für die Bestattung der Toten unerschwinglich. Solang das Volk die Geister fürchtet, wird es niemals wagen, die alten Gräber dem Erdboden gleichzumachen. Aber der Wunsch nach einer neuen Gräbervernichtung ist groß. China würde ein Gebiet von der Größe Deutschlands neu gewinnen. Auch die Anlage von Straßen und Siedlungen, der Bau von Eisenbahnen und Bergwerken würde leichter vor sich gehen. Viele Chinesen behaupten, daß in China ein Dynastiewechsel notwendig sei, damit nicht am Ende die Zahl der Toten die Lebenden verdränge.

Reiner Himmel über Dächern

Wir sind hier in der Flachlandschaft von Taku. Vor dem Stationsgebäude sieht man Europäer im Tennisanzug, Chinesen in flatternden weißen Sommerkleidern, Matrosen fremder Kriegsschiffe. Flußdampfer ankern im Kanal. Vom hohen Meer nähern sich Ozeandampfer der Einfahrt in den Nordfluß. Nach einer Stunde erreichen wir den von Menschen wimmelnden Bahnhof von Tientsin. Doch der Zug rollt weiter. Ein Bahndamm führt über das lehmbraune Einerlei der Chinesenstadt und durch ihren wehenden Gestank. Weit hinaus sind Tausend und aber Tausende kahler spitzer Grabhügel der einzige Anblick, bis endlich wieder grünendes Korn und freundliche Dörfer den Eindruck eines heiteren und fruchtbaren Landes herstellen. Pagoden und Tempel stehen in der Ferne wie auf einer Scheibe und drehen sich vorüber; endlich grüßt der Zug mit heiserem Pfeifen eine hohe Mauerwand in einer volkreichen Vorstadt. Der Zug fährt ganz nah an die Mauer heran und hält in einem dürftigen Bahnhof.

Überraschung des Ankömmlings, der aus dem engen Eisenbahnwagen unmittelbar ein mächtiges Stadttor durchschreitet. Die Unterkunft ist in einem Riesenhotel, das mit seinen vier Stockwerken, seinen glänzenden Sälen und langen Korridoren, den europäischen Verwaltern und zahlreichen schmucklos sauberen Dienern ein langentbehrtes Behagen mit einer wie zum höheren Vergnügen der Gäste abgetönten Fremdartigkeit verbindet. Der Blick aus dem Fenster fällt auf einen von Efeu umsponnenen englischen Kirchturm, dessen helles Glockenspiel die Stunde anzeigt. Doch wenn man den Fuß an diesem Abend nicht mehr vor die Tür setzen mag, so bleibt der klare sternreiche Nachthimmel, der sich in unermeßlicher Weite über dieser Hauptstadt des gewaltigen Asiens ausspannt. Das Bild des Fuhrmanns leuchtet geheimnisvoll wie über der Heimat, im Gürtel des Orion glänzt der rötliche Stein. Die Astronomen des gelben Kaisers erforschten diesen Himmel, als noch Europa und seine Wissenschaft in grauen Nebeln lag. Sie machten in ihrer naiven Weisheit achtundzwanzig festbestimmte Sterne zu Ausgangspunkten der Himmelsbeobachtung, zu ›Herbergen für die Nacht‹, zu leuchtenden Lagerfeuern in der glitzernden himmlischen Wüste. Und noch heute fragen in allen Provinzen des Reiches die Menschen nach dem Verzeichnis der für jedes Jahr von den Pekinger Astrologen festgesetzten günstigen und ungünstigen Tage. Dem Mandarin, der die Staatshandlungen vorbereitet, sind sie so unentbehrlich wie den Weibern der mongolischen Nomaden, die sich in den Lamaklöstern den Tag der Hochzeit nennen lassen. Über dem Staube, der hinter den Eisenbahnen wirbelt und hinter den Füßen der Wanderer zur Erde sinkt, leuchten diese klaren Sterne hell aus dem Dunkeln wie das Paulinische Wort, daß wir ein Haus haben, nicht mit Händen gemacht. Nun lehne ich in der Nacht aus dem hohen Fenster und schaue hinab über die nur undeutlich ausgebreitete fabelhafte Stadt. Ich denke daran, wie stark und unklar ich als Knabe mir wünschte: daß ein Zaubermantel mich aufhöbe und mitten in Peking niedersetzte. Wie ich zweimal in den östlichen Gegenden des asiatischen Festlandes reiste und es mir versagen mußte, wohl auch so heftig damals den Wunsch gar nicht mehr spürte, bis zu diesem Ziele zu gelangen. Doch jetzt bin ich da, fast ohne Mühe und wie von etwas Plötzlichem betroffen.

Der Stadtplan

Es gibt merkwürdige Städte, erstaunliche Stadtpläne, großartige Stadtgrundrisse, aber keiner kommt mir seltsamer vor als der von Peking. Da ist kein großer Fluß, an dem sich diese Stadt festsetzte, kein Gebirge, an dessen Wand sie sich unmittelbar anlehnt. Die große vielzerklüftete Wand der Westberge mit dem steinernen Band der Großen Mauer ist in der Ferne. Die Stadt ist in der Ebene entstanden, an kleinen Flußläufen, die von den Bergen herablaufen, es fehlt nicht an Bächen, das Land ist fruchtbar. Die Stadt ist in ein Viereck eingedrängt. Die Achse des Vierecks ist von Norden nach Süden gerichtet. Alle bedeutungsvollen Bauwerke des alten China sind nach dem Gesetz der »Wind- und Wasser-Bedingungen« von Nord nach Süd gerichtet, gegen den unheildrohenden Norden geschützt, gegen den freundlichen Süden offen. Es ist das Merkwürdige, daß hier eine ganze Stadt gerichtet ist wie ein einzelner Palast mit seinen Amtsgebäuden, seinen Hallen, seinen Nebengebäuden, seinen Höfen, Teichen und vielen Gärten. Diese große Vornehmheit und Strenge fügt Peking ein in den Kosmos. Peking heißt nicht nur die Hauptstadt eines Reiches, sie ist es auch in einem mystischen Sinne. Die Seele Pekings ist die Geisterstraße. Diese höchst selten betretene, für Menschen durch Dutzende verschlossener Tore unbrauchbar gemachte Straße, die keinem profanen Zwecke dient, keiner Bewegung, die man Verkehr nennen könnte – diese Straße ist das Rückgrat der Stadt. Diese Straße ist mit großen Steinplatten belegt, das Gras in ihren Ritzen zeichnet viereckige Muster. Ihr Verlauf durch alle die geschlossenen Mitteltore der Palastmauern und der inneren Tempel mit dem alten glasierten Löwen wird an manchen Stellen sinnend betrachtet von einem Spalier Kamele, Einhörner und Schildkröten. Es gibt Städte vom Grundriß des Schachbrettes, es gibt andere in der Form des Halbmondes, es gibt sternförmige und kreisförmige Städte, andere sind in ihrem Grundriß wie eine Schneeflocke, aus Kristallen zusammengesetzt. Es gibt Städte, deren Grundriß an einen Vogelbauer erinnert oder an eine Kartothek. Aber der Grundriß von Peking hat die Form eines Altars. Dieses einfache und starre Viereck liegt völlig unbekümmert um die Wellen des Geländes in der Ebene. Wenn die großen Tore dieser Stadtmauer geschlossen sind, so ist die Einschließung ohne Lücke. Über den Toren ragen breit und sicher die Turmgebäude mit ihren Dächern, Wehrgängen und Zinnen. Die Mauern schützen die Menschen im Innern der Stadt vor den eisigen, mit Staub beladenen Stürmen des Winters, freilich verwehren sie auch im Sommer den kühlen Brisen den Eintritt. Die Stadtmauer umschließt wie eine Kruste das Leben der bunten und prangenden Stadt. Ihr folgen innen die regelmäßig angelegten Straßenparallelen; die Paläste, die Gehölze in der Stadtmitte liegen abermals in Mauern eingeschlossen, die genau denen der äußeren Mauer entsprechen. Schmal und doch unergründlich sind die Wohnviertel, die zuweilen gedärmhaft in unzählige ineinanderverschlungene Gassen und Gäßchen übergehen. Nichts ist anziehender als die Karte der Stadt. Man sieht aus dem ganzen Land eine unendliche Menge von Straßen und Feldwegen zu dieser Stadt hinstreben. Es ist wie ein lebendiges, gleichmäßig lockeres Aderwerk, es ist wie das Hinfließen unzähliger Rinnsale zu einem gemauerten See. Wie eines jener bunten viereckigen Amtsabzeichen auf der Brust der Mandarinen, so ruht die Stadt auf dem leicht und wohlig gemusterten Teppich des Landes, und sie zieht die Blicke auf sich wie eines dieser symbolischen Schilder. Außen ein Abbild des Sinnes, innen das lebendige Herz.

Der Versuch, Peking zu beschreiben, ist oft unternommen worden. Sorgfältige Beobachter haben ihre Eindrücke wiedergegeben. Gelehrte brachten merkwürdige Einzelheiten in Erfahrung, aber man sah stets nur Ausschnitte. Der Versuch, diese von tausend ergreifenden, majestätischen, verbrecherischen, schwelgerischen, kleinsten und großartigsten Dingen, von einer wahrhaft katholischen Heiterkeit erfüllte, von irdischen und himmlischen Beziehungen gesättigte Stadt zu beschreiben, könnte nicht umsichtig genug unternommen werden. Zu dem Erlebnis dieses in allen Farben schillernden Straßenlebens, zur Durchdringung aller hier noch lebendigen Zeremonien, Glaubensdinge, Volksgebräuche und Liebhabereien, zur Erfahrung all der feinschmeckerhaften, intelligenten Dinge, die in den Theatern, Restaurationen, Gesellschaften, Tempeln und Kapellen dieser Stadt möglich sind und ihr jahreszeitliches Leben haben, gehört ein tiefes Wissen um das Vergangene, ein Erinnern an die noch überall nachwirkenden, verklingenden früheren Geschlechter, eine Einsicht in das Gewordene, Geschichtete, wie wir sie von Athen und Rom besitzen. Die gelben Kaiser sind nicht mehr, die großen Jahresopfer werden nicht mehr gefeiert, die alten Riten, deren musikalische Tonfolgen, deren ernste Verbeugungen, deren fremdartig kostbare Kostüme den ewigen Geheimnissen gewidmet waren, sind vergessen. Dennoch würde niemand sagen können, die Seele der Stadt sei tot. Vielleicht werden einmal alle die alten kostbaren Dinge dieser Stadt nicht mehr bedeuten als ein mit tausend Zufallsfunden vollgestopftes Museum. Vielleicht wird den Figuren, Teppichen, Geräten, den Denksteinen im Schatten der Gärten und den Statuen im Dunkel der Tempel die magische Kraft, die sie jetzt noch ausströmen, genommen sein. Vielleicht wird sogar das Zentrum des politischen Geschehens sich eines Tages nach dem Süden Chinas verschieben. Dennoch wird immer in Peking wie in einem Zauberspiegel ein Abglanz aller bewegenden Dinge des großen Ostens erscheinen, ein farbiger furchtbarer Schatten, ein mächtiger Gedanke.

Die alte Mauer

Am frühen Morgen muß man auf der Stadtmauer spazierengehen, um Peking im schönsten Glanze des Tageslichtes zu erblicken. Man schreitet in der sonnigen Kühle da oben mit dem eigenen langhingeworfenen Schatten wie auf einer breiten, von rauhem Gras bewachsenen Brücke. Von unten herauf hallen die ersten Laute der Straße. Der Ausblick in die Stadt hinein ist offen, vor den Blick nach außen treten in regelmäßigen Abständen die Zinnen. An die Mauern sind da und dort noch rote Marken hingemalt, sie bezeichneten einst die Standorte der Verteidiger. Unnötige Maßregel heutzutage, wo in dem weißen Stadtviertel da unten die Paläste der fremden Gesandtschaften stehen, umgeben von Bankhäusern, Kasernen und Kirchen. Dieses Gesandtschaftsviertel ist eine Festung in der Festung. Moderne Geschützmaschinen starren hinter den durch Drahthindernisse miteinander verbundenen Mauern. Eiserne Lanzen, wie Fächer vorgestreckt, sperren einen Teil der Mauer, der über diesen Gärten ist. Zuweilen führt eine breite befahrbare Rampe von der Höhe der Mauer abwärts in das unbebaute Feld in der Ecke der Stadtmauer. Nach Norden gesehen, heben sich aus ihren weiten symmetrischen Höfen die erdbeerroten Paläste, die gelben Dächer, die grünen Wipfel der Verbotenen Stadt. Nach Norden ziehen sich die endlosen gleichmäßig breiten, gleichmäßig von der modernen Straßenwalze bearbeiteten, an beiden Seiten mit Bäumen und Telegraphenmasten bepflanzten Straßenzüge. Nach Norden gesehen, liegt die Stadt wie in einer Schachtel, über den fernen Zinnen des nördlichen Randes ragen im Horizont die grauen zersägten Bergzüge. Steht man zwischen den Zinnen der Stadtmauer nach Süden gewendet, so sieht man den Hain, aus dem die leuchtenden Knäufe, die runden Dächer des Himmelstempels strahlen. Zu Füßen der Mauer liegt die dörfliche Vorstadt. Aus ihren Gassen ergießt sich eine weiße Entenherde, sie sucht den Teich, sie gleitet ins Wasser, sie schaukelt auf den eigenen kleinen Wellen. Da sind große Wiesen. Hinter den Büschen schimmern Kanäle. Sie dienten einst der Zufahrt der Reichstribute aus den Provinzen. Diese Tribute ernährten die Nachkommen der Mandschukrieger, die einst die Macht der Dynastie befestigten und sich in Peking ansiedeln durften, um durch Generationen hindurch das Privileg der Eroberer zu genießen. Die Mandschus waren zuletzt nur noch ein kleiner aristokratischer Teil der Bevölkerung, der nie das Arbeiten lernte und nun in Gefahr steht, zu verhungern. Ihre Einteilung in acht Banner war die letzte Erinnerung an die alte kriegerische Organisation. Auf der Längsmauer an der Ostseite der Stadt ist die Plattform, auf der die astronomischen Instrumente standen, die der flandrische Jesuitenpater Ferdinand Verbiest im Jahre 1668 baute, um sie dem gelben Kaiser zu schenken. Es gibt noch chinesische Darstellungen, die zeigen, wie die Teilkreise dieser Instrumente mühsam mit Fräsern bearbeitet wurden.

Kleine Straßenbilder

Quer durch die alten Gassen sind den Fremden zulieb die modernen Straßen gebaut worden, die von einem Ende der Stadtmauer zum anderen reichen. Neue Häuser mit europäischen Fassaden aus düsteren blaugrauen Ziegeln fügen sich zwischen die krausen chinesischen Gebäude. Ein reiches Haus ist im Umbau, es ist ganz verhüllt von einem höchst komplizierten Bambusgerüst. Eine Schar Diener in langen hellblauen Gewändern und kegelförmigen, mit roten Haarbüschen besetzten Mützen steht vor der Tür, es wartet eine mit feurigen Peking-Schimmeln bespannte, mit blauer Seide ausgeschlagene Glaskutsche. Gleich nebenan auf der Schwelle einer armseligen Hütte sitzt eine blasse dicke Frau in ihrem bis zum Knie reichenden indigoblauen Leinenrock und den spitz zulaufenden Beinkleidern. Sie spielt mit ihrem Bübchen. Der kleine Kinderschädel ist rasiert, nur am Hinterkopf sind ein paar muschelförmige Haarpartien übriggeblieben, die Mutter flicht sie mit einem roten Faden zu kleinen Rattenschwänzchen zusammen. Ein zerlumpter Topfflicker kommt über die Straße, er schlägt sein Gong, man hört ihn schon von weitem. Ein graues altes Männchen steht in einem Hofe und putzt einem Gaul, der seine Lippen hochzieht, die Zähne. Vor dem Nachbarhause steht ein Rudel Diener mit schwarzhaarigen Köpfen; es sind junge Burschen von einer fast weiblichen Feinheit, sie tragen weiße weite Hosen bis zu den Hüften, ihre mageren goldbraunen Oberkörper sind nur mit einer dünnen Jacke bekleidet, die Brust und Leib offen läßt. Einer ordnet dem anderen das Haar wie in ein leichtes Spiel vertieft; einer hebt eine Tasse Tee zum Munde; ein anderer schaut, leicht an den Türpfosten gelehnt, mit einem kindlich träumerischen Lächeln auf die Straße. Sie alle gleichen harmlosen Geisteskranken in ihrer anmutigen Haltung, die einen vollkommen glücklichen Müßiggang darstellt. Aus einem der Tore der Verbotenen Stadt naht eine Gruppe rotbraun gekleideter Trabanten. An roten Stangen tragen sie Lampions, die aussehen wie Goldfischglocken mit etwas Grünem darin. Es folgen schwarz kostümierte Gestalten mit buntbespannten Pauken und vergoldeten Instrumenten, die ungeheuren Tabakspfeifen gleichen. Das alles macht eine leise, unaufdringlich rumpelnde Musik. In der Mitte schwebt eine mit rotseidenen Vorhängen verschlossene Sänfte. Respektlos drängen sich hinter diesem Zug schwarze, mit Kohlensäcken beladene Bauern und lautschreiende Mauleseltreiber.


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