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Die Festungsstadt

Vernagelte Fenster

In der Finsternis vor diesem Bahnhof gibt es nichts als ein paar trübe Wagenlaternen. Schon fährt mich der Kutscher mit fliegenden Frackschößen über eine polternde Brücke. Ich fahre auf der menschenleeren Straße am Wasser entlang. Nichts zu erkennen als ein Licht in der Takelage eines gespenstischen Schiffes. Die hohen Korridore des Hotels sind bis in den letzten Winkel von elektrischen Birnen beleuchtet. Aber sie sind leer. Im Zimmer stehen frische Blumen neben der grün verhängten Lampe. Sie beruhigen nicht. Ich trete auf den Balkon. Drüben im Dunkeln liegt ein Haus, das in seiner ganzen Breite von einem Baugerüst bedeckt ist. Finstere Berghöhen drohen dahinter und verkleinern den Sternhimmel. Zu ihren Füßen schimmern bleiche Häuser einer totenstillen Stadt. Am Morgen fällt mein Blick zuerst auf jenes Haus. Seine Fensteröffnungen sind mit Brettern zugenagelt. Die Straße liegt in der Morgensonne. Aber sie schweigt jetzt noch tiefer als die Nacht. Neben den halberwachsenen Bäumchen der Allee läuft ein Graben. Er ist mannstief und sorgfältig ausgemauert. Ist das nicht sinnlos? Wofür braucht man hier einen solchen Graben! Bis zum Wasserspiegel des Hafens hinab senkt sich eine Wiese mit Blumenbeeten und einem Musikpavillon. Große Gebäude mit verödeten Veranden, geschlossenen Fensterläden und Rissen in den Mauern schauen auf die Bucht. Der Hügel der Kathedrale ist in der Mitte. Aber die Kathedrale ist nie gebaut worden. Die Sandhaufen und die zum Fundament bestimmten Steine liegen noch da. Der weiße italienische Marmor war schon unterwegs auf den Schiffen. Aber er ist in einem chinesischen Hafen abgeladen worden und dort liegengeblieben.

Ein Torpedoboot und ein von Dschunken umgebener Handelsdampfer liegen in der Bucht. Mehr ist nicht da. Am Ufer des Hafens rosten alte Schiffskessel, halb gesunkene Pontons und eine Menge schwerer Ankerketten. Der jenseitige langgestreckte Hügelrücken trennt die Lagune vom offenen Meer. Er trägt die Sommerhäuser und den Badestrand, den in den heißen Monaten die Japaner von Dairen und die reich gewordenen Chinesen von Mukden besuchen. Den Hintergrund bildet die einstige Neustadt mit den breiten Geschäftshäusern jener großen ostasiatischen Firmen, die sich einst auf Befehl des Generalgouverneurs Alexejeff hier niedergelassen hatten und deren Namen längst vergessen sind. Der Wachtelberg trägt das japanische Siegesdenkmal. Es ist ein Schintotempel von strenger und einsamer Form. Zu seinen Füßen windet sich der Weg zu den ärmlichen Häusern der Altstadt mit den Ruinen der Docks und den kleinen Läden der japanischen Drogengeschäfte, der Kohlenverkäufer und Schiffshändler. Das sind Dutzende von Löchern, vollgestopft mit rostigen alten Waffen, Granathülsen und Schiffsgeräten, mit offenen Schubladen voll von Uniformknöpfen, Koppelschnallen, Nickelmantelgeschossen und kleinen, von Grünspan überzogenen Kreuzchen, die russische Soldaten einst auf der Brust getragen haben. Chinesische Bauernhände haben das alles von den Schlachtfeldern zusammengetragen. Und die Hände von fremden Seeleuten und Vergnügungsreisenden wühlen ohne Scham in diesem klirrenden Zeug.

Der Weg durch die Stadt führt in die Berge. Die Falten der Berge sind ausgezeichnete Artilleriestraßen. Kahle Höhenzüge verwehren den Blick auf das Meer. Die Stadt löst sich endlich in ein paar chinesische Gehöfte auf, die in Baumgruppen eingebettet sind. Oben, auf das Meer gerichtet, liegen die Kasematten, weiß, flach und fensterlos wie die Häuser einer arabischen Stadt. Man kommt an der von Mauern umgebenen einstigen Residenz des Generals Stössel vorüber, die jetzt der Militärgouverneur bewohnt. Dort in der Nähe der Kasernen und der Reitbahn steht ein Schuppen, der früher der russischen Militärverwaltung diente: das Kriegsmuseum. Eine Fußbrücke, deren Geländer aus alten Kanonenrädern gemacht ist, führt zu ihrem Eingang. Ein schlanker schwarzhaariger Japaner erscheint in der Tür, um mir die Eintrittskarte zu verkaufen und sofort zu verschwinden. Innen steht gleich das ausgestopfte Reitpferd Stössels mit dem prahlerischen Monogramm auf der Schabracke. Man hat die Granatlöcher im Dach offen gelassen, der blaue Himmel scheint auf Schränke und Glaskästen. Da liegen, sorgfältig ausgebreitet und mit Nummern besteckt, Waffen und Uniformen, Schanzzeug, Tornister, Kochgeschirr, Winkerflaggen, Telegraphenapparate, ärztliche Bestecke, die zerfetzte Hülle eines Fesselballons. An den Wänden hängen die Bilderbogen aus den Instruktionsstuben der Kasernen: Szenen aus dem Jahre 1812, dem Krimkrieg, dem Balkanfeldzug, dem Feldzug gegen die Turkmenen, bildliche Unterweisungen im Wachestehen und Salutieren, Abbildungen von Rangabzeichen, Orden und Ehrenmünzen, Photographien russischer Offiziere, Ölbilder japanischer Generäle. Hier liegt ausgebreitet, von Kugeln durchlöchert, das Unterzeug eines Soldaten, Mütze, Schaftstiefel, Seitengewehr und Heiligenbild daneben. Plötzlich ein ganz leises Geräusch im Nebenraum. Es hört sich an, als habe sich jemand, der umherschleicht, durch eine einzige Bewegung verraten; sofort ist alles wieder still. Erstaunt gehe ich in das andere Zimmer. Niemand ist da. Aber in der Ecke steht ein Käfig mit ein paar lebenden Tauben. Brieftauben aus der Zeit der Belagerung. Vielleicht sind es auch nur ihre Abkömmlinge.

Batterie B

Mein Kutscher fährt mich jetzt durch ein äußerst armseliges chinesisches Dorf und in ein tief eingeschnittenes Tal. Auf den Abhängen haben die Granaten überall ihre Riesenstapfen hinterlassen, aber auf den Feldern, die noch von unregelmäßigen Gruben durchzogen sind, grünt die Saat in den eigentümlich gekrümmten Furchen des chinesischen Ackerbaues. Dürres Gestrüpp von Zwergeichen säumt die Straße, Bauernkarren mit lautschreienden Holzrädern kommen vorüber. Eine Hochzeitsgesellschaft. Auf dem von Ochsen gezogenen Wagen sitzt eine Ladung Frauen mit breitgesäumten, hellblauen mantelartigen Kleidern, weiß umwickelten Füßen, hochrot geschminkten birnenförmigen Gesichtern und dem Kopfputz aus Silberflitter und farbigen Emaillestücken. Neben diesen Fabelwesen gehen langsam, die Tiere antreibend, die Bauern und die Kinder.

Auf die Höhe des Bergrandes führt die in den Fels gehauene Straße des Tungkikwanschan zum Standort der unbesiegten »Batterie B«, die von den Russen am Tag der Übergabe von Port Arthur gesprengt wurde. Drei durch gedeckte Gänge miteinander verbundene Forts und eine Kette von kleinen Außenwerken boten eine gewaltige Abwehr gegen den Angreifer, der die davor hingebreitete Talsenkung zu überschreiten hatte. Dieser Berg war Orkanen ausgesetzt, die seine äußere Form veränderten. Kein Zollbreit Boden, den der Kugelregen verschonte. Die Steinklötze der Brustwehr sind auseinandergerissen, die Gräben mit Splittern eingeebnet. Dünnes zähes Gestrüpp wuchert wie Stacheldraht auf den übereinandergetürmten Trümmern. Hier klebt noch, zwischen Steine geklemmt und vom Regen verwaschen, ein Fetzen dunkles Tuch. Ein Stück Lederzeug liegt bei einem gebleichten Knochen. Bedauernd, betroffen wiege ich ihn in der Hand und lege ihn an seine Stelle zurück. In einer Mulde liegen Hunderte verrosteter Konservendosen. Aber von dem ungeheueren Hagel von Blei und Eisenstückchen, der einst auf diese Felsen niederging, ist nichts übriggeblieben. Die Chinesen streifen noch immer mit Stab und Säckchen umher. Das alles war einmal die Hölle. Jetzt ist alles Leid vorüber. Längst vergessen.

Neugier des Grübelns

Der Blick schweift landeinwärts. Täler, Mulden, breite Felder legen sich zwischen felsige, einsam stehende Hügel, deren Abhänge noch immer von Gräben umwickelt sind. Diese schweigende heroische Landschaft enthält keine Farben als das vielfältige Braun der Erde und darüber den Himmel, das blaue, klare, unbeteiligte Element. Kein Leben regt sich auf diesen von kalter Luft umströmten Höhen. Wenn ich mich umwende, sehe ich unten einen Halbkreis, eine Arena von niederen Bergen, die die Stadt und den zum Meere offenen, das Blau des Meeres widerspiegelnden Hafen umschließen. In die Talfalte schmiegt sich eine Häusergruppe, deren Wände noch die halb verwaschenen großen Zeichen des Roten Kreuzes tragen. Und in einer ganz entfernten, kaum noch merklichen Falte des Berges liegen geschweifte graue Dächer, ragen rote, mit Mastkörben beschwerte Stangen eines chinesischen Gehöftes.

Eine grüblerische Neugier führt mich Schritt für Schritt durch die Einöde. Auf diesen verlassenen, unter Sand und Felsstücken begrabenen Forts lebt kein anderer Laut als das Zwitschern der Vögel, die in den Gräsern nisten. Gleichen nicht die kleinen schneeweißen Wolken dort am Himmel den geballten Wölkchen der Granaten? Dort drüben auf der Berghöhe von Bodai ist ein grelles Glitzern in der Mittagssonne. Es ist vielleicht nur eine armselige Glasscherbe, und doch weitreichend wie der Strahl des Spiegeltelegraphen. Ich höre das Ende eines Donners. Es ist nur mein Wagen, der hinter mir herfährt und über eine hölzerne Brücke poltert. Einen Augenblick war es wie das Dröhnen der Geschütze, die das Herz der Verteidiger zittern machten. Ich steige, rutsche, falle in das von Granaten geschlagene Loch eines Betongewölbes, dessen Eingang nicht mehr zugänglich ist. Die Außenwand gleicht einem von Pocken und Narben entstellten Antlitz. Es ist die »Dritte Fortifikation«. In dieser langgestreckten Höhle leitete der tapfere General Kondratenko die Verteidigung, bis ihn die Splitter eines japanischen Geschosses zerrissen. Durch die mit Schutt fast ausgefüllten Gräben des Nordforts dringe ich in das Innere einer verödeten Galerie und steige an der anderen Seite hinaus. Dann klimme ich den hohen, steilen, kegelförmigen Bodai hinan. Auf dem Gipfel haben die Japaner die Schiffsgeschütze stehenlassen, die dieses alles überschauende Adlernest vergeblich verteidigten. Japanische Schriftzeichen sind in die Lafetten eingeritzt. Rings liegen Scherben von Bierflaschen und Gläsern. In der Ferne, nach Norden gesehen, ragt der berühmte einzelstehende 203-Meter-Hügel. Wer erinnert sich noch, daß der Verlust dieses Hügels den Fall der Festung entschied? Alles ist vorüber. Und schon lange her.

Mit dem Abendzuge verlasse ich Port Arthur, abgestoßen von derselben Kraft des Grauens, die mich hingezogen hatte. Kein Volk der Erde ist unberührt geblieben von den Folgen des großen Würfelspieles, das sich in dieser öden Landschaft am äußersten Rande des asiatischen Festlandes vollzog. Andere Erinnerungsstätten sind uns näher. Um ihr Grauen zu spüren, brauchen wir nicht mehr weit zu reisen. Der Zug hält einen Augenblick in Tschanglingtsu. Das ist die kleine Bahnstation, die einst die Operationsbasis der Japaner bildete. Im Mondlicht schimmern die öden knochigen Formen der Hügel, die kahlen, wie von den Fluten eines Wolkenbruches zerrissenen Abhänge. Ich bin ganz allein in dem hell beleuchteten, mit rotem Plüsch gepolsterten Pullmanwagen. Auf dem Nebengeleise steht eine Lokomotive. Ihr starker blinkender Leib sprudelt schwarzen Atem aus seinem kurzen Halse. Und sie läutet, läutet unablässig mit gellenden gleichmäßigen Schlägen. Mit ihrem dröhnenden Bellen heult sie den Mond an.


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