Balder Olden
Anbruch der Finsternis
Balder Olden

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Dreiundzwanzigstes Kapitel

»Jetzt wird sich zeigen, ob wir unser Handwerk verstehen!« frohlockte Schnierwind am frühen Morgen des 1. Mai. Er humpelte gewandt neben seiner eleganten Frau durch den Vorgarten seiner Villa – Frau Schnierwind, die ihren Gatten um zwei Haupteslängen überragte, strahlte wie echte Maiensonne, strahlte den tief sich verbeugenden Adjutanten ihres Gatten und die beiden Giganten am Führersitz an. Sie zweifelte nicht, daß dieser Tag ein Ruhmestag würde. Schnierwind war erregt wie ein Dorfjunge, der alle Erwachsenen vom Bürgermeister bis zum Gemeindediener hinters Licht geführt hat. Er sprudelte von Geist und strömte Feuer aus.

»Hereinspaziert, hereinspaziert, wer sich für Wunder interessiert!« rief er. »Hier ist zu sehen ein zweimillionenfüßiges Kalb, genannt Volk, das seinem Metzger ›Heil‹ zublökt! Hier ist zu sehen der Wunderdoktor aus Braunau in Böhmen, der das Geheimnis weiß, wie man mit einem Schlag die Arbeitslosigkeit aus der Welt schafft und dies Geheimnis seit zehn Monaten nicht preisgegeben hat. Hier ist zu sehen und zu hören der Mann, der acht Millionen Arbeitslose aus der Welt schafft, ohne sie umzubringen! Zögern Sie nicht, meine Damen und Herren, er verrät es Ihnen, nicht für eine Mark Eintritt, 216 nicht für fünfzig Pfennige, nicht für zehn Pfennige, sondern er verlangt nichts als eine Kaiserkrone auf sein gedankenreiches Haupt. Hier sehen Sie Arm in Arm Hitler, den Retter der Enterbten, und Hindenburg, den Fels der lachenden Erben, und zu beider Füßen – lachen Sie nicht, meine Herren vom Adel und einer hochachtbaren Bürgerschaft – sehen Sie –«

»Du mußt endlich eine Zigarre in den Mund stecken!« beschwor ihn Frau Schnierwind. »Ich habe dir schon oft gesagt, daß du höchstens vierundzwanzig Stunden am Tag sprechen darfst. Schau dir Herrn Rümelin an – er ist schon halb tot. Stell dir vor – wenn jemand zuhörte, der dich nicht kennt!«

»Um Gottes willen, Thusnelda!« – Schnierwind gab seiner Frau aus Bosheit den Namen der Gattin Arminius', des Römerbesiegers. »Wer mich nicht kennt, würde mich für schwachsinnig halten, und dabei bin ich doch der scharfsinnigste Analytiker meiner Zeit. Aber Rümelin ist grün, weil er heute Nacht zwei Flaschen Kognak getrunken hat, indessen ich selig in deinen Armen lag. Er kennt mich. Und du kennst mich auch – also: ›Hier ist zu sehen, bibbern Sie nicht, Fräulein, es kommt gleich noch besser, ein hungriges Volk von fünfundsechzig Millionen, das von dem Blut von ein paar Juden satt wird, bengalische Lichter, höchster Luxus an Feuerspülung und Wasserwerk!‹ – Rümelin, Ihnen wird übel, Ihnen steckt immer noch der selige Naumann im Magen. Steigen Sie aus, ich entbinde Sie für drei Stunden von allen Pflichten, stecken Sie zwei oder drei Finger tief in den Hals. Und dann erscheinen Sie frisch wie ein junger Gott auf der Tribüne!«

Aber Rümelin riß sich zusammen, daß es knackte.

»Wir sind gleich da!« sagte er. »Plaudern Sie nur weiter, ich kotze mich später aus.«

 

Das Tempelhofer Feld ist die gewaltigste Grünfläche rings um Berlin, sie umreißt tausendvierhundert Hektar dünn bewachsenen Sandbodens und hat früher den Manövern etlicher Divisionen der kaiserlichen Armee gedient.

An diesem 1. Mai war das ganze, unübersehbar weite Feld 217 ein einziges Heerlager, viele Hunderttausende von Menschen, gewiß ein Drittel der Einwohnerschaft von ganz Berlin, hatten sich dort versammelt. Es war umgrenzt von einem Wall flatternder Fahnen, die auf schwarz-weiß-rotem Grund das Hakenkreuz trugen. Auch auf der Heide selbst waren viele Hunderte von Flaggenmasten errichtet, von denen Hitlers Fahnen wehten. Wie ein Schleier spannten sie sich unter dem Himmel.

Noch immer marschierten im militärischen Takt SA-Kolonnen an, Vereine und Betriebszellen, Studentenabordnungen in buntem Wichs, Turnerschaften, Kapellen mit klingendem Spiel.

Frau Schnierwinds Augen leuchteten heller – sie war die Gefährtin, die Frau des genialen Organisators, der all das entworfen und ausgeführt hatte, der immer und immer wieder mit »Heil«-Rufen und »Hoch!« begrüßt wurde. Er allein, vielleicht als einziger Mensch unter diesen Hunderttausenden, trug keine Hakenkreuzbinde, nicht das kleinste Abzeichen. Er stellte sich über den Pöbel und haßte ihn! Aber wie sie ihn kannten! Wie sie ihn liebten!

»Ich hätte nicht gedacht, daß solche Begeisterung möglich ist. Es sieht aus, als wäre heute auch nicht ein Mensch zu Hause geblieben, der seine Beine bewegen kann. Hitler und du, ihr seid die größten Zauberkünstler aller Zeiten!«

»Es ist die garantiert echteste Begeisterung seit 1914«, antwortete Schnierwind. »Die Arbeiter bekommen ihren vollen Tageslohn, obwohl sie keine Hand, sondern nur die Füße und Mäuler bewegen. Das hat natürlich einen leisen Druck auf die Arbeitgeber gekostet, aber wirklich nur einen ganz leisen, denn die Arbeitgeber sind ja auch begeistert, wenn die SA begeistert ist. Natürlich muß jeder Kerl aus den Betrieben am Abend nachweisen können, daß er an der Volkserhebung wirklich teilgenommen hat. Sie haben eine Karte zu tragen, die wird fünfmal am Tag von unseren Ordnern gelocht, so ungefähr alle zwei Stunden. Genialer Einfall, was?«

Eine breite Straße war zu den Tribünen offengehalten, die im Zentralpunkt des Tempelhofer Feldes ragten. Die durchfuhr Schnierwinds Polster-Tank, zwischen Mauern sonntäglich 218 gekleideter Menschen hindurch, und über ihnen kreiste silberglänzend ein riesiger Zeppelin. Auf der Tribüne konzertierte die Militärkapelle, schmetterte Märsche und Hymnen in die Luft, und über Hunderte von Radiolautsprechern zugleich geleitet, tobten diese kriegerischen Klänge all den Hunderttausenden zugleich in die Ohren.

Das Bild, das sich von der Tribüne bot, war so märchenhaft, daß beim ersten Blick jedem der Atem stockte. Vielleicht hatten noch nie im Laufe der Geschichte, in keinem Lande der Welt, ein Mensch und seine Idee solche Scharen von Mitbürgern zugleich um sich versammelt. Kilometerweit standen sie, Kopf an Kopf, so dicht gedrängt, daß der Rasen zu ihren Füßen wie von einem Menschenteppich bedeckt war. Das waren keine Gestalten, keine Köpfe, keine Gesichter, das war der unfaßbare Begriff »Masse Mensch«, mit einem Schlage Wirklichkeit geworden.

In Rümelin regte sich die alte Begeisterung. Vor diesem ungeheuren Bild vergaß er das Scheußliche, das Entsetzliche, das Grausame, das in diesen ersten Wochen ihres Regiments die Naziherrschaft gezeitigt hatte. Es fiel ab, wie häßliches Beiwerk, wie Schlacken, aus denen sich das reine Erz in roten Gluten löst. Welch eine Ordnung in diesem Gewühl, welch eine Disziplin in diesen entfesselten Scharen! Welch ein Glaube, Glaube an den Führer, der so viel über ein ganzes Volk vermochte!

Gigantisch aber und bewundernswert war auch der Plan, der aus dem Tempelhofer Feld einen einzigen Festplatz gemacht hatte. Arbeiter und Architekten, Ingenieure und Elektromonteure, Bau- und Erdarbeiter hatten hier in Tag- und Nachtschichten eine ungeheure Aufgabe bewältigt. Wie Inseln im Meer waren rundherum durch das Gewoge der Menschenköpfe Plätze ausgespart, von denen zwischen wehenden Bannern die Lautsprechertürme sich erhoben, die Scheinwerferanlagen, Signal- und Kommandomaste. Aus Balken und Brettern, Drähten und Drahtpfosten, aus Kabeln waren rings um diese gewaltigen Hochbauten herum Wohndörfer entstanden 219 mit Lebensmittellagern, Trinkhallen, Sanitätsstationen. Ein Volksfest wie dieses war noch nie vorbereitet, technisch nie möglich gewesen, war noch nie auf Erden gefeiert worden! Die Hunderttausende von Stimmen rauschten zusammen wie die Brandung des Meeres, und aus der Luft herab orgelten Hunderte von Flugzeugmotoren ihre tiefe, großartige, metallische Symphonie.

Das war der einzige Rahmen, in dem Hitler sein Arbeitsprogramm, sein Weltbefreiungsprogramm entwickeln konnte! Er hat recht getan, dachte Rümelin, daß er sein Evangelium nicht früher schon, nicht in Andeutungen und unfeierlichen Momenten, von sich gegeben hat. Um der Menschheit das Große zu sagen, brauchte er ein Auditorium wie dieses und eine Stunde, so erschütternd feierlich wie diese!

Im Vordergrund der Tribüne paradierten die Großen des Dritten Reiches, sah man den Steinkopf Hindenburgs, zu seiner Seite Hitler, den kaiserlichen Prinzen August Wilhelm von Preußen, die schlichten Männer aus dem Volke, die Hitler zu Führern berufen hatte. So vereinte sich alles, die große Zeit von 1914 mit der großen Zeit von 1933, um Hindenburg wie um ein lebendes Denkmal, um diesen Gewaltigen, der immer und immer, seit Rümelin denken konnte, Repräsentant und Schutzherr seines Volkes war. Er allein war es, der Adolf Hitler, seinem Gegner, die Macht gegeben hatte, so aus dem vollen zu schaffen, wie er nun schaffen würde.

Was wird er bringen? Es bebte in Hans-Heinz Rümelin von einer Erwartung, wie nur je ein Wundergläubiger sie im Tempel seines Idols empfunden hat. Wenn Zweifel seinen Glauben beschattet hatten, wenn die letzten Wochen für ihn so voll Qual des Zweifels gewesen waren, daß er sie besser nicht gelebt hätte – ein Blick auf diese Millionenschar von Andächtigen, von Hungernden, von Dürstenden, die sich um ihren sozialen Heiland scharten, bewies, daß er in seinem Herzen den Retter verraten hatte.

Dann fiel schnell der Abend herein. Durch die Dämmerung schimmerten plötzlich in langen Reihen über das ganze Feld 220 hin rote Lämpchen auf, die den Fliegern, dieser Gemeinde andächtiger Deutscher in der Luft, die Richtung geben sollten. Gleich darauf bestrahlten von allen Seiten – als ginge die Sonne auf und beleuchtete nur einen einzigen Punkt auf Erden, das Herz des Deutschen Reiches – Scheinwerfer die Regierungstribüne. Hitler erhob sich, stand da, überströmt von weißem Licht. Alle sahen ihn zugleich, und es war Rümelin, als sähe auch der Führer alle, als blickte er in jedes einzelnen Herz. Jetzt war das ganze Tempelhofer Feld beleuchtet, aber in seinem Schimmer mußte die Tribüne wie eine flammende Lichtburg stehen. Von riesigen Transparenten las man die Devise des Tages:

»Ehre die Arbeit und achte den Arbeiter, so ehrst du dein Volk.«

Und eine andere:

»Es gibt künftig nur einen Adel, den der Arbeit.«

Es war unfaßbar zu denken: Wenn jetzt der Führer sprach, erweiterte sich diese Millionengemeinde um ein Tausendfaches, im ganzen Reich und weit über die Grenzen dieses Reichs hinaus waren alle Deutschen, alle Völker deutscher Zunge, durch Ätherwellen mit ihm verbunden. Hundert Millionen Menschen zugleich vernahmen jetzt seine Botschaft, entzündeten sich an der Macht seiner Idee, und die Herzen dieser hundert Millionen Deutscher würden eine einzige Flamme werden!

Und dann sprach Hitler . . .

 

Rümelin hatte nur das Programm erwartet, nur zehn gewaltige Thesen, wie Luther sie einst an das Kirchentor zu Wittenberg angeschlagen hatte, nur den letzten, auskristallisierten Extrakt ungeheuerster Gedankenarbeit. Es war ja alles so klar: Deutschland war voll Not und Jammer, Hunger wütete. Die Jugend verrottete in ungewolltem Müßiggang. Mütter verfluchten ihren Schoß, weil er geboren hatte. In allen Herzen war das Licht erloschen. Und jetzt, nach sechzehn Jahren solcher Not, stand einer da, der den Weg aus diesem Wirrsal 221 wußte! Warum fing er an, im tiefsten Brustton des Verkünders, von der Bedeutung des Mai zu sprechen, der »durch viele Jahrhunderte an seinem ersten Tag mit Freude, mit festlicher Stimmung und Gesinnung begrüßt worden sei«? Warum sprach er von »erwachender Natur, dem sichtbaren Frühlingseinzug«, warum füllte er dann viele, endlose Minuten mit einem Rückblick auf die Jahre »voll Zank und Haß, voll Leid und Bruderkampf und Brudermord«? Warum malte er breit das Elend seines Volkes noch einmal, warum sprach er von den Zehntausenden, die in diesen Jahren freiwillig ein Dasein geendet hatten, das für sie nur Kummer und Elend zu bergen schien?

Was hieß das:

»Das deutsche Volk muß sich wieder gegenseitig kennenlernen.« Sie würden einander kennenlernen, friedlich nebeneinander leben und einander verstehen, wenn sie Arbeit und Brot hatten, Arbeit und Brot hatte ihnen Hitler versprochen! Warum kam das eine nicht gleich – warum breitete er nicht endlich die Arme aus, die Millionen zu umschlingen, und rief ihnen zu: Daß sie von morgen ab Arbeit und Brot hatten, daß er sein Wort hielt, daß er die Wege schon bereitet und die Mittel längst gefunden hatte?

Aber er baute Vorbehalte: Siebzig Jahre hindurch sei der Wahnsinn als politische Idee vertreten und gepredigt worden, siebzig Jahre lang sei die Zerstörung der Volksgemeinschaft politisches Gebot gewesen – und nun sei es »nicht leicht«, mit einem Schlage den Sinn der Menschen wieder zu wenden.

Hatte das Volk erwartet, daß es »leicht« sein würde? Dafür war Hitler doch Titan!

Rümelin griff sich an die Stirn, griff sich ans Herz, er weigerte sich, den eigenen Sinnen zu trauen. Was dröhnte Hitler, welches abscheuliche Kuckucksei von Rede hatte Schnierwind ihm da ins Nest gelegt? Das klang ja wirklich, als sei es Wort für Wort aus dieses geschwätzigen Scheusals Feder geflossen. Siebzig Jahre deutscher Geschichte – drei Bismarcksche Kriege, die das Reich geeinigt hatten, die Kaiserkrönung zu Versailles, der ungeheuerste Aufschwung durch gigantische Arbeit 222 zu gigantischem Erfolg, den das deutsche Volk bis zum Weltkrieg genommen hatte – all das war Zerstörung gewesen, ein »Diktat von Standesdünkel und Klassenwahnsinn«?

Jetzt kam, als höchste Erkenntnis nach dreiviertelstündigem Worterauschen, nach drei viertel Stunden voll substanzloser Wahlrednerei, ein neues Donnerwort: »Ehret die Arbeit und achtet den Arbeiter«, das mit Händeklatschen und Bravorufen bedankt wurde, einem dünnen Händeklatschen und dürftigen Bravorufen, wenn man bedachte, daß zwei Millionen Hände zu jubelndem Beifall bereit waren.

Wieder folgte ein Gerinnsel dünnblütiger, Schnierwindscher Redensarten: daß Idealismus allein das Sein und Leben aller Menschen ermögliche, daß ein Volk vergehen müsse, das den Idealismus verloren hat, und dann folgte das zweite Donnerwort des Tages:

»Ohne deutschen Geist gibt es auch kein deutsches Leben!«

Wer hatte das je bezweifelt?

Wieder eine halbe Stunde später, eine halbe Stunde, in deren Verlauf nicht ein Tropfen Erquickung in Rümelins durstiges Herz gefallen war, begann der Führer in düsteren Andeutungen von »jenen« zu sprechen, die da glaubten, »das deutsche Volk niederziehen zu können«, die ihm einredeten, es sei zweitklassig, und denen er »mutig und entschlossen« – was? – »die Fahne der Auferstehung seines Volkes entgegenhalten wollte«.

Und wozu so viel Mut und Entschlossenheit? War das ein wirrer Traum, eine Gehörshalluzination, dieses sinnlose Wort, das jetzt kam, mit ungeheurer Begeisterung hinausgeschrien:

»Die Nation kann man heute vielleicht vergewaltigen, kann sie vielleicht in Ketten schlagen, beugen – demütigen kann man uns nicht mehr!«

Das hatte ja gar keinen Sinn: »Vergewaltigen und in Ketten schlagen, aber nicht demütigen . . .« Das war ja elendester, billigster Schwatz, Worte, hinter denen keine Spur von Denken stand! 223

Wer beugte? Der Hunger. Wer demütigte? Die Not. Gegen welche finsteren Mächte wandte er sich eigentlich, wem drohte der Führer, mit geballten Fäusten, gegen wen wütete er mit Schaum vor dem Mund? Gegen den Hunger? Die Not?

Rümelin wäre der Verzweiflung nahe gewesen, wenn sein Haß gegen Schnierwind ihn nicht aufrecht gehalten hätte. All dies war seine Mache, zu Deutschlands Unglück gab Hitler sich immer wieder und wieder her, diesen Sudelkoch der Gedanken in seine Werkstatt einzulassen, das Volk mit den Bettelsuppen Schnierwindschen Geistes zu füttern.

Aber jetzt, jetzt kam es, das echte Hitler-Programm, jetzt hoben sich die Schultern des Redners noch einmal, wölbte sein Brustkasten sich zur ungeheuersten Anstrengung, bekam sein Organ die Macht einer erzenen Posaune! Jetzt endlich sprach er von der Beseitigung der Arbeitslosigkeit, jetzt war er auf seinem eigensten, heiligen Gedankenwege!

»Ein großes, gewaltiges Werk wird in diesem Jahre in Angriff genommen, ein Werk, das die deutschen Bauten, die Häuser wieder in Ordnung bringen wird! Jeder Unternehmer, jeder Hausbesitzer, jeder Geschäftsmann, jeder einzelne, er hat die Pflicht, in seinem Vermögen mitzuhelfen, Arbeit zu schaffen, sich der deutschen Arbeit zu erinnern.«

Das Wort »deutsch« klang, als müßte es Mauern niederwerfen.

Wenn die deutschen Arbeitgeber den deutschen Arbeitnehmern Arbeit gaben, dann hatten die deutschen Arbeiter Arbeit – weiter hieß das nichts, und das war, auch für die Ohren des Gläubigsten aller Gläubigen, eine Phrase so voll zynischer Blödheit, daß sie selbst Schnierwind nicht zuzutrauen war.

Und wirklich, dieser Schnierwind, er stand plötzlich, ein boshafter Zwerg, blubbernd von höhnischem Lachen, neben Rümelin, zupfte ihn am Arm und flüsterte:

»Das war nicht von mir, Rümelin! Das ist auf Adolfs eigenem Mist gewachsen!«

»Und zweitens: –« posaunte die eherne Stimme über das Tempelhofer Feld und über alle Felder, Wälder, alle Städte 224 und Dörfer des Deutschen Reiches hin. »Wir werden in diesem Jahr noch ein Riesenprogramm zu verwirklichen uns bestreben, ein Programm, das wir nicht der Nachwelt überlassen wollen, sondern das wir verwirklichen müssen –«

Jetzt hielt die Welt den Atem an, jetzt erwartete die Welt, daß endlich mit Kondorschwingen der Genius selbst über Gottes arme, darbende Erde hinstrich.

Jetzt oder nie würde Rümelin erfahren, wofür er seine Jugend gegeben hatte, wofür seit drei Monaten aus Zehntausenden von tapferen Arbeitern alle Kraft und Würde herausgepeitscht wurde, warum Folterkammern in jedem Stadtteil, in jedem Dorfe Deutschlands von Blut rauchten und voll gellenden Jammergeschreis waren, warum fünfzigtausend Menschen in Konzentrationslagern büßten, schlimmer als Zuchthäuser, warum die Gefängnisse und Zuchthäuser selbst so voll politischer Gegner Hitlers waren, daß er die Lustmörder und Blutvergießer herauslassen und zu Vögten über das Volk machen mußte. All das zertrampelte Familienglück, all der brutalisierte Geist, das Heer der aus dem Land Geflüchteten, der heimatlos gewordenen Deutschen – all das stand ihm vor Augen, und jetzt mußte ein einziges Wort kommen, nach zehntausend Worten, die nur die Luft erschüttert hatten, um all, all, all das zu rechtfertigen!

Dies Wort kam nicht. Eine Schneeflocke, die keinen Hauch erträgt, ein Wort, das nichts erklärte und nichts rechtfertigte, kam aus der Drommete, deren Klang einer Steigerung nicht mehr fähig war. Dies Wort lautete:

»Straßen-Neubau«

Welcher letzte Schuster der Volkswirtschaft, welcher Pinscher von Zeilenschinder auf Erden hätte nicht gewußt, daß jede Art Arbeit Erlösung brachte, jede Notstandsarbeit, jeder Bau, der Milliarden von Gold ins Volk pumpte und sechzehn Millionen arbeitsloser Hände beschäftigte. Das Problem war ja nur, wo die Milliarden von Gold herkommen sollten, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln! 225

Als Hitler dies »Was« hingeschmettert hatte, war das ganze Füllhorn seiner Gaben ausgeschüttet, und er verlor kein Wort mehr an das »Wie«.

»Eine gigantische Aufgabe«, pries er noch, laut bellend wie der Höllenhund, »wir werden sie groß beginnen und alle Widerstände dagegen aus dem Wege räumen . . .«

Das war Hitler in schauerlicher Nacktheit! Und das war das belogene, verhöhnte Volk, das jetzt in einen Chorus von »Hoch«- und »Heil«-Rufen ausbrach. Jetzt kannte Rümelin die ganze scheußliche Wahrheit.

»Wortsalat!« lachte Schnierwind, er lachte Tränen. »Und wie das Publikum den frißt! Hören Sie nur, wie sie tobt, die süße Kanaille Volk.«

In diesem Augenblick griff Rümelin zu, spannte seine Faust sich um die Kehle des nachgedunkelten Schrumpfgermanen.

»Wenn ihr doch alle, ihr Nazibetrüger, nur diesen einen Hals hättet!« zischte er. »Dann würde ich dich jetzt mit Wollust kaltmachen!«

Er ließ los, es gab ja nicht nur diesen einen Schnierwind. Dieser Schnierwind war ja vielleicht noch der beste von allen, er wenigstens wußte, was er tat.

Der Zwerg war sehr blaß geworden, aber er machte kein Aufhebens, er drohte nur ein bißchen mit dem Finger. Und während Rümelin sich zum Gehen wandte, sagte Schnierwind drollig:

»Wart nur, diesmal sag ich's dem Herrn Lehrer!«

 

Als Rümelin seine Wohnung erreicht hatte – er wußte nicht wie, er hatte, nachdem Hitler in seiner Seele krachend zusammengebrochen war, nichts mehr gesehen und nichts mehr erlebt –, flammte der Himmel vor seinen Fenstern wie eine einzige gewaltige Feuerwand. Ein Feuerwerk sprühte gen Himmel, mit Pfeifen und Zischen, Sausen und Knattern, als würde die ungeheuerste Siegesfeier aller Generationen mit einem Aufwand begangen, der die Elemente selbst, das ganze Lichtspiel der Gestirne, beschämen sollte. Feuerräder drehten sich 226 unaufhaltsam, Kanonen- und Böllerschüsse mischten sich mit Gesang und Musik, als sei die Erde neu geboren worden. Dann erschütterten zehntausend Kanonenschläge die Luft wie eine Feldschlacht kommender Generationen.

Eine Sekunde lang herrschten Ruhe und Dunkel, dann erschienen auf der Wolkenwand über dem Tempelhofer Feld im strahlenden Licht zwei sich vereinende Hände, und in großen Lettern, inmitten von Tausenden leuchtender Blumen, war in flammender Schrift zu lesen:

»Tag der deutschen Arbeit«

Rümelin ließ vor seinen Fenstern die Rolläden niedersausen, zog die Vorhänge zusammen, verlöschte seine Lichter. Ein einziger Gedanke streifte seine Jugend, er dachte mit großer Sehnsucht an die Festungszelle, in der er ein Jahr lang kein Menschenwort und keine Lüge gehört hatte. Er wollte an Gerda denken, aber er sah nur das eiskalte Blau in ihren Augen, die ihn verachteten, hörte den dünnen, pfeifenden Laut aus der Brust des Gestiefelten Katers, der in der Erkenntnis verloschen war, daß meineidige Barbaren in Deutschland herrschten. Naumanns zerstampftes Haupt, Yellas von Dolchen zerfetzter Rücken, ihrer Mutter in eine endlose Nacht voll Angst gescheuchte Seele – das war alles, was er als Fazit seines Lebens buchen konnte. Darüber drehten sich die bengalischen Sonnen, die feurigen Räder, darüber dröhnten zehntausend Kanonenschläge, und am nachtschwarzen Himmel vereinten sich zwei feurige Hände.

 


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