Balder Olden
Anbruch der Finsternis
Balder Olden

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Erstes Kapitel

Um elf sollte Hans-Heinz entlassen werden, jetzt war es fast ein Uhr, und Gerda saß immer noch einsam am Volant. Ein dutzendmal oder öfter, seit sie hier wartete, hat das schwere Portal des Festungsgefängnisses sich auf- und zugetan, oft hatte der Posten das Gewehr salutiert, wenn ein Offizier ein- oder ausging. Hans-Heinz war noch nicht erschienen.

Wenn er kommt, wird der Soldat nicht mehr salutieren, dachte sie. Er war einmal Offizier, aber jetzt ist er gar nichts mehr.

Sie hatte Angst vor diesem Wiedersehen mit einem Menschen, der ein ganzes Jahr Einzelhaft hinter sich hatte, einem jungen Menschen, der ein ganzes Jahr lang Not und Wut und Verzweiflung allein in sich hineingewürgt hatte.

Kannte sie ihn noch? Kein unzensurierter Brief war während dieses Jahres zu ihr gekommen, nur diese öden vorschriftsmäßigen Liebesrapporte auf abgezirkeltem Zeilenraum, auf dem er ihr wöchentlich einmal hatte mitteilen dürfen, daß er gesund sei und keine Bedürfnisse habe und in Liebe ihrer gedächte. Viel anders waren auch die Briefe nicht gewesen, die sie ihm schrieb, sie hatten eine doppelte Zensur zu passieren gehabt, die des Festungskommandanten und die ihres Vaters, der jedes Wort belauerte, vor Angst und Argwohn, seine Tochter und damit er selbst könnten durch Briefe an diesen sehr gefährlichen, sehr unerwünschten, aber leider unentrinnbaren Schwiegersohn kompromittiert werden.

Das Gefängnis lag frei zwischen Äckern und Wiesen, die 6 in einem monatelangen immer nassen Winter verkrustet und versumpft waren. Wenn er durch die Gitterstäbe seiner Zelle geschaut hatte – was hätte er dann anderes gesehen als diese trostlose Öde, durch die selten ein Bauer seine Kuh trieb oder ein Kind in Holzpantinen seinen Weg nahm. Die eine Stunde täglicher Bewegung hatte er drin in einem Hof absolviert, ewig im Kreise herum, wie ein Karussellpferd, unter den Augen bewaffneter Unteroffiziere, bei Sonne und Regen täglich dieselbe eine Stunde, ohne je mit einem anderen Menschen ein Wort tauschen zu dürfen.

Was war aus ihm geworden in diesem trostlosen Jahr, wie konnte sie ihn begrüßen? Kannte sie ihn noch?

Ich will gut zu dir sein, dachte sie. Aber wir müssen ganz neu miteinander anfangen, und das ist schwer.

Dann trat er plötzlich aus dem Tor, mit einem lässigen Gang, gar nicht so, als stürmte er in die Freiheit, sondern so, als verließe er täglich um dieselbe Zeit dieses Haus, wie ein Bürobeamter, der den Vormittagsdienst da drinnen hinter sich hat. Er trug ein Handköfferchen, das nicht viel wog – mehr, als darin war, hatte er während dreier Festungsjahre an Eigentum nicht besessen. Sein Gesicht war natürlich fahl, aber der Ausdruck war müde, nicht verzweifelt. Sein Kragen war blank. Der graue Anzug unter dem offenen Regenmantel frisch geplättet, ein bißchen schlottrig vielleicht. Seine Schuhe blitzten, und er nahm so ängstlich seinen Weg durch die Pfützen, als käme es in dieser Stunde einzig darauf an, den Glanz dieser Schuhe zu schonen. Das war der Eindruck, den Gerda in ihr Herz notierte – nicht Jubel, nicht Verzweiflung, nur das: er schonte seine Schuhe.

Sie drückte auf den Anlasser, in demselben Augenblick, in dem das Tor zuschlug, das ihn von ihr getrennt hatte, hatte sie schon Gas, und sie waren in Fahrt, als er kaum die Türe geschlossen hatte. Sich hier umarmen, wo vielleicht ein paar hundert Augen durch Gitter nach ihnen blickten, neidisch, trostlos, kritisch? Einander Liebesworte sagen, nachdem sie beide die Sprache der Liebe so ganz vergessen und verlernt hatten? Sie dachten beide nicht daran. 7

Im Fahren sah er auf die Uhr und bemerkte höflich: »Es tut mir leid, du hast zwei Stunden warten müssen.«

»Drei Jahre und zwei Stunden, Hans-Heinz.«

Jetzt legte er die Lippen flüchtig auf ihre linke Hand, die den Volant hielt. Sie gab die Hand frei, er wußte nichts damit anzufangen.

Sie sagte: »Armer Junge«, und da jetzt die verwaschene, breite Straße, auf der kein Leben war, schnurgerade vor ihr lag, gab sie Vollgas.

Er sah auf den Tachometer und bemerkte anerkennend:

»Achtzig Kilometer, fünfundachtzig Kilometer . . . Dein alter Ford hat sich gut gehalten.«

»Er hat seine neunzigtausend auf dem Buckel«, antwortete sie. »Ich hätte dich gern fahren lassen, Hans-Heinz, damit du – aber du kennst den Weg nicht so wie ich, und dann hätte ich erst aussteigen müssen. Vor allem habe ich gedacht: Fort! Fort! Und weg, so rasch es nur geht! In drei Tagen muß alles vergessen sein.«

»Laß nur!«

Von da ab sprachen sie nicht mehr, eine halbe Stunde lang sprachen sie kein einziges Wort, während Äcker und Wiesen sich um sie drehten, fröstliche Menschen in armseligen Gewändern überholt wurden und verschlafene Hütten mit triefenden Fenstern vorüberflogen.

Natürlich hat er das Sprechen verlernt, dachte sie. Er aber war fern von ihr, er trug noch Muff und Öde der Zelle an sich und fragte sich selbst verwundert: Sieht so die Stunde aus, auf die man sich 3740 Stunden lang gefreut hat?

In einem Staatsforst, in dem die Bäume kahl und dünn, aber schön ausgerichtet wie Soldaten standen, in dem es nach feuchten Tannennadeln und Harz roch, hielt sie plötzlich an. Der Himmel war noch immer grau verhängt, aber für einen Augenblick hatte das Rieseln aufgehört, ein Sonnenstrahl drängte sich mutig durch das öde Gewölk, und über die Tannenwipfel hin zog kreischend ein Zug hungriger Krähen.

»Hier ganz nahe ist eine Holzfällerhütte. Ich habe den 8 Schlüssel besorgt, ein Tisch und ein paar Schemel sind drin, und es ist warm. Ich habe auf der Herfahrt schon Halt gemacht, in dem eisernen Öfchen ein bißchen eingefeuert. Das ist dir doch auch lieber, Hans-Heinz, als so ein Dorfwirtshaus, wo nasse Socken am Ofen hängen, oder als irgendein Zimmer, in dem man andere Menschen trifft?«

Er sprang aus dem Wagen und riß vor ihr den Schlag auf, als wollte er zeigen – als käme es gerade jetzt darauf an zu zeigen –, daß er seine guten Manieren nicht vergessen hatte.

Sie griff nach einem Suitcase und stieg aus.

»Unser Frühstückszimmer wird nicht sehr elegant sein, aber das erste Frühstück in der Freiheit wird dir Spaß machen.«

Er nahm das Handköfferchen, sie schritt voraus auf einem schmalen Fußweg, die nasse Walderde bog sich elastisch unter ihren Schritten.

Wir müßten jetzt Arm in Arm gehen, dachte der Entlassene. Eigentlich müßte ich neben ihr gehen, den Arm um ihren Hals gelegt. Aber das kommt ja wieder, ich hab das nur alles vergessen.

Über der Hütte, die aus unbehauenen Stämmen und schwarz gewordenen Planken gefügt war, stieg ein dünnes Rauchwölkchen senkrecht in die Höhe. Sie drehte den Schlüssel in einem verrosteten Vorhängeschloß herum, die Tür, die nur noch in einem Scharnier hing, tat sich kreischend auf, feuchte Wärme kam ihnen entgegen.

Dann wandte sie sich um, zum erstenmal sah er ihr Gesicht von vorne, dieses schöne, klare Gesicht, das er im Wachen und Träumen während der langen Einsamkeit vor sich gesehen hatte. Es war ein tapferes gutes Gesicht, aber nicht glücklich und nicht beglückend, trotz des zärtlichen Lächelns, das Gerda sich in diesem Augenblick abgewann.

Hast du mich noch . . .? Nein, ich wollte dir sagen: Ja, ich hab dich noch so lieb wie . . .

Aber sie fanden beide kein Wort, und ihr erster Kuß schien ein Pflichtkuß zu sein.

Dann warfen sie drin in dem engen Raum ihre Mäntel und 9 Hüte ab. Hans-Heinz rauchte die erste Zigarette der Freiheit, die abermals eine Enttäuschung wurde, und Gerda deckte hastig den Tisch, legte ein weißes Tuch auf, goß aus einer Thermosflasche dampfenden Kaffee in zwei Aluminiumbecher, breitete alles aus, was ihr schmales Taschengeld für dies erste Liebesmahl ergeben hatte.

»Und deine Eltern?«

»Du sollst bei uns wohnen, Hans-Heinz. Nur die erste Zeit natürlich, weil es für Papa doch ein saurer Apfel ist, und er hat viele Bedingungen gestellt. Aber Mama wird sehr lieb zu dir sein und besonders mein Bruder. Der wartet nämlich auf dich wie –«, beinahe hätte sie gesagt »wie eine Braut«, aber dann verbesserte sie sich, »– wie auf einen Befreier.«

Wer die beiden beobachtet hätte, wäre nicht auf den Gedanken gekommen, daß sie ein Liebespaar waren, das im Kampf gegen alle Gewalten zueinanderdrängte und zueinanderhielt. Eher schien es, sie seien ein müde gewordenes Ehepaar, das wieder einmal Honigmond spielen möchte und nicht kann.

Es lag etwas zwischen ihnen, eine düstere schlimme Sache, peinvoll, sie zu beschweigen, noch peinlicher, sie zu berühren. Aber es war feige, an der Wirklichkeit vorbeizuschleichen. Hans-Heinz war die eigene Freiheit verhaßt. Während er in seinem Kaffee rührte, an Schinken und rotem Kaviar herumstocherte, zu essen versuchte und die kleinen Bissen nur würgend herunterbrachte, fragte er endlich die drei Worte, die auf seiner Seele brannten.

»Und die Bewegung, Gerda?«

Sie senkte den Kopf, ihr blondes Haar war straff gescheitelt, er sah nur diesen Scheitel und einen Streifen ihrer klaren Stirn, die rot wurde, glühend rot wie ihre Ohren.

»Es steht schlecht, ich muß dir sagen, Hans-Heinz, daß es schlecht um Hitler steht. Das mußt du gleich wissen, wir können nur über die Zukunft sprechen und über die Gegenwart, wenn du das weißt.«

»Verzeih mir, Gerda, ich kann jetzt nichts essen. Du hast 10 alles so schön vorbereitet – solchen roten Kaviar hast du mir einmal, ich glaube, das war zu Weihnachten, aber die Daten kommen einem ja so durcheinander, wenn man immer allein ist und nicht einmal eine Zeitung bekommt, man lebt da einen grauen Wust von Tagen durch, keiner unterscheidet sich vom anderen – solchen roten Kaviar hast du mir einmal geschickt, das war etwas ganz Neues auf meiner Zunge. Und unten auf dem Boden der Büchse, als ich sie ganz leer geschleckt hatte, lag ein Zettel, ein Kassiber, darauf stand: Heil Hitler! Die Bewegung marschiert!«

Er beugte sich halb über den Tisch und atmete schwer.

»Wieso, Gerda? Was heißt das – es steht schlecht? Es kann doch gar nicht schlecht stehen, bei uns sind Männer, und auf der andern Seite, in der Regierung, da sind alte Weiber und Schlappschwänze und Gewerkschaftsbonzen. Sie haben die Reichswehr und die Polizei und die Gefängnisse, alles haben sie in der Hand, aber sie sind ja so feig, daß sie gar nicht wagen, davon Gebrauch zu machen. Wenn ihnen ein ganzer Kerl wie der Hitler entgegentritt, dann ziehen sie den Schwanz ein und machen Männchen. Ist das anders geworden in diesem letzten Jahr, seit ich nichts mehr von draußen gehört habe? Haben diese Schwachmatikusse auf einmal Mark in die Knochen bekommen, haben sie ihre verweichlichten Pfoten zu Fäusten geballt, haben sie Hitler aus dem Lande gejagt oder ins Gefängnis gesperrt oder hingerichtet? Das glaube ich nicht, zu alledem sind sie ja viel zu erbärmlich, und deshalb kann es gar nicht schlecht um die Bewegung stehen!«

Gerda lachte, ihr Mund sah dabei aus, als hätte sie etwas Bitteres auf die Zunge bekommen.

»Von dem Mut der Herren Parteisekretäre und Bonzen brauchst du nichts zu fürchten, Hans-Heinz. Die sind geblieben, wie sie waren, und hätten längst mit Wonne alle Viere von sich gestreckt und ›Heil Hitler‹ gerufen, wenn Hindenburg es ihnen erlaubt hätte. Sie haben solche Angst vor ihrem eigenen Mut – das kannst du dir nicht vorstellen. Einmal waren die SA-Uniformen verboten, aber nur acht Tage lang, 11 dann haben sie ganz schnell, ganz heimlich ihre Verbote zurückgezogen. Gegen die Kommunisten haben sie Mut gehabt, wenn man das so nennen will. Aber gegen einen Mann, der sich national nennt, heben sie die Hand nicht auf.«

»Das weiß Gott, Gerda, deshalb speie ich vor ihnen aus, weil sie . . . Einen Kerl wie mich, der als aktiver Offizier konspiriertAnspielung auf den sensationellen Reichswehrprozeß gegen Scheringer, Wendt und Ludin im September 1930 vor dem Reichsgericht in Leipzig. Die Ulmer Reichswehroffiziere hatten auf höhere Weisung in der Armee mit dem Aufbau von Nazizellen begonnen. Hitler spielte bei seinem Auftreten in Leipzig »Legalitätstheater«. Daraufhin wurden die Angeklagten zu Festungshaft verurteilt. Richard Scheringer (geb. 1904) schloß sich im März 1931 während seiner Haft in Gollnow der Politik der KPD an. Rümelins Biographie deckt sich nicht mit dem Entwicklungsweg Scheringers., der die arme kleine Armee, die wir heute haben, unterwühlt und gegen den Staat mobil macht, den hätte jede anständige Regierung an die Wand gestellt. Ich kam mir wie ein ganzer Kerl vor, damals, als ich zum erstenmal vor Gericht erschien: ja, meine Herren Richter, ich bin ein Hochverräter, aber ein Patriot. Ich habe wohl gewußt, was ich tat, und daß ich für die Kugel bereit bin, das sollen Sie sehen, wenn es soweit ist. Oh, diese Richter, diese Schleimkegel! Zwei Jahre Festung mit eigener Verpflegung und Spazierengehen, Nachturlaub, mit freier Korrespondenz und Gefängniswärtern in Glacéhandschuhen, mit einem Festungskommandanten, den ich nie anders als lächelnd gesehen hab, der sich immer die Hände rieb. ›Na, mein lieber Herr Rümelin, wo drückt uns der Schuh? Nur heraus mit der Sprache, wir werden die Sache schon in Ordnung bringen.‹ Weißt du, wie ich mir vorgekommen bin, Gerda? Auf einmal war ich ein Schuljunge, der ins Eckchen gestellt wird, weil er mit nassen Papierkugeln nach dem Lehrer geworfen hat, und dabei war es doch klar, daß vier Wochen später – meine revolutionäre Zelle fraß ja wie ein kalter Brand um sich durch die Reichswehr –, vier Wochen später wäre diese ganze lächerliche Republik in die Luft geflogen und zerplatzt! So weit hatte der kleine Leutnant Hans-Heinz Rümelin es gebracht, und dafür bekam er zwei Jahre Ehrenhaft.«

»Hättest du es dabei bewenden lassen, Hans-Heinz! Das dritte Jahr war das schlimmste, und das hast du dir leichtfertig eingebrockt.«

»Weil ich nicht mehr konnte! Weil ich in diesem wattierten Käfig vor Wut geplatzt wäre! Es ist ja so schade, Gerda, daß du nicht dabei warst, an diesem Abend im Sportpalast! Ich 12 hatte Urlaub bis zwölf Uhr, aber viel war auch nicht riskiert, wenn es ein bißchen später wurde. Man stieg einfach über die Mauer, und wenn einen wirklich ein Posten gesehen hätte, hätte er die Knochen zusammengerissen und das Gewehr angezogen und hätte geflüstert: ›Guten Abend, Herr Leutnant!‹ Mein Motorrad hatten sie mir auch gelassen, mit achtzig Kilometer auf der Pfanne bin ich nach Berlin gesaust, und der Sportpalast war so voll von Menschen, daß kein Apfel auf die Erde fallen konnte. Viertausend oder fünftausend waren da, der Führer hat gesprochen wie ein donnernder Gott, jedes Wort saß. Er kann das, er kann sich herabbeugen bis zum Dümmsten aus seiner geistigen Höhe, er kann so sprechen, daß der dämlichste Zapfkellner ihn versteht und in Begeisterung ausbricht. Männer, Weiber, Mädchen, alle hatten sie das Hakenkreuz am Arm und Hakenkreuzfahnen in der Hand und fielen einander in die Arme und hatten für ein paar Stunden ihren Hunger und ihre Arbeitslosigkeit vergessen und das Herz wieder voll Hoffnung. Und dann sagte der Vorsitzende: ›Der Parteigenosse Leutnant Hans-Heinz Rümelin, der zur Zeit auf der Festung Küstrin eine zweijährige Haft verbüßt, wird zu euch sprechen, Parteigenossen!‹ Da brach ein wilder Jubel aus – sie hatten meinen Namen noch nicht vergessen, obwohl es fast zwei Jahre her war seit meinem Prozeß. Ich hatte noch nie auf einem Podium gestanden, Gerda, ich wußte gar nicht, wie man sich da hinstellt, alles, was vor mir lag, war eine riesige schwarze Masse, aus der die Gesichter hellrot hervorleuchteten, lange Reihen von Hellrot in all dem Duster. Ich habe mich hingestellt, als stünde ich vor meiner Kompanie, und hab den Mund aufgerissen wie ein Offizier, der Kommandos gibt, und habe alles herausgebrüllt und geheult, was ich an Wut und Haß in mir hatte. Diese Regierung von Scharlatans und Gesinnungsschustern, die es nicht einmal versteht, die Arbeitslosigkeit aus der Welt zu schaffen, die mit Wohltätigkeit herumdoktert an einem Sechzigmillionenvolk, das seine hundertzwanzig Millionen Arme rühren möchte, die sich in den Dreck schmeißt, glatt auf den Bauch, wenn ein 13 Herr Franzose oder ein Herr Engländer verlogene Friedensschalmeien bläst, diese Parteikrippenfresser-Clique, die nur an sich und ihre Söhne und Schwiegersöhne und Enkelsöhne denkt und die Massen krepieren läßt! Diese feigen Schweine, die ihre Todfeinde nicht zu Boden schlagen, selbst wenn sie die Hände voll Waffen haben und der Todfeind nichts als seine ehrliche Überzeugung – so, in dieser Richtung habe ich alles hinausgedröhnt, und der Jubel wuchs, und es war, als ob ich in einem gischtigen Meer ganz hoch oben auf den Wellenkämmen schwämme – Herrgott, war das schön, Gerda! Und dann habe ich ihnen gesagt, was ich glaube: Hitler gibt euch Arbeit und Brot! Hitler muß nur an die Macht kommen, und es herrscht wieder Disziplin im ganzen Reiche, wir Deutschen sind wieder ein Volk, marschieren wieder in einem Schritt, und der Hunger, das Elend fliegen wie ein Wind über die Grenze. Wir brauchen Siedlungsland, wir brauchen Kolonien, wir brauchen eine starke Armee – das bekommen wir alles, wenn die drüben über den Grenzen spüren, daß der deutsche Michel seiner Kraft wieder bewußt geworden ist. Mit Scheidemännern und Stresemännern können sie Blindekuh spielen, aber einem Hitler werden sie auf den Knien präsentieren, wonach er verlangt. Jagt diese Regierung zu Paaren, fegt sie in ihre Mauselöcher, damit eure Kinder wieder rote Backen und feurige Augen bekommen und in dem Bewußtsein aufwachsen, Deutsche zu sein!«

»Ja, das hast du alles gesagt. Aber vier Wochen später hättest du es ungestraft sagen dürfen.«

»Es mußte eben raus, Gerda. Trotz allem – ich bereue es nicht.«

»Papa war empört, er hat die Verlobung auflösen wollen, es hat furchtbare Szenen gegeben. An mich hast du wohl gar nicht gedacht, damals, Hans-Heinz? Es hat ja nur ein Jahr gekostet, aber das war nicht nur für dich, sondern auch für mich ein sehr bitteres Jahr.«

»Wir sind in dieser Zeit geboren, um uns zu opfern, mit Leib und Leben, ganz! Was gilt da ein Jahr?« 14

»Ja, aber wie lange ist schließlich ein Mädchen jung – unser ganzes Glück dauert nicht so furchtbar lange, daß man mit den Jahren um sich werfen könnte. Ich bin trotz allem erst vierundzwanzig, aber ich glaube, man sieht mir schon an, daß ich die besten Jahre meines Lebens auf einen gewartet habe, der mit seinem und meinem Schicksal spielt. Wenn du ehrlich bist, mußt du zugeben, daß man das auch auf meinem Gesicht lesen kann.«

»Du bist so jung und so lieblich wie an dem Tag, an dem ich dich kennenlernte.«

»Nein, mein Spiegel ist ehrlicher, der sagt mir jeden Tag: du bist schon wieder um vierundzwanzig bittere Stunden älter geworden, Gerda, das viele Warten bekommt dir nicht. Die Gefängnismauern sind nicht nur schaurig für den, der sie von innen sieht. Ich glaube, sie sind von außen noch schrecklicher, wenn sie das umschließen, was man am liebsten hat . . . Ich will nicht heulen, Hans-Heinz, ich habe mir fest vorgenommen, nicht zu heulen und dir kein bitteres Wort zu sagen. Aber siehst du, jetzt heule ich doch . . .«

Rümelin sprang auf, erst bei Gerdas Tränen wurde ihm bewußt, daß er sie liebhatte und daß dies eine Stunde des Wiedersehens war. Er war ein gewaltig starker Bursche, groß gewachsen und mit einem Brustkorb wie ein Ringer. Seine Arme griffen von selbst zu, er hob Gerda von ihrem Schemel, faßte sie um die Schultern und Knie, hob sie auf, und so im Stehen, während sie seine Muskeln spürte, die in langer Haft nicht schlaff geworden, preßte er sie an sein Herz. Endlich, nach der Befreiung durch ihre Tränen, kam die Befreiung durch seine Küsse. Er trank ihre Tränen, und dann endlich wanden sich zart und duftig auch ihre Arme um seinen Hals. Aber gleich darauf kehrte sie das Gesicht wieder ab, versteckte es vor seinem Mund an sein gewaltig pochendes Herz, und in seine Kleider hinein flüsterte sie:

»Mit deinem Leben hast du gespielt. Wir haben gedacht, daß sie dich füsilieren lassen, Tage und Nächte lang habe ich gebrüllt vor Schmerz und habe dich an der Wand gesehen, vor dir die rauchenden Gewehre.« 15

Er schmetterte eine Lache, so aus frischer Jugend heraus, daß sie ihm neugierig ihr Gesicht wieder zeigen mußte.

»Die und einen Reichswehrleutnant füsilieren, die und einen Parteigenossen Hitlers an die Wand stellen! Hätten sie es nur getan – vielleicht könnte ich sie dann achten. So habe ich nur Fußtritte und Spucke für dies Gesindel, das mir mit Aufgebot all seines Mutes ein Jahr lang Zeitungen verboten und Briefe gesperrt hat.«

Er stieß mit dem Knie die Türe wieder auf, in seinen Armen wog die Last eines großen, tüchtigen Mädchens nichts, mit seiner Braut im Arm trat er in die grauen Winternebel hinaus.

»Schau dir die deutschen Wolken an und den deutschen Tannenwald!« rief er. »Was sind drei Jahre, wenn es um alles Ewige geht!«

 


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