Balder Olden
Anbruch der Finsternis
Balder Olden

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Einundzwanzigstes Kapitel

Der SA-Mann Karl Schniedecke stand stramm vor Rümelins Bett.

»Guten Morgen, Herr Leutnant! Wünsche, wohl geschlafen zu haben!«

Rümelin fuhr entsetzt von seinem weichen Lager empor, er war nicht mehr gewöhnt, so spartanisch geweckt zu werden. 196 Sein Herz schlug stürmisch, er wußte dunkel von einem entsetzlichen Traum, der ihn gequält hatte. Was ist mit meinen Nerven? fragte er sich.

Es stand wirklich schlecht um seine Nerven, er mußte sich den Schlaf antrinken. Ohne zu lesen, ohne zu denken, trank er oft bis ins Morgengrauen. Wenn er dann aufwachte, hatte er nicht das Gefühl, geruht zu haben, sondern er war erschöpft wie nach Kämpfen und Qualen.

»Guten Morgen, Karl. Wie geht's dir und der Mutter?« fragte er endlich.

»Zu Befehl, Herr Leutnant! Vorzüglich geht es uns. Heil Hitler! Hitler gibt mir Arbeit und Brot.«

»Gottseidank, daß er das kann, Karl! Heil Hitler!«

Es war Rümelin, als tauchte dieses Donnerwort »Hitler gibt euch Arbeit und Brot« aus ganz fernen, beinahe verschütteten Winkeln seiner Seele wieder einmal auf, fremd und fahl geworden. Und doch war es ja das Ziel dieser nationalen Erneuerung, der er diente und sein Leben geweiht hatte.

»Gottseidank, daß er das kann! Heil Hitler! Es ist nur noch ein paar Tage, Karl, ein paar Tage nur, Gottseidank, dann verkündet Hitler sein großes Arbeitsprogramm! Bis in den letzten Punkt ist es ja geschmiedet und gefeilt. Dann wird Ruhe in Deutschland, dann haben wir den großen Sieg über alle Not und alle Unzufriedenheit. Du bist doch jetzt mit Leib und Seele ein echter Nazi geworden, Karl Schniedecke?«

»Zu Befehl, mit Leib und Seele, Herr Leutnant! Ist ja selbstverständlich, seit ich Arbeit habe . . .«

»Und was für eine Art Dienst tust du?«

»Ja, im Anfang hat mir Hitler keine sehr feine Arbeit gegeben, Herr Leutnant, ich war beim SA-Sturm 27 in der Kladowstraße. Wir haben da hauptsächlich Vernehmungen gemacht und Volksertüchtigung betrieben. Sehr gern bin ich da nicht dabei gewesen.«

»Und warum nicht? . . .«

»Ewig das Auspeitschen, Herr Leutnant, das geht einem schließlich an die Nerven. Es ist ja gut für die nationale 197 Ertüchtigung, die Leute werden richtige Kerls, wenn sie ihr Teil Senge weg haben. Kommunisten und Juden und solche Halunken, die Greuelmärchen verbreiten, und solche, die sich früher der nationalen Erhebung entgegengestellt haben – drei oder vier Tage in der Kladowstraße und jeden Tag eine ordentliche ›Vernehmung‹, dann sind sie die strammsten Nazis, die man sich vorstellen kann. Dann rufen sie, ehe man gefragt hat, ›Nieder mit Moskau! Juda verrecke! Heil Hitler!‹ Sogar die Juden schreien ›Juda verrecke!‹, daß es eine Lust ist. Aber das ewige Geheul und der Blutgestank, es wird ja nie gelüftet – und manchmal sind es alte Kerls, auch Weiber – es war schon manchmal eintönig, Herr Leutnant! Einmal hatten wir eine zur Vernehmung, so ein Weibsstück von fünfzig Jahren etwa, eine Gebildete. Die hat einfach nicht nachgeben wollen. ›Sag, ich bin eine Kommunistensau‹, hat der Herr Sturmführer befohlen. Glauben Sie, die hätt es gesagt? Einfach geschwiegen hat das Aas. Also nochmal fünfundzwanzig auf den nackten Hintern. Geschrien hat sie, aber danach war dasselbe Theater. Wie sie ihre hundert Stück Hiebe weggehabt hat – dem Herrn Sturmführer ist ja gar nichts anderes übriggeblieben, soll er sich auf der Nase rumtanzen lassen? –, ist das Luder aus lauter Bosheit krepiert. Aber das war wirklich keine feine Arbeit, Herr Leutnant.«

»Pfui Teufel!« sagte Rümelin und schloß die Augen. »Aber das ist eben die Kehrseite der Revolution. Der Führer sagt, man kann Revolution nicht mit Rosenwasser machen. Gib mir mal die Flasche da drüben her! Trinkst du auch einen Kognak?«

»Jawohl, Herr Leutnant, man kann Revolution nur mit der Hundspeitsche machen. Und mit der Stahlrute natürlich, wo der Widerstand zu groß wird. Die Leute lassen sich nicht anders bekehren. Danke, ich trinke auch gern einen Schnaps, auf Ihr Wohl, Herr Leutnant!«

Sie tranken jeder ein halbes Wasserglas mit Kognak leer und stießen tiefe, ächzende Laute aus. Dann fuhr Karl Schniedecke fort:

»Das Volk ist jetzt schon ganz gut im Zug, glaube ich. In 198 unserer Straße, wenn Herr Leutnant das sehen wollten, wo früher das meiste rot war, da herrscht jetzt eine richtige Hitler-Begeisterung. Die Löhne sind ja noch niedriger als früher und die Arbeitslosenunterstützung auch, und die Margarine ist so teuer geworden, daß nur noch SA sie bezahlen kann, und jeden Tag ein oder zwei Selbstmorde. Aber die Begeisterung ist groß. Wenn ich da in meiner Uniform ankomme, auf meinem Motorrad, dann sollten Herr Leutnant nur sehen, wie die Hände in die Luft fliegen. Die kleinsten Proletarierkinder und die ältesten Proletarierweiber, alles macht ›Heil Hitler!‹ Und wie die Jungens sich zur SA drängen – der Hitler rief, und alle, alle kamen!«

»Prosit, Karl! Und du hast also ein Motorrad?«

»Na klar, ich mach doch jetzt Außendienst. Mich können sie brauchen, weil ich Kellner gelernt hab, das sind die besten Menschenkenner. In jeder Straße, beinahe in jedem Haus haben wir unsere Vertrauensleute, da bin ich Verbindungsmann. Die unsicheren Kantonisten ausbaldowern, die illegalen Vereine, die Geheimdruckereien, all das machen wir. Die Juden in Evidenz halten, daß keiner nach Palästina ausrückt, solange er noch einen Groschen hat. Und requirieren! Wir haben im ganzen Viertel die Fahrräder requiriert, was brauchen die Arbeiter Fahrräder? Und Autos requirieren wir von den Juden und Judengenossen, das brauchen wir alles zur nationalen Erhebung. Im Außendienst wird auch am besten verdient. Die Judenweiber laufen einem direkt nach, aber auch die anderen, Geschäftsleute und dergleichen, wenn sie merken, daß man ihre Bude so ein bißchen in Augenschein genommen hat, und schieben einem Geld in die Tasche. Da sieht man dann so weg, so als merkte man's gar nicht, und geht ganz gemütlich ein Haus weiter.«

»Dann bist du also ein richtiges Schwein geworden, Karl? Ein Räuber und Erpresser?«

»Jawohl, Herr Leutnant!«

»Dann hätte ich dich lieber damals an Hunger verrecken lassen?« 199

Schniedecke zuckte mit den Schultern, goß, ohne zu fragen, noch einmal Kognak in beide Gläser.

»Ob ich das jetzt mache oder ein anderer, das ist doch genaugenommen Jacke wie Hose. Für einen, der nicht mittun will und der lieber selbst ins Konzentrationslager geht, sind im Augenblick zehn da, die sich alle Finger nach der nationalen Arbeit lecken.«

Rümelin sprang aus dem Bett, ging unter die Dusche, brauste sich mit eiskaltem Wasser den Schädel klar. Er hatte Brechreiz, drei Jahre Festungskost schienen ihm den Magen verdorben zu haben.

»Warum du mir das nur alles erzählst?« fragte er, als er im Bademantel wieder in sein Schlafzimmer trat. »Solches Gesindel wie dich wird das Dritte Reich nicht lange dulden. Wahrscheinlich renommierst du mir nur was vor, sonst . . . Ich hätte gute Lust und schickte dich heute noch zur Vernehmung in deine eigene SA-Kaserne.«

Karl Schniedecke lag mit aufgestützten Armen in einem bequemen Lehnsessel, die Beine in den genagelten Stiefeln und schweren Ledergamaschen lümmlig von sich gestreckt, leicht angetrunken – und lachte unbändig, lachte, daß ihm der Bauch wackelte.

»Warum ich das dem Herrn Leutnant erzähle?« fragte er. »Der Herr Leutnant ist vor ein paar Wochen auch noch ein armer Teufel gewesen, mit zwei paar Schuhen, von denen eins ganz durchgelaufen war. Und jetzt hat der Herr Leutnant eine Wohnung mit einem Schlafzimmer wie eine Fürstenmätresse und fährt in einem Sechszylinder-Wagen und säuft zum ersten Frühstück französischen Kognak mit drei Sternen. Da hab ich gedacht, der Herr Leutnant hat Verständnis dafür, wenn ein armer Junge auch mal hineinbeißt in den großen Kuchen, und eine Krähe wird der andern schon kein Auge aushacken, hab ich gedacht.

Aber wenn der Herr Leutnant meinen, dann war natürlich alles nur Renommiererei, und ich will auch nie wieder so eine große Schnauze haben. Also, ich melde gehorsamst, alles, was 200 ich da geschwätzt habe, war erstunken und erlogen! Eigentlich bin ich nur gekommen, weil das Fräulein Braut vom Herrn Leutnant neulich bei uns war und Befehl gegeben hat, daß ich ausforschen soll, wo ein gewisser Herr Naumann hinverschwunden ist. Also wo dieser gewisse Naumann, der ein Jude und außerdem ein Freund vom Herrn Leutnant ist, wo der steckt, das habe ich jetzt glücklich herausgebracht.«

Rümelin erschrak, daß seine Hände flogen.

»Geh da nebenan und steck den Kopf in kaltes Wasser, bis du wieder vernünftig reden kannst«, befahl er.

Er kleidete sich an, während Schniedecke nebenan das Wasser rauschen ließ, mit Duschen, Stöhnen, Schnaufen seinen Befehl gründlich ausführte. Rümelins Finger zitterten an den Manschettenknöpfen herum, er stand vor dem Spiegel und brachte die Krawatte nicht in Ordnung. Gerda, der Gestiefelte Kater, Alexander Naumann – wenn diese Namen fielen, wenn diese Gestalten sich plötzlich in seine Vorstellung drängten, fühlte er sich wie ein verfolgter Bösewicht, die Strafe im Nacken. Furchtsam warf er einen Blick in den Spiegel – dieser fremde Kerl mit großen Tränensäcken unter den Augen und den unruhigen Lippen, war er das wirklich? Wie lange war das her, seit Gerda ihm gesagt hatte: ›In diesem jüdischen Frack wirst du aussehen wie ein germanischer Kriegsgott‹? Wenn sie ihn heute noch so sehr liebte, wie sie ihn tatsächlich haßte – das würde sie nicht mehr sagen können.

Aber sie würde nie wieder etwas zu ihm sagen, selbst dann nicht, wenn er ihr einen gesunden, kraftstrotzenden, von froher Laune sprühenden Alexander Naumann wieder zuführte, dessen Frau wie ein junges Mädchen aussah und dessen Tochter wie eine heimliche Königin schritt, den Kopf gehoben, als trüge sie eine Krone.

Gerda war fort, aus seinem Leben hinausgegangen wie aus einem muffigen Keller, sie hatte die Türe so wuchtig hinter sich ins Schloß geworfen, daß ihm die Ohren dröhnten. Hätte er sich von ihr gelöst – er war ja längst kein zärtlicher Bräutigam mehr gewesen, Tag und Nacht mit Dingen beschäftigt, 201 die ihr nicht galten –, oh, dann wäre alles ganz anders gewesen! So aber hatte sie ihn einfach stehenlassen, kalten Ekel im Blick. Jetzt war eine Leere in ihm, eine Wunde, die nicht zunarben konnte, unerträglicher von Stunde zu Stunde.

Diese Familie Naumann – gute, freundliche, liebe Menschen, die ihn mit offenen Armen aufgenommen hatten –, nützliche Menschen, es war schade um sie. Die große Dampfwalze Revolution hatte sie aus Versehen mit überfahren. Aber was galten ein paar kleine Menschenschicksale, wenn die Weltgeschichte wie mit einem 100-PS-Wagen vorwärts brauste?

Und dann der Gestiefelte Kater. Es war eine besondere Teufelei dieses Teufels Schnierwind gewesen, daß er gerade ihn, Rümelin, zum Zeugen gemacht hatte, als er dem alten Eisenfresser den Gnadenstoß gab. Aber an der Sache selbst, bei der er nur eine Zufallsrolle gespielt hatte – was war da zu tadeln? Nur wenn Deutschland, ganz Deutschland auf ein Kommando exerzierte, alle fünfundsechzig Millionen wie ein einziger Soldat, nur dann konnte der Wiederaufbau wirklich gelingen, der Schandfriede von Versailles aus den Büchern der Weltgeschichte radiert, das feindliche Ausland in die Knie gebeugt werden.

Nur dieser Schnierwind, nur der Zynismus dieses scheußlichen Zwerges! Manchmal blitzte der Verdacht durch Rümelins Hirn, daß alles, was dieser Mensch sprach, dreiste Wahrheit war, die er nur deshalb ungestraft aussprechen durfte, weil sie zu grauenhaft war, um geglaubt zu werden. Wenn man dieses Scheusal im Kreise seiner Vertrauten hörte, dann war eigentlich alles Schwindel. Hitler hatte gar kein Programm, um die Arbeitslosigkeit und Not aus der Welt zu schaffen, Hitler war kein Erleuchteter des Herrn mit einer göttlichen Mission, sondern ein fetter Bierbankschwätzer, der allen andern Volkstribunen nur das eine voraushatte, daß er die unermeßliche, uferlose, die heilige Dummheit der Menschen nicht unterschätzte. Wenn Schnierwind recht hatte, dann war nicht einmal das wahr, daß Hitler den Krieg wollte! Er hätte das laute Kriegsgeschrei seiner Anhänger sonst nicht geduldet, 202 solange Deutschland unbewaffnet war und die ganze übrige Welt in Waffen starrte. Wenn Schnierwind recht hatte, durfte Deutschland nur deshalb ungestraft die ganze Welt bedrohen, weil es beim Ausland mit achtundzwanzig Milliarden Schulden in der Kreide saß und weil man einen Schuldner nicht zu Boden schlägt, solange eine blasse Hoffnung besteht, er könnte seine Schulden einmal bezahlen.

Wenn Schnierwind recht hatte, wenn Schnierwind recht hatte . . . Dieser Gedanke drehte sich jetzt schon seit Tagen und Wochen wie ein feuriges Mühlrad in Rümelins Schädel. Wenn er recht hatte, dachte Hitler weder daran, die Großbanken, die Bergwerke, die Industrie zu sozialisieren, noch daran, aus den Mammutgütern, die immer neu subventioniert werden mußten und wie eine Krankheit am Mark der Nation zehrten, Siedlungsland für die Hungrigen zu machen. Es nützte dem Volk auch gar nichts, wenn hunderttausend Juden aus ihren Arbeitsplätzen verjagt, mit ihren Familien dem Verhungern preisgegeben wurden – die Millionen arischer Arbeitsloser wurden dadurch nicht dezimiert.

Wie hatte Schnierwind gesagt? »Ich will gern den Reichstag in Brand gesteckt haben, meinetwegen . . .« Das deckte sich ja aufs Haar mit dem, was in jener grausigen Nacht, in einem Augenblick ohne Fassung, Naumann hinausgeschrien hatte.

»Unser Programm ist doch ziemlich verständlich«, hatte Schnierwind vor ein paar Tagen erst geprahlt. »Wir wollen herrschen, und die anderen sollen gehorchen. Wer herrscht, wird bezahlt, wer nicht gehorchen will, kommt ins Loch. In dieser erhabenen Idee müssen wir mit unserem großen Führer allzeit einig sein.«

Aber in ein paar Tagen wollte Hitler seine Karten offen auf den Tisch legen, seinen »Vier-Jahres-Plan« enthüllen.

Was hatte er bisher geleistet? Paraden über Paraden, Judenverfolgungen, Massenfolterungen . . . Er hatte die Konzentrationslager errichtet, Riesenkerker für hunderttausend Deutsche, weil die Gefängnisse und Zuchthäuser zu eng wurden, seit er regierte. Alle Dichter von Namen waren in die 203 Fremde geflohen, Hitler hatte ihre Bücher auf großen Scheiterhaufen verbrennen lassen, zugleich mit den Werken deutscher Gelehrter, denen die Welt huldigte, wie Einstein, Freud, Wassermann.

Rümelin rang mit sich und wurde nicht Herr seiner meuternden Gedanken. Schnierwind hat mich vergiftet, dachte er. Ich war so gläubig! Ich habe an Hitler geglaubt wie ein Kind in der Kirche und war so glücklich in meinem Glauben, in meiner Gefängniszelle, in einem ganzen Jahr Einsamkeit . . .

Wieder zog Gerda ihm schmerzhaft durch den Sinn – die hatte ihre Freunde in Blut und Wunden gesehen, und das hatte für sie genügt, um den Gott zu verlieren, den er ihr ins Herz geschrieben hatte. Aber sie war eine Frau, ein Kind mit empfindlichen Nerven – wieviel schwerer war die Gedankenarbeit eines Mannes! Diese wenigen Tage noch bis zum 1. Mai mußte Rümelin standhalten und seine Zweifel betäuben. Bis dahin schuldete er dem Führer Treue! Er war schon wieder im Begriff, zur Flasche zu greifen, da meldete sich Karl Schniedecke zur Stelle.

»So fein habe ich in meinem Leben noch nicht gebadet, Herr Leutnant! Danke gehorsamst, das war fast noch besser als der Kognak mit drei Sternen.«

Dann kam es heraus: Alexander Naumann saß als Strafgefangener in Oranienstein, zwei Stunden von Berlin. Es war schwer gewesen, ihn herauszufinden, denn die Kerls in den Konzentrationslagern wurden nicht registriert, kein Mensch kümmerte sich um ihre Namen. Aber diesen Naumann hatte einer gesehen, der sein Bild aus den Zeitungen kannte, und Karl Schniedecke wußte sogar, zu welcher Sektion er gehörte, in welcher Baracke er lag. Wenn der Herr Leutnant den Juden besuchen wollte – die Lagerkommandanten hatten das nicht gern und machten Ausflüchte. Aber Schniedecke wollte gern mitfahren. Er war schon ein paar Mal da draußen gewesen und wußte Bescheid.

Hans-Heinz machte sich und den Burschen mit ein paar Telefongesprächen von allen Pflichten des Tages frei. Sie 204 fuhren los, durchquerten das Zentrum der Stadt – sie war so ruhig, so sonntäglich ruhig! All das politische Leben von einst war von diesen Straßen verschwunden, die Parteiwerber, die Parteikassen-Sammler. Sogar die Bettler und Straßensänger waren verschwunden, als säßen sie jetzt alle, ihr Huhn im Topf, in schönen, sauberen Stuben. Es fiel Rümelin zum erstenmal auf, jetzt, nachdem Karl Schmiedecke ihm von den Requisitionen erzählt hatte, daß drei Viertel aller Autos und Motorräder von uniformierter SA gefahren wurden.

An einer Straßenecke im Osten von Berlin hatten sich Menschen angesammelt, so viele, daß der Verkehr stockte. Rümelin drängte nach vorn, soweit es nur möglich war, stand im Wagen auf und übersah das ganze Bild. In der Querstraße, über die er nicht hinwegfahren konnte, war ein Spalier gebildet, ein paar tausend Leute mußten es sein, alle Männer mit Hakenkreuzbinden am Arm, alle Frauen und Mädchen in braunen Westen, viele Kinder darunter, die Hakenkreuzfähnchen in den Händen trugen wie an einem nationalen Festtag.

Seltsam, von weither kam Gesang, kam immer näher, ein schönes, altes deutsches Volkslied wurde vielstimmig gesungen.

Das Wandern ist des Müllers Lust,
Das Wandern, das Wandern.
Das muß ein schlechter Müller sein,
Dem niemals fiel das Wandern ein,
Das Wandern, das Wandern.

Hielt da ein Gesangverein Umzug oder eine Tagung nationalsozialistisch organisierter Müller? Dann schwoll der Gesang an, war ganz nahe, durch das Spalier marschierte ein Trupp vollbewaffneter SA-Leute, taktfest, mit geschulten Stimmen das Lied angebend.

Ihnen folgte, von einer Schindmähre gezogen, die ein SA-Mann am Halfter führte, eine Karre, wie man sie auf dem Land benützt, um Schweine zum Metzger zu bringen. Auf dieser Karre stand ein hochbeiniger Stuhl, und dort oben thronte 205 Völkerbrunn, Reichsminister außer Diensten, der durch Jahrzehnte die stärkste Partei Deutschlands geführt und 1918 die Kommunisten zu Boden geschlagen hatte.

Er trug um den Hals eine Tafel, auf der mit Kreide geschrieben stand:

»Ich bin der Volksverräter und Novemberverbrecher Völkerbrunn.«

Der schwere, stattliche Mann mit dem schlohweißen Haupt saß aufrecht da, trug ein zerfetztes Hemd, trug Blutspuren in seinem geschändeten Greisengesicht und starrte geradeaus, als sähe und hörte er nichts.

Vor fünfzig Jahren war er Müller gewesen, war mit diesem Lied auf Wanderschaft gezogen, hatte gearbeitet, war in schwersten Tagen ein Führer der Nation geworden, und so kehrte er nun zurück ins Dunkel, in die Vergessenheit. Er, der Kommunistenbesieger, verhöhnt von jenen, die Europa vor dem Bolschewismus retten wollten.

Bald war die Straße wieder frei, Rümelin gab Gas und sauste, den Kopf voll nachtschwarzer Gedanken, über die Vorstadtstraßen hinaus den Feldern und Wäldern zu.

In der Stadt hatte Schniedecke straff neben ihm gesessen, die Augen starr geradeaus, ganz so wie dieser Völkerbrunn auf seinem fahrbaren Pranger. Jetzt, als die letzten Häuser hinter ihnen lagen, fiel der Bursche in sich zusammen, legte seine klotzigen roten Finger vor das Gesicht und weinte.

Es fiel Rümelin ein: Schniedeckes Vater war Gewerkschaftler gewesen, Freund und Genosse von all diesen Männern, die eine Regierung gebildet hatten, als das Kaiserreich zusammenbrach. Und hatte eben am Pranger gestanden.

 


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