Balder Olden
Anbruch der Finsternis
Balder Olden

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel

Peter von Reischach stand mitten im Weg, als Gerda in die stille Grunewaldstraße einlenkte, ein großer Junge, Abiturient, ersten Flaum auf der Lippe, mit runden roten Wangen und blitzenden Augen. Er hielt die Arme ausgestreckt, als wolle er eine Barriere bilden, und Gerda zog die knirschende Bremse an.

»Heil Hitler! Ich wollte der erste sein, der Sie begrüßt, Herr Schwager!«

Dabei schlug er die Hacken zusammen wie ein Soldat und stand stramm vor dem kassierten Reichswehroffizier, der in seinen Augen ein homerischer Held war.

»So sehen Sie aus, wie ich Sie mir vorgestellt habe – vom Schicksal getroffen, aber nicht gebeugt. Wenn Sie Befehle haben, ich bin immer zur Stelle, und wenn ich den Teufel aus der Hölle holen soll. Und mit mir übergebe ich Ihnen die ganze Oberprima meines Gymnasiums. Bis auf drei oder vier 23 Mann, von denen ich nicht sprechen will, stellt sie sich Ihnen geschlossen zur Verfügung.«

Rümelin bot dem Jungen die Hand, der griff zu und legte all seine Kraft in diesen Händedruck. Vor Stolz und Anstrengung lief sein ganzes Gesicht blutrot an.

»Ich habe nichts zu befehlen, Peter, ich weiß nur, daß wir bestimmt sind, gute Kameraden zu werden.«

»Die Stunde wird kommen, Ihre Stunde wird kommen, Herr Schwager.«

Dann ging er um den Wagen herum und raunte seiner Schwester zu:

»Es ist verdammt dicke Luft im Haus. Eine Stunde früher hättet ihr kommen sollen, dann wäre alles gut gewesen. Jetzt steht der Gestiefelte Kater am Fenster und trommelt an die Scheiben und brummt vor sich hin, zu seiner Zeit auf den Gütern hätten Baronessen und Komtessen Ohrfeigen bekommen, wenn sie so in die Nacht hinein . . .«

»Hat er das wirklich gesagt, oder erlaubst du dir einen dummen Spaß, Junge?«

»Nicht gesagt, nur gebrummt hat er es. Aber deshalb brauchst du nicht zu erschrecken, Gerda, so war das im alten Preußen – und so wird es im neuen Preußen wieder sein. Bist du denn ganz verweichlicht, daß du Herzklopfen bekommst, wenn nur von einer gesunden Ohrfeige die Rede ist? Noch dazu von einer ganz akademischen! In der Familie muß die Zucht anfangen, sonst hat der Staat keine Zucht, darin bin ich ausnahmsweise der Meinung von Papa.«

»Herr Rümelin möchte sofort zum Herrn Major kommen«, meldete das Mädchen.

Eine große eichene Tür tat sich auf, in strammer Haltung durchschritt sie Hans-Heinz Rümelin, Gerda blieb allein und mit klopfendem Herzen im Vorsaal zurück.

Dies alles sah nicht gut aus, so hatte sie sich den Empfang doch nicht gedacht.

Eine Ohrfeige unter vier Augen und ein herzliches Wort für Hans-Heinz – das wäre mir wirklich lieber gewesen, 24 dachte sie. Wenn die beiden jetzt in der ersten Stunde aneinandergeraten, was fange ich an?

Sie flüchtete zu ihrer Mutter, die ganz geduckt über einem Stickrahmen saß und vorwurfsvoll sagte:

»Nicht nur, daß Papa böse ist; die schöne Kalbskeule . . .«

»Ach, ich habe solche Angst, Mama! Dies Haus ist der einzige Punkt auf Erden, wo mein Bräutigam Fuß fassen kann. Im Vorsaal steht ein Handköfferchen, darin steckt alles, was er besitzt. Seine Mutter hat eine Witwenpension, die nicht zum Leben und nicht zum Sterben reicht. Er will arbeiten, er hat mir gesagt, daß es ihm ganz egal ist, ob er bei der Arbeit Diener oder Herr ist, er versteht was von Pferden, Stallmeister oder Reitknecht, das ist ihm auch egal. Mir ist es auch egal, Mama, ob mein Bräutigam einstweilen Stallknecht oder Stallmeister wird, aber man muß ihm doch eine Chance geben, das muß doch Papa begreifen.«

»Ja, wenn ihr eine Stunde früher nach Hause gekommen wäret, Gerda! Ich begreife dich wirklich nicht, das hätte ich als junges Mädchen wagen sollen . . .«

»Ich habe Bauchweh vor Angst. Wenn Papa losdonnert, das macht nichts, das kann ein Soldat vertragen. Aber schau da hinaus durch die Fenster, die kalte nasse Straße, kein Wintermantel, nicht drei Mark für ein Mittagessen.«

Inzwischen hatte Herr von Reischach den Jüngling gemustert, der sein Schwiegersohn werden sollte, aber wie ein Soldat vor ihm strammstand.

»Melde gehorsamst, Leutnant a. D. Hans-Heinz Rümelin. Ich bitte Herrn Major zu verzeihen, daß ich zu so später Stunde . . . wir hatten einander viel zu erzählen, Herr Major werden begreifen.«

Der alte Herr war einen Kopf kleiner als Rümelin, er trug einen schwarzen Rock über einem tüchtigen Bauch, er hatte einen Seehundsschnurrbart, ganz weiß, eine bürstenartige Perücke, blaue Augen und in der etwas zittrigen Hand einen Kneifer. Aber er hielt sich doch ganz straff, er musterte den jungen Mann mit strengen Augen, dann brummte er vor sich hin: 25

»Schwamm drüber – in solchen Fällen hat das Mädel schuld – reden wir nicht davon.«

Dann kam der Händedruck, der nicht ohne Wärme war.

»So sehen wir also aus? Verpflegung auf Festung war wohl nicht gerade herzerhebend? Wir sind arm, Deutschland ist arm, man kann die Staatsgefangenen nicht vom AdlonEhemaliges vornehmes Berliner Hotel im Regierungsviertel nahe dem Brandenburger Tor. aus verpflegen lassen. Schließlich haben Sie sich die Suppe selbst eingebrockt – na also – ein Klagelied werden Sie nicht singen – Schwamm drüber.«

Er trat zurück in den Schein seiner Studierlampe, setzte sich in den hohen Schreibtischsessel, bot Rümelin mit einer Handbewegung den Besucherplatz an.

»Schade, daß es so spät ist, hätte gerne vor dem Essen Mann zu Mann mit Ihnen gesprochen. Ihre Zukunft, Verwendungsmöglichkeiten, Ausnützung der Situation, die momentan keineswegs ungünstig ist. Müssen wir verschieben. Einstweilen nur: solange Notwendigkeit, sind Sie in diesem Hause willkommen. Welche Verpflichtungen Sie damit eingehen, daß Sie mein Gast sind, brauche ich nicht zu sagen.«

»Ich glaube, daß sich das von selbst versteht, Herr Major. Aber wenn Herr Major mir speziellere Instruktionen geben wollten . . .«

Rümelin hatte das Sprechen fast verlernt, nur bei Gerda war seine Zunge langsam wieder aufgetaut. Jetzt war er froh, sich in die alte militärische Diktion retten zu können, die wie ein Harnisch die Gedanken umschloß, in der einer, der zehn Jahre lang Soldat gewesen, nicht fehlgreifen konnte.

»Nehmen an, daß Sie von Kinderkrankheiten geheilt sind. Nationalsozialismus ist Nationalbolschewismus. Kinderkrankheit – eine gefährliche Form von Blödsinn. Allen was versprechen – Kapitalisten höhere Gewinne – Arbeitern höhere Löhne – Hausbesitzern höhere Mieten – Mietern billigere Wohnung – Landwirtschaft gesteigerte Preise – Arbeitern niedrige Lebenshaltung – feindlichem Ausland friedfertige Gesinnung – Inland neue Rüstung und kriegerischen Geist – alles zusammen: Schaumschlägerei. Machen sogar vor Heiligstem nicht halt, vor 26 deutschem Großgrundbesitz – Fundament des Staates, Pflanzboden seit Friedrichs Tagen von Offiziertum, höherer Beamtenschaft. Ohne Großgrundbesitz Deutschland verloren – hat sich im Weltkrieg gezeigt. Hätten nicht vier Jahre ausgehalten gegen eine Welt von Feinden – blockiert – ohne Zufuhr – wenn nicht Landwirtschaft Phantastisches geleistet. Landwirtschaft heute leistungsfähiger als je – im nächsten Krieg keine Rübenwinter mehr, sondern Beefsteak-Winter, Kartoffelwinter, Kohl, Zucker – genug für ganze Nation. Darf aber ausländischer Schmutzkonkurrenz nicht preisgegeben werden – Zölle hoch, anständiges Preisniveau, dann gedeiht der Bauer, gedeiht der Arbeiter, gedeiht die Industrie. Attentat gegen Landwirtschaft gleich Attentat gegen Staat. Spreche nicht pro domo – selbst ohne Ar und Halm – spreche nicht für Familie und Sippe, spreche für Deutschland. Verstanden? Haben Sie mich verstanden?«

»Zu Befehl: ja, Herr Major!«

»Schlußfolgerung: Sie haben sich für die Nationalbolschewisten kompromittiert, wohlverdienten Abschied bekommen, wohlverdiente Strafe. Ihre Verteidigung vor Gericht war in beiden Prozessen mustergültig – hat mir Respekt eingeflößt. War soldatisch, klug, gebildet – hat sogar in Linkspresse, pardon – wollte sagen Judenpresse – Eindruck gemacht. Schließe daraus, daß Sie als entwicklungsfähiger Mensch Kinderkrankheiten überwunden haben und nicht rückfällig werden. Bedingung eins also: keine Berührung mehr mit Braunhemden, Rechtsbolschewisten liegenlassen, als mein Schwiegersohn Eintritt in unsere Reihen selbstverständlich und zukunftsvoll. Werde Sie von Papen persönlich präsentieren – kann intelligente Menschen brauchen.

Schlußfolgerung zwei: In diesem Hause, solange Sie meiner Tochter nichts zu bieten haben, sind Sie nicht ihr Verlobter. Ganzes Verhalten hat so zu sein, daß jeden Augenblick . . .«

Das Mädchen meldete:

»Bitte, Herr Major, es ist serviert.« 27

»Danke, kommen sofort. Wegtreten! Sprechen später weiter. Einstweilen: Handschlag auf bisher Besprochenes?«

»Wenn Herr Major gestatten, bitte gehorsamst um vierundzwanzig Stunden Bedenkfrist . . .«

Hans-Heinz hatte einen glutroten Kopf bekommen, sein Herz tobte gegen die Rippen. Was sollte er da alles versprechen und mit Handschlag besiegeln, gleich in der ersten Stunde seines Eintritts in dieses Haus?

Mit »Heil Hitler« hatte Gerda ihn begrüßt, »Heil Hitler« war das erste Wort des jungen Schwagers gewesen – und jetzt sollte er für ein Nachtlager, für ein Beefsteak und ein Glas Bier die Fahnen verkaufen, die er gegen den Feind tragen wollte? War das preußisch? War das ein alter preußischer Offizier, der ihm zu Leibe ging? Und seine Verlobung! Für den Jungen war er der mit Jubel erwartete Schwager; Gerda, die drei Jahre lang auf ihn gewartet hatte, legte ihr Schicksal ganz in seine Hände, in seinen Willen – und dieser böse Gestiefelte Kater wollte ihn zum Schlafburschen in seinem Hause machen, aber nicht als Bräutigam seiner Tochter gelten lassen?

»Gut. Können sich die Sache überlegen. Vierundzwanzig Stunden – meinetwegen zweimal vierundzwanzig Stunden. Aber dann heißt es ›ja‹ oder ›nein‹, Kompromisse in unseren Kreisen nicht üblich. Wollen jetzt einmal sehen, ob Sie Appetit mitgebracht haben aus Küstrin. Kann sonst nicht klagen, an unserem Tisch sitzt kein Kostverächter. Freue mich aber, wenn ein tüchtiger Esser mehr. Macht mir Spaß, zuzuschauen.«

So also sah ein gedeckter Tisch aus! Damast und Kristall, schönes Porzellan der königlich preußischen Manufaktur, blitzendes Silber und ein zierliches Mädchen im Hintergrund, schwarzes Kleid, blitzend weiße Schürze und Häubchen, das hinter dem Serviertisch stand und dem Gast sanft entgegenlächelte.

Der Gestiefelte Kater blieb stramm neben seinem Stuhl stehen, faltenlos der Gehrock über seinem Embonpoint, aus dem Seehundschnurrbart spitze Stacheln herausgedreht, und neben 28 ihm stand Rümelin wie eine Schildwache, bis die Frau des Hauses erschien.

»Stelle dir Leutnant außer Diensten Hans-Heinz Rümelin vor.«

Die Baronin reichte ihm die Hand, Hans-Heinz verbeugte sich tief und küßte die Fingerspitzen. Sie war viel verlegener als er, diese riesengroße Dame, aber es ging ein Strom von ihr aus, etwas Kindlich-Mütterliches, das ihm wohltat.

»Ein lieber Gast . . .«, stotterte sie und sah ängstlich nach den Augen ihres gestrengen Gatten. Das war ein schöner stattlicher Mensch mit guten Augen, den ihre Gerda sich ausgewählt hatte, das war ihr Sohn, und sie hätte ihn gern in die Arme genommen.

Sie hatte Dressur, sie war abgeführt wie ein guter Jagdhund und kontrollierte jede Runzel im Gesicht ihres Mannes. Die Unterredung zwischen den beiden Herren war nicht ganz schlecht ausgelaufen, aber von Harmonie war noch keine Rede, sonst hätte die Vorstellung anders geklungen. Sie durfte keinen Grad wärmer sein, das wußte sie sofort, als zu jedem anderen Fremden, den der Baron in sein Haus lud.

Hans-Heinz saß zwischen den beiden Damen. »Es wird alles gut. Ich kenne Papa«, flüsterte Gerda ihm zu, während der Baron schnarrend sein altpreußisches Tischgebet sprach und auch das Mädchen, das noch gar nichts zu essen bekam, mitbetend die Hände faltete.

»Segne Herr uns diese Speise, uns zur Kraft und dir zum Preise! Amen.«

Das »Amen« kam heraus wie ein Kommando: an die Messer, an die Gabeln, marsch, marsch, hurra!

Seltsam war es, so auf einem gepolsterten Stuhl zu sitzen, einen weichen Teppich unter den Füßen zu spüren – so hatte Rümelin nur selten in seinem Leben gespeist. Er kannte die magere Witwentafel seiner Mutter, einer Hauptmannswitwe, die von ihrer armseligen Pension lebte, der Vater war schon 1914 gefallen, als Hans-Heinz noch ein Schuljunge war. Er kannte den kantinenähnlichen Speisesaal im Kadettenhaus, 29 das spartanische Offizierskasino eines Reichswehr-Linienregiments, die Mensa academica der armen Studenten und den kahlen Brettertisch der Festungszelle. Seine Nüstern sogen den würzigen Duft der Kalbskeule, der Buttersauce, der edlen Gemüse ein, plötzlich spürte er, daß er seit vierundzwanzig Stunden fast nichts gegessen hatte, und jetzt war ihm alles egal. Neben ihm saß Gerda, er spürte ihr Knie an seinem Knie und ihren Arm an seinem Arm, ihm gegenüber waren die weitaufgerissenen, leuchtenden Augen des jungen Peter, auf ihm ruhte der strenge Blick des Gestiefelten Katers, aber er hatte Hunger wie ein Wolf und griff zu wie ein Wolf.

»Ziehen Sie ein Glas Bier vor, oder wollen Sie gleich mit deutschem Rheinwein anfangen, Herr Rümelin?«

Er hörte es kaum, sagte mechanisch:

»Zu Befehl, Herr Major, wie Herr Major befehlen«, und häufte zum zweitenmal die guten Dinge auf seinen Teller, die das sanfte, liebliche Dienstmädchen lächelnd präsentierte.

»Also deutsches Bier – einen richtigen Reitertrunk. Und später gehen wir zum Rheinwein über«, kommandierte der Gestiefelte Kater, als handle es sich um einen Schlachtenplan.

»Du ißt ja nichts, Gerda«, herrschte er seine Tochter an, aber mit einem lustigen Zwinkern hinter dem Pincenez. »Studieren, nächstes Jahr Doktor, Automobilistin – Soldatentochter – und keinen Mut vor einem Stück Kalbsbraten?«

So wurde es preußisch gemütlich am Tisch. Peter erzählte, er freue sich deshalb auf sein Abiturientenexamen, weil dann vor dem Studium ein Jahr Arbeitsdienst käme. Das hatte die Regierung versprochen, und das hielt sie auch.

»Arbeitsdienst, aber zugleich Wehrsport!«

»Stellen Sie sich unser Glück vor, Herr Rümelin – wir sind der erste Studentenjahrgang, der ein richtiges Dienstjahr hat. Wir verlieren zwei Semester, aber das macht nichts, um so gründlicher kann man den alten Schwätzer Cicero und die analytische Trigonometrie vergessen. Jetzt stopfen wir noch all das dumme Zeug in unsere Schädel hinein, aber dann wird das Ventil aufgemacht und, tsch, geht alles wieder heraus wie 30 Dampf aus einem überhitzten Kessel. Dann kommt Exerzieren, Schießen, Schützengräben-Ausheben, Moorgrund-Trockenlegen oder Brückenbauen oder sonstwas, richtiger Pionierdienst. Die krummen Hunde werden geschliffen, bis sie gerade Glieder kriegen, die ganze Nation verjüngt sich, wenn wir Jungens uns wieder Bouillon in die Knochen pumpen. Großartiger Kerl, der Herr von Papen, in diesem Punkte wenigstens, der weiß, wo uns der Schuh drückt.«

»Und dabei ist der Junge Primus in seiner Klasse«, schmunzelte der Gestiefelte Kater, schon wieder im Kampf mit seinem Schnurrbart, der um kein Bemühen in Spitzen stehen wollte.

Mutter und Tochter sprachen fast gar nichts, aber Frau von Reischach blickte beinahe verliebt auf den jungen Gast, der mit solcher Hingabe ihrer Küche Ehre erwies.

Nach Tisch, im Herrenzimmer, bei schwarzem Kaffee und Zigarre, erschien Peter plötzlich mit einem blitzenden Kürassierhelm in der Hand und einem weißen Kragenmantel über dem Arm. Er wollte dem Gestiefelten Kater ein Fest geben.

»Herr Rümelin ist zehn Jahre zu spät auf die Welt gekommen – glaubst du nicht, Papa, er wäre ein herrlicher Pasewalker Kürassier geworden!«

Dabei stülpte er den Helm, an dem ein langer weißer Roßschweif wehte, auf Rümelins Kopf und warf den Mantel um seine Schultern.

Hans-Heinz sprang auf, er salutierte, trotz des fahlen Teints, trotz der abgemagerten Wangen sah er aus wie ein junger Kriegsgott. Frau von Reischach stieß einen Schrei des Entzückens aus.

Da kam auch der Gestiefelte Kater auf die Beine, er sah den jungen Offizier in seiner strahlenden Pracht mit zwinkernden Augen an, saugte sich gleichsam an dieser Erscheinung fest, trug den straffen Bauch vor sich her, bis er ganz nahe vor Hans-Heinz stand, das Katergesicht entzückt, die Lippen wie zum Kuß gespitzt.

Dann reckte er die beiden Arme, legte die zitternden gelben Hände in scheuer Zärtlichkeit auf Rümelins Schultern. 31

»So haben unsere Jungens ausgesehen, wie Sie jetzt aussehen! So sind sie 1914 für ihren Kaiser ins Feld gezogen, solche Jungens wie Sie! Daß es das nicht mehr gibt, verdanken wir nur diesen verfluchten – diesen dreimal und in alle Ewigkeit verfluchten Sozialdemokraten!«

Er nahm den Zwicker ab und wischte mit dem Handrücken über seine blinzelnden Augen.

 

In einem hellen, geräumigen Mansardenzimmer stand ein weißes Bett, wie Hans-Heinz Rümelin es seit Kindertagen nicht mehr erlebt hatte. Wie hatte man für ihn gesorgt! Seine paar Habseligkeiten waren in den Schrank und in die Schubladen einer Kommode eingeräumt, auf einem Schreibtisch am Fenster wartete ein Strauß Treibhausrosen, Peterchen hatte seinen üppigsten Schlafanzug dem neuen Schwager zum Tribut gesandt.

Wohlleben! dachte der verhärmte, trotzige Junge. Jede Nacht, bis ihm und Gerda ein eigenes Nest gebaut war, durfte er sich zwischen diese weißen Laken betten, jeden Tag die Füße unter Herrn von ReischachsVorsitzender der Deutschnationalen Volkspartei war 1932 Dr. Alfred Hugenberg (1865–1951), der von Januar 1933 bis Juni 1933 in der Hitlerregierung als Reichswirtschafts- und Reichsernährungsminister fungierte. Vorsitzender der Reichstagsfraktion hingegen war Dr. Ernst Oberfohren. Oberfohren wurde am 7. Mai 1933 ermordet, weil er sich in seiner Denkschrift über die Ursachen des Reichstagsbrandes und seine wahren Urheber bei der NSDAP mißliebig gemacht hatte. reichgedeckten Tisch strecken – er mußte nur ja und amen zu den Bedingungen des Gestiefelten Katers sagen. Die Partei der Barone herrschte in Deutschland, ob sie gleich verschuldet waren, ihre Schlote nicht rauchten, ihre Güter nichts trugen. Aber sie hatten sich die alte Macht erhalten, sie hatten tausend Ämter und Stühle zu besetzen, und Herr von Reischach, Fraktionsführer der Deutschnationalen Partei, war auch unter der sozialistischen Regierung eine Macht gewesen.

Daneben erstand vor seinen Augen, als träte er aus der Wand heraus, die Gestalt Hitlers, im braunen, schlichten Hemd, das Eiserne Kreuz I. Klasse an der Brust, seine sinnenden Augen, sein trotziger Mund. Zu ihm stehen hieß zu den Enterbten stehen – mit Herrn von Reischach marschieren hieß mit den Erben marschieren.

Was würde Gerda selbst sagen, wenn er Verrat beging? Sie wußte noch nicht von der Bedingung, die ihm gestellt war, 32 aber sie selbst lief nur heimlich mit der Hakenkreuzfahne. Der Vater ahnte es kaum. Alle Gassen, durch die der Ford sie heute geführt hatte, waren voll gewesen von Männern im braunen Hemd und Mädchen in braunen Westen. Alle trugen sie die leuchtenden Farben Schwarz-Weiß-Rot mit dem Hakenkreuz im Knopfloch, aber Gerda und Peter versteckten ihr Abzeichen, wenn sie sich dem Blick des Alten nahten, und wenn sie einander mit »Heil Hitler!« begrüßten, war es im Flüsterton.

Morgen sollte er klipp und klar die Frage beantworten, von der abhing, ob er, nach drei geopferten Jahren, aus seinem jungen Leben noch etwas Rechtes machen konnte oder ob er mit den Desperados marschierte, wahrscheinlich ins Elend, bestimmt nicht zum Sieg. Denn das war sicher: Wenn die Partei in diesen wenigen Monaten zwei Millionen Stimmen verloren, wenn der herrliche Gregor Strasser ihr den Rücken gekehrt hatte, dann war sie nicht mehr auf dem Wege zur Herrschaft.

Rümelin stand im Schlafanzug am Fenster, es war so köstlich warm in diesem Raum, er hatte so in allen Nerven das Gefühl, wohl gespeist und Gutes getrunken zu haben. In dieser Nacht war er kein Kämpfer mehr. Sein Trotz schmolz hin, das fühlte er mit Schrecken, der sich zwischen kahlen Mauern und in Einzelhaft prächtig gehalten hatte.

Morgen früh, ehe er das Ja oder Nein sprach, das sein Schicksal wurde, mußte er Gerda hören. Sie will, daß ich ihr Schicksal lenke und ihr Herr bin, dachte er bitter. Aber ich bin ja dieser Welt so entfremdet, ich tappe wie ein Kaspar Hauser zwischen ihren Realitäten herum, und sie ist immer wach gewesen, sie hat keine Stunde dieser Jahre verschlafen.

Er dachte an sie, sein Herz schrie nach ihr, daß sie es hören mußte. Und sie hörte es wirklich, plötzlich tat die Tür sich auf, ganz leise, dann war Gerda bei ihm und hing an seinem Hals.

»Daß du das gewagt hast! Du tapferes Mädel!«

»Hast du armer, kleiner Junge gedacht, ich lasse dich am ersten Abend ohne Gutenachtkuß ins Bett gehen?«

Sie trug einen Kimono aus dünner japanischer Seide über dem Nachthemd, sonst trug sie nichts. 33

»Ich bin eine gehorsame Tochter, ich möchte es wenigstens sein«, sagte sie. »Aber mein heiliges Recht auf Liebe – das lasse ich mir nicht nehmen . . .«

 

Herr von Reischach saß über seiner Zeitung und trank die Zeilen des Leitartikels.

»Augenblick warten, Herrschaften«, warf er Gerda und Hans-Heinz hin, die wie zur Audienz befohlen waren. Dann faltete er das Blatt zusammen und lud die beiden mit einer Handbewegung ein, Platz zu nehmen.

»Steht gut um Deutschland«, bellte er. »War eine düstere Zeit – geht wieder bergauf neuerdings. Hindenburg unser Mann – läßt sich von Kreti und Pleti wählen – Sozialdemokraten, Zentrum –, aber selbst immer noch Soldat bis in die Knochen. Soldat, Gutsbesitzer, Junker. Fremden Einflüssen nicht mehr zugänglich – ob Papen oder Schleicher kommandiert, ist gleichgültig. Volk will feste Hand sehen, eiserne Faust. Seit Hindenburg Herr auf Neudeck ist, wieder ganz mit uns verwachsen. Sein Sohn unser Mann – Nachfolger, künftiger Reichspräsident, wenn alter Herr Augen schließt. Wenn nötig, vielleicht morgen schon, Militärdiktatur – Kanaille wird sich nicht mehr mausig machen – riskiert keine Bohnen. Der böhmische Gefreite Hitler hat austrompetet – könnte uns gerade passen, böhmischen Gefreiten an der Spitze des Reiches zu haben.

Sie haben verstanden, Herr Rümelin? Wollte nicht kannegießern, nur Antwort auf meine gestrige Frage erleichtern.«

Es klang furchtbar streng und diktatorisch, aber in Wirklichkeit hatte der alte Herr Sonne im Herzen, und Sonne fiel auch durch die großen Fenster auf seinen Schreibtisch, auf die weiße Bürste seiner Haare und den jovialen Seehundsschnurrbart, der keine Spitzen annehmen wollte.

»Habe ganz vergessen, Sie zu fragen, wie erste Nacht im Federbett geschmeckt hat.«

»Danke gehorsamst, Herr Major, habe wundervoll geschlafen.« 34

»Na, freut mich – freut mich. Also jetzt kurz und straff – Bedingungen akzeptiert, Jugendeseleien überwunden – Handschlag. Dürfen dann Gerda unter meinen Augen einen Kuß geben – nehme an, in drei Monaten sind wir soweit – Sie in Amt und Brot – Verlobung in »Kreuzzeitung«Die Berliner »Neue Preußische Zeitung« (1848–1938; nach dem Kreuz im Titelkopf »Kreuzzeitung« genannt) war die Tageszeitung des Junkertums und des altpreußischen Adels. publiziert – Trauung in Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.«

Er streckte mit einem grimmigen Lächeln die Hand aus, aber Rümelin schlug nicht ein.

»Als Nationalsozialist, Herr Major, der an die Sache des Führers glaubt . . .«

»Verbitte mir das! Führer kann nur Deutscher sein – Führer ist, wer Führerblut in den Adern trägt – das erwirbt sich nicht – das muß ererbt sein! Ihr Hitler – dieser böhmische Gefreite – lachhafte Schießbudenfigur – draußen Riesenschnauze – im Palais Katzbuckel und ›Jawohl, Exzellenz, wie Exzellenz befehlen!‹ Alltäglicher Demagoge, Volksverführer – wird bald den deutschen Staub von seinen Pantoffeln schütteln –«

»Ich bitte gehorsamst, Herr Major, den Führer in meiner Gegenwart nicht zu beschimpfen!«

Der Gestiefelte Kater lief blau an, der Zwicker fiel ihm von der Nase, seine weißen Haare wurden zu Borsten. Er sprang auf, auch Gerda und Hans-Heinz sprangen auf, er stand fauchend und bebend vor den beiden jungen Leuten und reckte den Kopf in die Höhe, um ihnen in die Gesichter brüllen zu können.

»In diesem Hause – in meinem Hause mir Wort zu verbieten! Mir Vorschriften machen – altem Offizier, Veteran von Herero-Aufstand – Veteran von Weltkrieg – Tannenberg – Verdun! . . .

Sie nehmen zurück – will alberne Kadettenworte nicht gehört haben – oder . . .«

Hans-Heinz war sehr weiß geworden, er mußte an sich halten, das vertrug er nicht. Sein Atem pfiff, dann fand er mühsam die richtigen Worte.

»Ich bitte, den Führer in meiner Gegenwart nicht zu beschimpfen, Herr Major!« 35

»Hinaus! Sie verlassen das Haus – kenne Sie nicht – meine Tochter kennt Sie nicht – werden nie wieder die Keckheit haben, Fräulein von Reischach zu grüßen! Verlobung hat nie bestanden –«

»Verzeih, Papa, das ist unmöglich!«

»Unmöglich? Du hast diesen Menschen nie gekannt – mein Befehl – basta. Streusand.«

»Es ist – unmöglich, Papa!«

Der alte Mann fiel in seinen Stuhl zurück, einen Augenblick sah er aus, als hätte der Schlag ihn gerührt. Es war lautlos still im Zimmer, man hörte sogar, daß draußen an der Tür ein Atem rauschte, man fühlte, daß dort horchend eine Mutter die Hände rang.

Dann fand der Gestiefelte Kater wieder Luft, aber er brüllte nicht mehr, er stöhnte nur noch.

»Wenn das heißen soll –«, jetzt wurde seine Stimme tief und grollend, hatte nichts Militärisches mehr, sondern bebte vom echtesten Schmerz. »Wenn das heißen soll, daß ich annehmen muß . . .«

In den vier Augen, die auf ihn gerichtet waren, lag nackt und blank die ganze Wahrheit.

Der Alte richtete sich noch einmal auf, beide Arme auf die Lehnen seines Sessels gestützt, seine Beine zitterten, und das Gesicht, das eben noch blaurot gewesen war wie das Gesicht eines alten Majors, der sich vor der Front seines Bataillons heiser gebrüllt hat, wurde jetzt so bleich wie das Gesicht eines alten Menschen, der das Fundament seines Lebens einstürzen sieht.

Gnade! schienen seine Augen zu bitten, in denen das Wasser stand. Gnade! Sagt mir, daß das alles nicht wahr ist . . .

Aber Gerda und Hans-Heinz konnten nicht gnädig sein und wollten ihm nicht die Gnade einer Lüge geben.

»Dann –«, jetzt saß da drüben hinter dem spiegelnden Schreibtisch ein Greis, der nur noch tonlos flüstern konnte, »dann – packen – Abschied von Mama – in einer Stunde muß Haus rein sein.« 36

 


 << zurück weiter >>