Balder Olden
Anbruch der Finsternis
Balder Olden

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Viertes Kapitel

Es war für Hans-Heinz, der selbst nur ein Vermögen in Nickeln bei sich trug, hart, durch die Straßen des Berliner Westens zu gehen, ohne Almosen spenden zu können. Er kannte Berlin nur wenig, aber als eine Stadt voll Glanz und Ordnung, eine Stadt ohne Bettler. Jetzt schien das Elend, das sich früher in den dunklen Wohnkasernen des Nordens versteckt hatte, mobil gemacht zu haben, die Armen hatten sich die Straßen erobert und behaupteten sie, aller Polizei zum Trotz.

Kein Schritt, bei dem er nicht belästigt wurde, obwohl er in seinem Sommerpaletot an diesem kalten Januartag gewiß nicht wie ein Reicher aussah. Sie sahen merkwürdig aus, diese Menschen mit den offenen Händen, zu gleicher Zeit verhungert und gepflegt. Weißhaarige Herren, frisch rasiert, im schwarzen Rock, mit Kragen und Schlips winselten:

»Ich bin ein ausgesteuerter Kaufmann, verzeihen Sie, Herr . . . Hunger tut weh, lieber Herr.«

Ganz junge Leute von athletischem Bau, in Sportanzügen, die Gesichter nicht bettelnd, sondern drohend, raunten:

»Ich nehme auch einen Pfennig. Einen Pfennig werden Sie wohl haben für einen Mitmenschen!«

Auch die Frauen, ein Kind im Arm, ein Kind am Rock, die lauter und würdeloser bettelten als die Männer, waren nicht gekleidet, um Erbarmen zu erregen. Man sah ihren Röcken und Mänteln an, man sah an den Kleidern und der Wäsche ihrer Kinder, daß sie von den vierundzwanzig Stunden ihres Jammertages zumindest zwei am Waschzuber und am Nähtisch verbrachten.

»Sie haben doch auch eine Mutter!« schrien sie. »Eine Mutter, die für Sie betteln würde!«

Musikanten und Straßensänger gab es in hellen Trupps – wer mit geschlossenen Augen über den Kurfürstendamm und seine Seitengassen gezogen wäre, hätte glauben müssen, Berlin sei eine Stadt voll Lust und Lebensbejahung. Da klangen die Geigen, da zirpten Saiteninstrumente, da wurden alle 37 deutschen Volkslieder und alle vaterländischen Lieder gesungen, dreistimmig, wohleinstudiert, von entlassenen Schullehrern, von den Mitgliedern bürgerlicher Gesangvereine, von den Schülern staatlicher Konservatorien.

Einen Groschen, einen armseligen Groschen konnte Hans-Heinz in dieses Meer von Elend werfen, er überlegte lange, wem er ihn geben sollte. In einer stillen Straße des Westens lief ein junges Mädchen, beide Hände ans Gesicht gepreßt, laut singend an ihm vorbei. Sie hatte eine Stimme voll Wohllaut und Metall, was sie sang, stammte aus einer großen edlen Oper, sie mußte lange studiert haben, begnadet und fleißig gewesen sein, um so himmlisch singen zu können. Aber es kamen immer nur ein paar Takte rauschend und herrlich aus ihrer Kehle, dann verstummte sie wieder. Sie wußte nicht, daß man singen und dann auf den Lohn, der vielleicht, vielleicht kam, warten mußte. Sie rannte nur, singend und schluchzend zugleich, an den Häusern hin wie ein Vogel, den das Elend ganz plötzlich aus dem Nest gestürzt hatte.

Für die war sein Groschen. Rümelin rannte ihr nach. »Halt, Fräulein!«

Sie blieb stehen, streckte ihm die Hand entgegen, aber danke sagen konnte sie nicht. Aus ihren Augen flossen die Tränen wie aus Brunnen. Wenn sie den Mund auftat, um zu singen, schoß das bittere Wasser ihr in die Kehle, und deshalb brachte sie nie eine ganze Strophe zu Ende. Sie nahm das Geldstück, lief weiter, als wäre der Büttel hinter ihr, das schöne junge Mädchen schluchzte und heulte weiter Fetzen einer Arie aus »Traviata« zu den einst prächtigen Häusern hinauf, von denen der Stuck abfiel und hinter deren Fenstern man Sorgen und Hunger hatte, aber keine Ohren für die Not der anderen.

An jeder Straßenecke der inneren Stadt stand ein Trupp von Almosenheischern, die nicht für ihren Magen, sondern für ihre politische Partei sammelten. Ein Soldat in grauer Felduniform, ohne Waffen, aber gebügelt und gebürstet wie zur Parade, schmetterte laut: 38

»Für die nationale Front!Eine Organisation dieses Namens gab es nicht. Einen Groschen!«

»Keinen Groschen für die nationale Front! Alles für die bösen Nazi!« rief sofort, da er nur auf das Stichwort gewartet hatte, ein zweiter Mann in brauner Uniform, Reithosen, gelben Gamaschen, brauner Bluse und braunem Tschako, die Hakenkreuzbinde um den Arm. Sie trugen beide große, verschlossene Sammelbüchsen in den Händen, mit denen sie gewaltig klapperten, als sei ihr Sammeln eine militärische Übung.

»Rot Front! Für den Kampffonds der Kommunistischen Partei!« war der dritte Ruf. Auch die Proletarier, die ihn ausstießen, hatten sich militärisch angetan – im Grunde waren es drei Armeen, zum Bürgerkrieg bereit, nein, mitten im Bürgerkrieg, die ihre Vertreter nebeneinander an eine Straßenecke gestellt hatten, um ihre Kassen zu füllen.

Der Ruf »Rot Front« kam manchmal von den Lippen eines Mädchens – diese Werberinnen der proletarischen Armee hatten meist Studentengesichter, feine, von Nächten über den Büchern geadelte Gesichter.

Sie trugen Windjacke und Hosen, standen mit den kleinen Füßen im eisigen Straßenschlamm, ihre Nasen und Wangen waren blaurot, und ihre Beine zitterten.

Diese drei schienen zueinander zu gehören – gleichsam im Trupp bettelten sie die Munition zusammen, mit der nachts Parteilokale beschossen, Versammlungen gesprengt, Versammlungsteilnehmer zu Boden gestreckt wurden. Gab jemand dem Mann in Feldgrau, dann riß er militärisch die Knochen zusammen und salutierte, gab jemand dem in der braunen Bluse, dann warf er die Hand zum Faschistengruß in die Luft, gab man dem proletarischen Studentenmädchen, dann ballte es die kleine, blaugefrorene Faust und sprach »Rot Front!«

Soldaten als Bettler, Hitlers Sturmabteilung als Bettler . . ., dachte Rümelin. Es muß schlecht um meine Partei und um die des Herrn von Reischach stehen, daß sie neben den Kommunisten ihre klappernden Büchsen präsentieren! 39

Er tauchte in die Katakomben der Untergrundbahn ein und studierte alle Gesichter. Wie hart das Leben geworden war, seit er zum letztenmal als freier Mann in einer Stadt geweilt hatte! So verkrampft und so böse schauten die Menschen drein, musterten einander mit wütenden Blicken, denn jeder zweite trug ein Parteiabzeichen, das Hakenkreuz, die drei Pfeile des Reichsbanners»Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold«: 1924 von der rechten SPD-Führung gegründete republikanische Organisation ehemaliger Kriegsteilnehmer. Ihr gehörten auch Mitglieder der Deutschen Demokratischen Partei und des Zentrums an. Die Führung des Reichsbanners lehnte im Kampf gegen die Faschisten eine Aktionseinheit mit der KPD ab. oder die rote Rosette der Proletarier. In dieser neuerstandenen Welt war alles Partei, jeder hielt seine Zeitung in der Hand wie ein Bekenntnis, und aus den riesigen Headlines schwelte der Haß.

»Rotmord wieder an der Arbeit, neuer Meuchelmord an einem SA-Kämpfer!«

»Die braune Pest wütet unter Arbeitern – Wieder drei Genossen feig erschlagen!«

Jede Nacht ging das Meucheln, Dolchen, das Schießen.

Hier fraß jeder Mensch, der seine Vormittagsarbeit getan hatte, vor dem Mahl Wut und Gift in sich hinein, schluckte durch die Augen und durch das Hirn für zehn Pfennig Eiter und Geifer.

Als Rümelin im Zentrum den Untergrundbahnhof verließ, war von der doch und doch hoffnungsvollen Stimmung nichts mehr in ihm, in der er vor einer Stunde die Villa des Herrn von Reischach verlassen hatte. Es kann nur Einer helfen, sagte er sich. Und dieser Eine muß, auch durch Ströme von Blut, den Platz erobern, von dem aus er helfen kann. Das ist Hitler, er allein weiß, wie man Arbeit und Brot beschafft, er kann die Massen formieren, dem Staat sein Gesetz aufzwingen. Was ist denn sein ganzes Programm? Arbeit und Brot – das verspricht er und weiter nichts. Er nimmt den Kapitalisten, was das tote Gold an Zinsen aus den Hungrigen preßt, und gibt es denen, die ihren Schweiß dafür vergossen haben. Er bricht die Zinsknechtschaft, erobert die Hochburgen des Kapitals, die Gruben, die Zechen. Er drainiert und bewässert die tote Heide, schafft Ackerland, wo heute kaum Lämmer weiden. Er gibt denen, die fürs Vaterland geblutet haben und heute ihren Kindern kein Brot bieten können, ein Stück 40 Siedlungsland, das die Latifundienbesitzer schlecht verwaltet haben. Dann werden diese verkrampften Gesichter sich lösen, dann werden Bettler und Musikanten von den Straßen verschwinden. Das ist ja sein ganzes Programm, mehr will er nicht, mehr verspricht er nicht – die Sozialisten haben es nicht gekonnt oder nicht gewollt, haben nur an die eigene Tasche gedacht, ihre Söhne und Schwiegersöhne an die wohlgefüllten Krippen gestellt, und dabei ist das Volk faserig geworden, hat seine nationale Substanz verloren, hat vergessen, daß alle Bürger eines Reiches Brüder sind.

Sein erster Weg sollte ihn zu Dr. Schnierwind führen, den jungen Volkstribunen, den Leiter der Zeitung »Deutsche Hiebe«. Der hatte ihn während seines Prozesses in großen Leitartikeln gefeiert, ihm danach in die Festungshaft einen Brief geschickt:

»Sie sollen Ihre Opfer nicht umsonst gebracht haben, tapferer Parteigenosse! Wir erwarten Sie!«

Die breiten Geschäftsstraßen der inneren Stadt lagen öde und still. Hier, viel mehr als im Westen, sah man, daß Berlin viel zu weit geworden war für das bißchen Leben, das es noch nährte. Die Läden waren voll herrlicher Waren, hochgestapelt lagen da Stoffe und Kleider, jede Auslage strotzte und lockte. Nahrungsmittel in Hülle und Fülle, und jedes vierte Geschäft schien nur errichtet, den Appetit anzuregen, ihn verschwenderisch zu stillen. Aber diese Geschäfte waren leer, nicht einmal vor ihren Fenstern drängten sich die Hungrigen, die nichts zu kaufen hatten. Sie gingen achtlos vorüber, vorüber an den angeschnittenen, rosa schimmernden, riesigen Schinken, an den fetttriefenden Aalen und Flundern, an den Körben voll von Eiern, den Pyramiden von Brot, den Bergen herrlicher Früchte. In diesen Straßen war kein Tempo mehr, kein Ruck und Zuck, was da zu tun hatte, schleppte sich mißvergnügt, Hoffnungslosigkeit lag auf jedem Gesicht.

In einer offenen Torfahrt, den Kopf an die Mauer gestützt, lag auf dem Asphalt ein junger Bursche, den drei oder vier Männer schwatzend umstanden. Er hielt in der einen Hand 41 eine gewaltige Speckwurst, in der anderen einen Knust Brot und fraß, ohne sich eine Sekunde Pause zu gönnen, ohne die Bissen in seinem Munde einspeicheln zu lassen, fraß – nicht wie ein Tier, sondern wie eine Maschine, die in rasendem Lauf Brot und Fleisch zerkleinert. Er hatte keine Augen im Kopf, sondern tiefe schwarze Löcher, er hatte die Lider zusammengepreßt, um sich ganz dem Fraß hinzugeben. Seine Brust röchelte, der Mund schlürfte und schmatzte, er war rasend an der Arbeit, wie ein Ertrinkender, sein fast schon verlorenes Leben zu bergen.

»Ist er krank?« fragte Hans-Heinz einen der schwatzenden Männer.

»Krank? Lieber Herr, der ist so gesund, der hat einen gesegneten Appetit. Von krank ist da bestimmt nicht die Rede. Aber wenn ich ihm nicht die Wurst und der Genosse da das Brot gekauft hätte, dann wäre er heut nacht spätestens an seinem gesunden Appetit krepiert. Bei mir wird's Saures geben, wenn ich nach Hause komme. Schließlich hat die Familie auch soweit ganz gesunde Mägen.«

»Hitler gibt Euch Arbeit und Brot«, wollte Hans-Heinz sagen, aber er hatte den Namen Hitler noch nicht zu Ende gesprochen, da starrte der freundliche Mann plötzlich wie ein Mörder, ballte die Faust und kehrte ihm den Rücken.

 


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