Balder Olden
Anbruch der Finsternis
Balder Olden

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtzehntes Kapitel

Hans-Heinz Rümelin erwachte in einem hellen Zimmer, in einem breiten, üppigen Bett – noch war er jeden Morgen erstaunt, wenn er sich in soviel Luxus fand. Sein Badezimmer war mit Kacheln belegt, es blitzte von Sauberkeit, von frisch geputztem Nickel. Er ließ heißes und kaltes Wasser verschwenderisch auf seinen Körper niederrauschen. Im Nebenzimmer stand das Frühstück für ihn bereit, warteten seine Morgenzeitungen, seine Post.

Er machte ein Fenster auf, ließ die gute, frische Morgenluft an sich heranwehen, sah nach dem Wetter, blickte auf die baumbestandene Straße des Berliner Westens hinunter, in der er jetzt zu Hause war. Vielleicht war es dieselbe Straße, durch die er vor ein paar Wochen gegangen war, ein armer Teufel mit geringer Hoffnung im Herzen, vielleicht war es die Straße, in der er einem singenden, schluchzenden Bettelfräulein von seinen fünfunddreißig Groschen einen geschenkt hatte.

Damals hatten die Linden noch kahl gestanden, eine doppelte Allee pathetisch zum Himmel starrender Riesenbesen. 170 Jetzt trieben sie an Ästen und Ästchen junges Grün, wie eine zarte Wolke von grünem Licht schimmerte es zu ihm herauf. In zehn Tagen sollte Gerda hier einziehen, sein Bett, sein Bad, sein Frühstück teilen, sein ganzes Leben mit ihm leben, nicht mehr im fauchenden, alten Ford, sondern im lautlos atmenden Mercedes-Benz mit ihm fahren, durch die Straßen, in die Wälder, an die Seen rings um Berlin.

War es lange her seit ihrem Picknick in der Holzfällerhütte, als der Regen schwer von den Bäumen troff, Hitler zu Boden lag und er selbst – als ein Mann, der auf Hitlers Stern gebaut hatte – ein Mann ohne Zukunft war? War es Wochen oder nur Tage her, seit Gerda und er auf der Straße gestanden hatten, das stolze Mädchen obdachlos wie er und verfemt, angewiesen auf das Mitleid ihrer Freunde?

Jetzt war er fast schon daran gewöhnt, im Luxus zu leben, es schien ihm selbstverständlich, daß er immer Geldscheine in der Brieftasche und klimperndes Hartgeld im Sacke hatte, daß alle Menschen, mit denen er verkehrte, an reichgedeckten Tischen saßen und in ebensolchen Betten schliefen wie er. Das Ministerium seines künftigen Schwiegervaters war altpreußisch und sparsam. Aber dort stand er ja nur mit einem Fuß und mit dem anderen im braunen Lager. Hier gab es keine versorgten Gesichter, hier schien die soziale Frage gelöst. Ohne daß er sich je darum drängte, flossen Rümelin die Aufträge zu, hochvergütet, mit reichen Spesen dotiert.

Wie bei einer Naturkatastrophe waren bald nach dem Reichstagsbrand Zehntausende von Beamten ohne Kündigung aus dem Dienst gejagt worden, weil sie der demokratischen oder einer bürgerlichen Partei angehörten. Das ganze Gefüge der Regierung mußte mit unerprobten, neuen Kräften besetzt werden, und überall war ein Mann von Rümelins Bildung, seinem festen Auftreten, seinen Beziehungen zu den höchsten Stellen in beiden Regierungslagern vonnöten. Zugleich hatte Schnierwind etliche hundert akademische Lehrer, Gelehrte aller Fakultäten, viele von Weltruf, Stützen und Leuchten ihrer Universitäten, von den Kathedern gefegt, weil sie Juden 171 waren oder mindestens von Großeltern her ein Tropfen jüdischen Blutes in ihren Adern rollte. Die deutsche Studentenschaft hatte diesem Professorenschub fast einstimmig zugejubelt, aber dennoch war es ein verzweifeltes Beginnen, von heute auf morgen Ersatzkräfte einzubauen, Männer von zuverlässiger nationalsozialistischer Gesinnung zu finden, die neben den Vertriebenen bestehen konnten. Rümelin war überall dabei, ging als Schnierwinds Referent in zahllose Sitzungen, war von Schnierwind ernannter Delegierter in immer neuen Komitees. Ihm, der vor ein paar Wochen noch über den Posten eines SA-Soldaten in der braunen Kaserne glücklich gewesen wäre, hatte das Dritte Reich Arbeit und Brot in reicher Fülle gespendet. Er empfand das ohne Stolz, ohne Dankbarkeit, fast als etwas Selbstverständliches. Hitler war der große Sämann, der Korn über die Furchen aller deutschen Äcker streute. Rümelin glaubte es zu fühlen, wie neuer Saft in alle Glieder des Volkes einschoß, das Volk wieder satt und wehrhaft und vaterländisch mit ganzer Seele wurde.

Der Gestiefelte Kater freilich war grimmiger und kratzbürstiger von Tag zu Tag, tief unzufrieden mit jedem Schritt, den die neue Regierung tat, ohne ihn zu Rate zu ziehen. Als ob er nicht auch Minister, als ob es nicht seine Partei gewesen wäre, die Hitler in den Sattel geholfen hatte!

»Judenboykott!« fauchte er heute Rümelin an, der zur gewohnten Stunde pünktlich bei ihm antrat. »Neuester Wahnsinn – wird gedankenlos hinaustrompetet –, erst nur Propaganda für Wahlen – noch dazu dumme, schlechte Propaganda –, soll jetzt auf einmal Wirklichkeit werden. Jüdische Professoren auf die Straße – à la bonheur. Universität momentan von sekundärer Wichtigkeit. Jüdische Richter, Rechtsanwälte, Ärzte – meinetwegen weg damit! Kommt auf ein paar zerbrochene Scheiben mehr nicht mehr an. Ganze Hitlerei sowieso Ochse im Porzellanladen. Aber – jüdische Wirtschaft zerstören – von Staats wegen Steuerzahler zugrunde richten – Privateigentum enteignen – bolschewistisches Dynamit! Mache dabei nicht mit – meine Partei macht dabei nicht mit! Ob 172 rassisch oder nationalistisch oder kommunistisch – Bolschewismus ist Bolschewismus, so wie Eigentum Eigentum ist! Wünsche, daß Schnierwind Propaganda für Judenboykott schleunigst abbläst – unbedingt! Unbedingt! Wenn Mob erst Blut geleckt hat, nicht mehr zu halten. Heute wird Gewerkschaftshaus enteignet – morgen jüdisches Warenhaus – übermorgen Stickstoffwerke – dann Großgrundbesitz! Abblasen, ›Das Ganze-halt‹ blasen!«

»Zu Befehl, Herr Major, werde Auftrag ausführen. Ich fürchte aber, daß es zum Abblasen zu spät ist, daß Ihre Stimme nicht gehört wird. Die Befreiung von jüdischer Fremdherrschaft ist ein zu wichtiger Punkt im nationalsozialistischen Programm!«

»Attentat gegen deutsche Volkswirtschaft – schlimmer als Reichstagsbrand! Mache ich nicht mit – decke ich nicht! Entweder oder – abblasen oder meine Demission!«

Der alte Herr war aufgesprungen, noch immer erschien seine Demission ihm eine furchtbare Drohung. Aber in diesem Augenblick geschah etwas in seinem Hause Unvorstellbares. Die Tür ging auf, ohne daß man geklopft hatte – als sei er schon entmachtet, im eigenen Hause sogar. Herr von Reischach machte entsetzte Augen . . .

Es war Gerda, sie kam herein wie eine Nachtwandlerin, sie schien gar nicht zu wissen, daß sie nicht geklopft hatte, und schien ihren Bräutigam nicht zu sehen. Ganz langsam durchschritt sie den Raum, nahm Posten am Schreibtisch ihres Vaters. Ihre Augen waren weit aufgerissen und standen voll kalter Flammen.

»Sprich kein Wort mehr mit diesem Menschen!« sagte sie furchtbar leise, aber dabei hatte sie nicht einmal die Bewegung eines Fingers für Rümelin.

»Laß ihn aus deinem Hause verschwinden, Papa! Ich will ihn nie gekannt haben!«

»Sprichst du von mir?« schrie Hans-Heinz. Er begriff das alles nicht, seine Gedanken durchrasten die letzten Tage, die letzten Wochen – welches Verbrechen hatte er begangen? Er 173 fand nichts, kein verletzendes Wort, keinen treulosen Gedanken.

»Sprichst du wirklich von mir?« fragte er noch einmal.

Gerda wandte ihm nicht das Gesicht zu, hatte seine Frage gar nicht gehört.

»Er ist ein Denunziant, Papa! Der elendeste, feigste Denunziant, der erbärmlichste Schuft, der undankbarste Schuft, der schuftigste Denunziant, von dem ich je gehört habe. Sprich nie wieder ein Wort zu ihm, Papa!«

»Wen – wen soll er denunziert haben?« stotterte der Gestiefelte Kater, der nicht geahnt hatte, daß seine Tochter so furchtbar aussehen konnte.

Sie sprach immer noch leise und langsam, als sei jedes Wort abgewogen.

»Er hat Alexander Naumann verraten. Er hat meine Freunde vernichtet. Schlimmer als ermordet. Sie existieren nicht mehr –«

»Das habe ich nicht getan! Ich schwöre –«

Auf einmal kehrte sich Gerda zu ihm, die Hand hoch in die Luft gereckt, als hielte sie eine Waffe, und jetzt, plötzlich, war auch ihre Stimme furchtbar wie ihr zerrissenes Gesicht.

»Kein anderer – kein anderer – als du! Hin und her zwischen dem PEN-Klub und dem brennenden Reichstag – hier erzählt, was er gesagt – dort erzählt, was hier gesagt wurde. –«

Dann warf sie sich, hell schluchzend, über den Schreibtisch, griff nach den Händen ihres Vaters, ließ die Sturzbäche ihrer Tränen über seine müden, knochigen Hände laufen.

»Sie haben Alexander Naumann verschleppt, halbtot geprügelt – Frau Naumann fast zertrampelt – Fußtritte in ihr gutes Gesicht –«

Herr von Reischach beugte seinen Kopf mit der weißen Bürste auf das blonde Haupt seiner Tochter, deren Schluchzen jetzt ein schrilles Winseln wurde. Es war die erste zärtliche Bewegung, die er seit vielen Jahren für dies Kind hatte.

»Du mußt dich beruhigen, Gerda – es kann nicht wahr sein!«

»Sie haben Yella die Kleider vom Leib gerissen – sie haben die nackte Yella zuschanden geprügelt, geprügelt, gepeitscht – 174 sie wird nie wieder lachen können. Und er – er, er hat die Schuld!«

»Verantworten Sie sich!« dröhnte Reischachs Kommandostimme. »Nein, ich sehe Ihnen an, daß Sie schuldig sind!«

Rümelins Stirn hatte sich mit Schweißperlen bedeckt, er wankte, er stand wirklich vor Herrn von Reischachs zornigen Augen wie ein Überführter. Naumann, Frau Naumann, Yella Naumann überfallen, mißhandelt, verschleppt – das war im ersten Augenblick alles, was er fassen konnte. Das waren Menschen, die auch ihm nahestanden, denen er Dank schuldete, die zu Gerda und damit zu ihm gehörten.

»Von SA?« fragte er heiser, mit brennender Kehle. »Wirklich von SA?«

Dann erst fiel ihm ein, daß er zu Schnierwind jene dumme Bemerkung gemacht hatte, die Naumann kompromittieren konnte. Aber das war ja nicht dienstlich gewesen, eine harmlose Bemerkung. – Er hatte sie gleich revozieren wollen, aber Schnierwind war ja gar nicht darauf eingegangen. Richtig, das war damals, als Schnierwind ihm den Mercedes-Benz geschenkt hatte, so ganz bedeutungslos wie eine Zigarette.

Wenn da ein Zusammenhang war, dachte er, dann ist Schnierwind wirklich der Teufel selbst! So, wie er aussieht!

Die Beine wankten unter ihm, er mußte sich stützen.

»Es muß ein Mißgriff vorliegen, Herr Major – eine Verwechslung. Ich bitte, mich zu entlassen – ich werde sofort alles aufklären – richtigstellen.«

Während er hinausging, noch im Vorsaal, noch auf der Straße, hörte er Gerdas schneidende Schreie.

»Papa! Papa! Frau Naumann ist wahnsinnig geworden! Ich will nicht mehr leben, Papa!«

 

Von den Naumannschen Dienstmädchen war eines in Hemd und Mantel, in Hausschuhen über die Hintertreppe davongerast, während die Exekution durch die Wohnung ihrer Herrschaft raste, und hatte sich nicht wieder eingefunden; die alte Köchin hatte sich unter ihrem Bett verkrochen und hatte 175 gebetet, ihre Kammer war von der Razzia verschont geblieben. Als die Teufel sich verzogen hatten, war sie wieder ans Licht gekrochen, hatte ein Krankenhaus angerufen, ihre gnädige Frau und ihr Fräulein Yella vom Sanitätsauto abholen lassen. Jetzt geisterte sie wie eine alte Eule, schon seit Tagen, durch die zerstörte Wohnung, wollte zugreifen, retten, nützlich sein, aber sie wußte nicht, wo sie in dieser Verwüstung anfangen sollte.

Sie war es, die Gerda benachrichtigt hatte, sie bestätigte Herrn Rümelin alles: Ja, wegen des Reichstagsbrandes war es gewesen, der eine Mann hatte gebrüllt, daß man es bis ins letzte Kellerloch hörte. Herr Naumann soll gesagt haben, daß, daß – sie wagte es nicht, die verhängnisvollen Worte zu wiederholen. Wer diesen Verdacht aussprach, nur wiedergab, daß nicht die Kommunisten, sondern Hitler und Göring selbst – der war verloren.

Rümelin durchschritt die Wohnung, Naumanns Arbeitszimmer, das einer Feldlatrine glich, er sah die großen Flecken geronnenen Blutes auf dem Teppich.

Die Alte bat flehentlich:

»Bringen Sie mich nicht hinein, Herr Leutnant! Gesehen hab ich ja nichts, getan hab ich auch nichts, nur das Sanitätsauto hab ich kommen lassen.«

 

Als Rümelin zornbebend erzählen wollte, was er mit eigenen Augen gesehen hatte, hielt Schnierwind beide Hände an seine Ohren.

»Ich bin ein sentimentaler Junge, Rümelin! Verschonen Sie mich mit Ihrer Greuelpropaganda – mir wird tatsächlich übel, wenn ich solche Geschichten höre.«

»Ich will wissen, ob das auf Ihre Anordnung geschehen ist, Schnierwind!«

»Auf meine Anordnung? Ich bin Politiker, wie Ihnen bekannt sein dürfte, aber nicht Polizeiwachtmeister. Meinetwegen soll auf meine Anordnung der Reichstag in Brand gesteckt worden sein, den Judenboykott und ein paar solche Sachen 176 will ich auch noch vertreten, aber mit Bagatellen habe ich nichts zu tun!«

Der Witz, Schnierwind wolle »seinetwegen« die Brandstiftung angeordnet haben, rief unter seinen Getreuen große Heiterkeit hervor.

»Lassen Sie Schnierwind in Ruhe«, sagte der eine. »Für Kleinigkeiten hat er keine Zeit. Ob Herr Naumann ein Loch im Kopf hat und ob Fräulein Naumann den Blanken versohlt kriegt, kann uns doch wirklich einerlei sein.«

»Auf jeden Fall trage ich vor dem Richterstuhl der Geschichte meine Verantwortung«, witzelte Schnierwind. »Seite an Seite mit Adolf dem Großen.«

Rümelin fragte mit Entsetzen:

»Ist Ihnen nichts – gar nichts heilig?«

Plötzlich wurde Schnierwind ernst.

»Doch, Rümelin! Die Dummheit jedes einzelnen, die Dummheit der Massen, die Dummheit der Regierenden und der Regierten, die ist mir heilig! Das ist das Unzerstörbare der Schöpfung, von der leben wir, die ist unsere Macht.«

»Wissen Sie, wohin Naumann verschleppt wurde?«

»Keine Ahnung, geht mich auch gar nichts an. Suchen Sie ihn, wenn Sie Lust haben. In irgendeiner SA-Kaserne werden Sie ihn schon finden. Schade um ihn, er hat wirklich nette Sachen geschrieben. Aber wie kommt der dumme Kerl dazu, seine Meinung zu äußern? Wenn ich mir das erlaube, ist es etwas anderes.«

 


 << zurück weiter >>