Balder Olden
Anbruch der Finsternis
Balder Olden

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechzehntes Kapitel

So eilig, wie es dem Befehl des Gestiefelten Katers entsprach, hatte Gerda ihre Siebensachen zusammengepackt und war nach Hause gefahren. Herrn Naumann durfte sie bei der Arbeit nicht stören, die beiden Damen waren nicht zu Hause, und so hatte sie ohne Abschied davonziehen müssen.

Die Mutter lachte und weinte vor Glück, sah ihr Mädel immer wieder mit großen, ganz erstaunten Augen an.

»Wie gut du dich gehalten hast, Gerda! Aber jetzt mußt du sofort ein Bad nehmen! Und schrecklich viel schmutzige Wäsche mußt du ja haben –«

Sie hatte einen dunklen Begriff, als sei Gerda ein paar Wochen lang unter den Wilden gewesen, in einer Art von Berliner Dschungel oder Urwald.

»Aber Mama, wir hatten doch unser eigenes Bad, Yella und ich.«

»Wirklich? Ist das wirklich wahr?«

Frau von Reischach wollte ihre Tochter nicht verletzen, sie 148 fragte nicht weiter. Aber daß man im Hause eines jüdischen Literaten badet und gepflegt wird wie in ihrer Grunewaldvilla, hatte sie nicht für möglich gehalten. Sie kannte persönlich weder Juden noch Literaten, sie wußte nur, daß diese Leute schmutzig, geizig und geldgierig sind.

»Wenn ich nicht Sehnsucht nach dir gehabt hätte, Mama, und wenn es nicht lächerlich gewesen wäre, so als verstoßene Tochter in der Welt herumzuziehen, dann müßte ich eigentlich sagen, das waren die schönsten Ferien meines Lebens! Ich kann dir gar nicht, gar nicht schildern, was das für entzückend gute Menschen sind, was sie für kluge, geistreiche Freunde haben und was für eine gute Luft um sie ist. Du mußt auch einen Dankbrief an Frau Naumann schreiben, Mama, jetzt gleich, denn nachher treffe ich Naumanns in der Stadt, und da möchte ich den Brief gleich mitbringen. Eigentlich bist du Frau Naumann einen Besuch schuldig für so viel Gastfreundschaft, wie sie mir erwiesen haben.«

»Aber das sind doch – Juden!« sagte Peter, der sich inzwischen eingefunden hatte, und machte ein Gesicht, als hätte er in einen wurmigen Apfel gebissen.

»Ja, und Yella ist sogar eine sehr leidenschaftliche Jüdin, eine richtige Zionistin! Sobald sie den Doktor gemacht hat, in ein paar Monaten, fährt sie nach Palästina. Aber dem Blut nach ist sie es eigentlich nicht ganz, denn Frau Naumann ist aus unseren Kreisen. Eine baltische Baronesse –«

»Dann sind sie also gewissermaßen gezähmt und stinken deshalb nicht mehr«, beruhigte sich Peter. »Aber trotzdem wird es gut sein, wenn dieser Naumann und seine Frau Gemahlin gleich mit nach Palästina fahren, denn jetzt herrscht Hitler, und der wird die ganze fremdblütige Bagage mit eisernem Besen zum Lande hinauskehren.«

Gerda warf stolz den Kopf zurück, mit einer Bewegung, die sie vielleicht Yella abgesehen hatte.

»Ich verbitte mir diesen Ton, wenn von meinen Freunden die Rede ist. Du bist ein alberner Junge, Peter, du liest viel, aber du verdaust es noch nicht!« 149

Peter sang ihr zur Antwort die neue Nationalhymne der Deutschen vor, Gerda kannte bisher eigentlich nur die Melodie, obwohl sie seit Tagen und Wochen auf allen Straßen und Plätzen des Reiches gesungen wurde.

»Wenn der SA-Mann in den Kampf zieht,
    dann ist er frohen Muts.
Und wenn das Judenblut vom Messer spritzt,
    dann geht's noch mal so gut.
Die Juden und Marxisten, die bringen uns kein Heil.
    Den Severing und Genossen erschlagen wir mit dem Beil!«

Gerda dachte an den prominentesten Genossen Severings, den stattlichen, alten Gewerkschaftler Völkerbrunn, der zu Naumanns Geburtstag so rührend langweilig und gutherzig gesprochen hatte.

»Ich bin Papa fast dankbar, daß er mich ein bißchen hinausgeworfen hat«, sagte sie. »Jetzt bin ich von euren Ansichten gründlich geheilt. Das heißt, eigentlich hatte ich es gar nicht nötig – diese ganze blutrünstige Demagogie war mir immer zuwider. Ich bin wieder deutschnational wie Papa.«

»Demagogie?« lachte Peter. »Man kann von den höchsten Säulen des Reiches doch nicht sagen, daß sie Demagogen sind?«

Er schaltete den Lautsprecher des Radioapparates ein. Dem Lautsprecher entströmte eine Stimme, die sich überschlug, ein Gebrüll, das manchmal fast Geheul wurde. Man empfand, während sie das Trommelfell zittern machte, daß da ein Mensch vor dem Mikrophon stand, der alle Hemmungen abgelegt hatte. Sicher war es ein gewaltiger Kerl mit einem riesigen Brustkasten und über alles Maß trainierten Stimmbändern, aber er verlangte noch mehr von seinem Organ, als es zu geben hatte. Man sah ihn förmlich, wie er dastand – den Mund aufgerissen wie ein Wolfsmaul, Schweiß auf der Stirn und mit blutunterlaufenen Augen.

So kann nur ein Tobsüchtiger brüllen, nicht einmal ein Betrunkener, dachte Gerda. 150

»Ich danke meinem Schöpfer, daß ich nicht weiß, was objektiv ist!« klang es aus dem Apparat. »Ich werde Polizei rücksichtslos einsetzen, wo man das deutsche Volk zu schädigen weiß, und ich werde jeden Beamten, der seine Waffe nicht schnell und rücksichtslos genug zu brauchen weiß, strengstens bestrafen. Besser zehnmal zu oft als einmal zuwenig geschossen! Besser zu weit oder zu kurz – wenn nur überhaupt geschossen wird! Dazu haben wir ja unsere Karabiner, um das Gesindel vor die Bäuche zu knallen! Aber ich lehne es ab, daß die Polizei eine Schutztruppe jüdischer Warenhäuser und Banditen ist. Sie ist nicht dazu da, die Gauner, Strolche, Wucherer und Verräter zu schützen. Wenn behauptet wird, da und dort sei einer abgeholt und mißhandelt worden, dann kann ich nur erwidern: Wo gehobelt wird, fallen Späne!

Diese Warnung aber richte ich großmütig an alle Juden! Sollte einem einzigen Mitglied der nationalen Regierung auch nur ein Haar gekrümmt werden, so wird dies das Signal zu einem allgemeinen Massaker aller Juden sein, das kein Ende nehmen wird, solange ein Jude noch am Leben ist!«

Gerda riß den Stöpsel aus dem Kontakt, und es war seltsam, wie majestätisch still es jetzt war, wie diese Ruhe den Nerven schmeichelte. Aber nur in dieses eine Zimmer war der Friede zurückgekehrt, noch klirrten weiter unter dem Koller dieser Stimme Hundert- und aber Hunderttausende von Fenstern in Deutschland. In jeder Stadt, in jedem Dorf, verseuchte sie die Hirne, versaute sie die Herzen. Weit über die Grenzen des Reiches hinaus, in allen Nachbarländern, in denen man deutsch sprach, wurde weiter und weiter das Wolfsgeheul dieses Mensch gewesenen Irren gehört, den Peter mit Fug und Recht eine höchste offizielle Säule des Deutschen Reiches genannt hatte.

»Wenn du wirklich kein Bad nehmen willst, dann wollen wir jetzt frühstücken und ein Stündchen recht gemütlich sein«, sagte die zärtliche Mutter, der, wie allen deutschen Frauen, solche Radiovorträge wie die des Ministers beim Strümpfestopfen oder beim Suppekochen etwas Gewohntes waren. 151

Schwangere Frauen und stillende Mütter hörten sich das an, ihre Embryos und ihre Säuglinge. Es war das tägliche geistige Brot der Abc-Schützen, der kleinen Mädchen, die mit Puppen spielten, der Vierzehnjährigen, die in der Konfirmandenstunde zum Eintritt in die Gemeinde erwachsener Christen erzogen wurden.

Die alten Leute hörten es, die wenig lasen, um ihre Augen zu schonen. Die Blinden, denen das Radio lieblichste und herrlichste Erfindung aller Zeiten ist, lauschten diesen Stimmen und nährten ihre Seelen damit. Viele hörten nur zu, um den Augenblick nicht zu versäumen, wenn wieder Musik kam, sie lauschten dem Geheule eines Wolfs, um ein Adagio von Mozart oder das Nocturno von Chopin nicht zu versäumen. Die Juden hörten es, die – einer unter hundert – jeder allein, jeder wehrlos waren, Trödler und Viehhändler unter deutschen Bauern, Studenten, die im Gewühl ihrer hakenkreuztragenden, farbentragenden, knüppeltragenden Kommilitonen Wissen sammelten, jüdische Ärzte, die sich über christliche Kranke beugten, Geschäftsreisende, die deutsche Waren vertrieben.

Sterbende hörten es in christlichen Krankenhäusern, als letzte Wegzehrung ihrer scheidenden Seelen. Auch der dreieinige Gott hörte es, langmütig, in Geduld, als sei es ihm wohlgefällig.

»La soupe, la soupe!« rief Mama Reischach, denn in heiteren Stunden sprach sie gern französisch.

 

Eines Abends lenkte Gerda ihren Ford zum Literatencafé, um ihre Freunde wiederzusehen. Schon ein paarmal hatte sie mit an dem runden Tisch gesessen, um den sich Naumanns Freunde versammelten und der auch an wildbewegten Tagen eine Insel der guten Laune war. Hier wurde die alte, ehrwürdige Kunst des Plauderns geübt. Hier herrschte die große Toleranz geistig freier Menschen vor jeder Meinung, jedem Weltgeschehen. Ironie schien ein besonderer Bestandteil dieser von Zigarettenrauch erfüllten Luft, und es verging kein Tag, an dem nicht ein guter Erzähler in diesem Kreise guter Hörer 152 eine Erzählung mit Witz und Menschenkenntnis zum besten gab. Irgend etwas, ein Geschenk des Geistes an den Geist, nahm man aus solchen Abendstunden immer mit sich nach Hause, und was an diesem Tisch gesprochen worden, wurde gleich darauf über viele hundert anderer Tische von Berlin weiter kolportiert.

Heute war das Café sehr leer, von Ecke zu Ecke ging kein Lachen und kein Flirten. Als Gerda eintrat, hoben sich viele Köpfe, man prüfte sie mißtrauisch, im ganzen Raume wurde nur geflüstert.

Sie spürte sofort, daß alle diese Menschen vor Terror und Spionage zitterten und daß sie selbst verdächtig war, eine Spionin zu sein. Es war herzzerreißend – sie wußte, die meisten dieser Gäste waren ganz arme Leute, mühselige Groschenverdiener, deren einziger Luxus die tägliche Tasse Kaffee in diesem Raum war. Jetzt fühlten sie sich auch hier ihres Lebens nicht sicher, und dennoch kamen sie, um Schreckensnachrichten zu sammeln, die einer dem anderen ins Ohr flüsterte, um die Nähe von Schicksalsgenossen zu spüren. Vielleicht fühlte jeder von ihnen sich in seiner eigenen Dachkammer sicherer als hier, aber sie waren dennoch zusammen, weil Alleinsein das Schrecklichste ist, weil Alleinsein das Blut gefrieren macht, wenn man weiß, daß ein grauenhaftes Schicksal die Straßen durchschleicht.

Mich halten sie für eine Spionin, dachte Gerda bitter. Vielleicht hat mich einer schon erkannt, hat den anderen zugeflüstert: »Die Tochter vom Gestiefelten Kater« oder »Die Braut von diesem Nazioffizier Rümelin«.

Dann streckten ihr froh und herzlich die drei Naumanns ihre Hände entgegen, sie wurde so warm begrüßt, daß niemand sie mehr für verdächtig hielt. Man fing wieder an, Zeitungen zu lesen, mit gedämpfter Stimme Gespräche zu führen. Aber sooft die Drehtür sich bewegte, flogen abermals aller Augen zum Eingang. Auch die Naumannsche Tafelrunde war heute nur klein, auch hier wurde nur mit halber Stimme gesprochen. 153

»Hast du Nachrichten von Josef?« fragte Gerda ihre Freundin.

Yella atmete tief auf, endlich einmal strahlte ihr Gesicht wieder.

»In zwanzig Minuten, um sechs Uhr vierzig, kommt er in Triest an! Morgen früh geht sein Schiff. Da, lies selbst!«

Sie kramte einen Brief aus ihrem Täschchen, und während sie tat, als ob sie mit Spiegel und Puderquaste hantierte, küßte sie heimlich die Unterschrift.

Gerda las die letzte Seite:

»Meine Eltern waren so grenzenlos traurig, daß ich mich schämte, ein klein bißchen glücklich zu sein. Aber ich kann mir nicht helfen, ich bin es eben!«

»Er bebt vor Arbeitswut«, erzählte Yella. »In jedem Brief schwört er, daß er dort drüben schuften will wie ein Neger. Palästina ist heute das einzige Land, das wirtschaftlich floriert. Und er –«

In diesem Augenblick drängte es wie braune Flut durch die Drehtür. Mann um Mann spie sie ein halbes Dutzend SA-Soldaten herein, Gummiknüppel in den Händen, Pistolen, deren Form sich deutlich abhob, in den Taschen.

Der Türhüter, ein stattlicher, blonder Mann, stand stramm wie ein Soldat auf Posten vor dem diensttuenden Offizier. Im ganzen Lokal hörte man kein Wort, klirrte kein Löffel mehr.

»Lassen Sie sich nur nicht stören«, grinste der Führer der SA-Patrouille hämisch die Gäste an. Er war jung, nicht viel über zwanzig, hatte runde rote Backen und sah wie ein angehender Commis voyageur aus. Aber er warf sich gewaltig in die Brust, er schien sich als Offizier im Feindesland zu fühlen.

»Zwei Mann Posten an der Türe!« kommandierte er seinen Leuten. »Zwei Mann dort drüben an den Eingang zum Nebenlokal! Ihr beide sucht Telefonzellen und Toiletten ab!«

Dann näselte er wieder den Gästen zu, von denen keiner sich rührte:

»Ich bitte, sich ruhig zu verhalten. Zuwiderhandelnde werden erschossen!« 154

Die Garde, die er kommandierte, hatte wenig Imponierendes. Es waren unterernährte junge Burschen mit krummen Beinen, in neuen, aber schlecht sitzenden Uniformen. Sie warfen bei jedem seiner Befehle die eisenbeschlagenen Stiefelabsätze gewaltig zusammen und ließen die Gummiknüppel auf ihre Stiefelschäfte knallen. Nur zwei von ihnen sahen aus, als dürsteten sie wie Metzgerhunde danach, Knochen zu zerschlagen und Blut zu vergießen. Die meisten hatten dumpfe Proletariergesichter und glotzten drein, als täten sie schweren militärischen Dienst.

Der Gruppenführer ging langsam von Tisch zu Tisch und fixierte jeden Gast, als suchte er einen Verbrecher. Die meisten taten, als seien sie in Zeitung und Zigarette vertieft, verschwendeten keinen Blick an diesen ganzen Aufzug, der ihnen mehr lächerlich als gefährlich schien.

»Wir finden den Burschen!« renommierte der Gruppenführer. »Und wenn er sich im letzten Mauseloch versteckt! Eigentlich sollte man sie ja alle mitnehmen, alles Pazifistengesindel, Marxisten, Juden, Untermenschen!«

Dann knallte er wieder mit der Polizistenwaffe an den Stiefelschaft.

»Der Bruder, den wir heute suchen, ist leider nicht dabei. Die Herrschaften hier kommen später einmal an die Reihe. Nur ein paar Tage Geduld!«

Er ließ seine Mannschaft antreten und befahl:

»Linksum! Ohne Tritt marsch!«

Abermals stand der Portier stramm, die Drehtür rauschte, Mann um Mann verschwanden die Braunen.

 

Sofort nach dem Abzug der Nazipatrouille bildeten sich im Lokal aus Gästen und Kellnern Gruppen, in denen der Vorgang mit leisen, zornigen Stimmen besprochen wurde.

»Wir haben noch Glück gehabt, meine Herrschaften«, erklärte ein Kellner. »Bei uns ist alles ganz geblieben. Im Café Central haben sie gestern gesucht, da ist alles kurz und klein geschlagen worden.« 155

»Wen suchen die Lümmels eigentlich?«

»Überhaupt niemanden«, behauptete der Kellner. »Die spielen nur! Die wollen nur fühlen, daß sie die Macht haben!«

»Vielleicht suchen sie Theo von Büding?« fragte eine zitternde Dame. »Ich habe gehört, daß –«

»Da können sie lange suchen«, beruhigte man sie. »Büding ist doch selbstverständlich längst über der Grenze.«

»Im Gegenteil!« wußte ein anderer. »Sein Blatt ist auf vier Wochen verboten worden. Aber er sitzt ganz fröhlich in seiner Wohnung und bereitet die nächste Nummer vor.«

»Sprechen wir von etwas anderem«, forderte Naumann auf. »Zum Beispiel vom Wetter. Aber es darf nicht geschimpft werden. Trinken wir jeder einen Kognak und loben wir einstimmig das Wetter.«

Jetzt erschien, seinen Hut in der Hand, ein heiterer, verträumter Spaziergänger, Theo von Büding. Er schien die Erregung im ganzen Lokal nicht wahrzunehmen, grüßte dahin und dorthin, wo er ein befreundetes Gesicht sah, schüttelte die Hände an Naumanns Tisch und nahm Platz. Sein Auftreten war so ruhig und so beruhigend, daß jeder sich plötzlich seiner Erregung schämte. Im Augenblick lösten die Gruppen sich auf, man las, man sprach und rauchte wie zuvor, es war, als sei gar nichts geschehen.

»Was hast du erlebt, was hast du gesehen, mein alter Büding?« erkundigte sich Naumann.

Büding war den Kurfürstendamm hinauf und hinunter geschlendert, eine gute Stunde lang hatte er sein Berlin im Zustand des nationalen Fiebers geruhsam studiert.

»Seit ein paar Tagen bilden sie sich ein, es sei Revolution«, erzählte er. »Nach dem Reichstagsbrand war noch gar nicht die Rede davon. Dann ist auf einmal das Wort aufgeflattert, und jetzt ist ›Revolution‹ das dritte Wort, das man auf der Straße hört. Ich glaube, die Leute wissen gar nicht, daß Hitler tatsächlich vom Reichspräsidenten ernannt worden ist, kraft seines Amtes, daß der ganze Umschwung ein legaler Vorgang ist. Sie laufen mit ihren Hakenkreuzen im Knopfloch in 156 dichten Scharen auf der Straße herum, sind begeistert und möchten am liebsten Barrikaden bauen. Sie wissen nur nicht, gegen wen. Sie singen ›Volk ans Gewehr‹, aber da ist kein Feind, auf den sie schießen könnten. Um irgend etwas zu tun, stellen sie Posten vor den jüdischen Geschäften auf und rufen den Käufern zu ›Kauft nicht bei Juden!‹ Aber die Leute haben Angst, daß die Geschäfte wirklich geschlossen werden, in denen man billig kauft, und kommen erst recht in Scharen, um sich einzudecken. Es ist eine mißliche Sache, so ein Sieg, dem kein Kampf vorausgegangen ist. In ein paar Tagen werden die Sieger sich furchtbar lächerlich vorkommen.«

»Trotzdem«, meinte Naumann, »wir würden es gerne sehen, wenn du ein bißchen über die Grenze gingest. Ein paar Wochen Zürich oder Prag, bis sich die Wogen wieder geglättet haben. Daß man dir den Paß abgenommen hat, ist kein Hindernis. Im Gebirge liegt noch Schnee, du kannst als Skitourist an tausendundeiner Stelle gemütlich im Telemark über die Grenze gehen.«

Büding lächelte nur.

»Diesen Gefallen werde ich Herrn Hitler sowenig tun, wie ich ihn seinen Vorgängern getan habe. Ich genieße lieber das wunderbare Gefühl, hier auf meinem Posten als höchst unbequemer Zeitgenosse zu gelten.«

»Sie hassen dich wie das Gift!« rief Frau Naumann. »Daß das Gefängnis dich nicht umbringt, hast du bewiesen. Wenn sie jetzt den geringsten Vorwand finden, um dir etwas am Zeug zu flicken – diesmal geht es nicht mit einem halben Jahr Gefängnis ab.«

Büding sah sie an wie ein Kind, ganz erstaunt und ganz harmlos.

»Kein Beruf ist ohne gewisse Gefahren. Ein Politiker darf nicht furchtsamer sein als ein Lokomotivführer.«

»Nur auf vierzehn Tage sollst du gehen!« bat Yella mit gefalteten Händen. »Du verlierst deinen Posten ja nicht, du gehst nur auf Urlaub, Onkel Theo!«

»Mach dir Ferien, bis dein Blatt wieder erscheinen darf«, 157 schlug Naumann gemütlich vor. »Solange du mundtot bist, kannst du dir die Wintersonne auf den Pelz brennen lassen.«

Noch einmal flehte Yella, das Gesicht an seinen Arm gepreßt:

»Tu's für uns! Du bist es uns schuldig! Jede Nacht werden Menschen – es sind schon Dutzende, es sind schon Hunderte – aus ihren Betten geholt und verschleppt. Erst eben war eine SA-Patrouille hier im Café. Vielleicht haben sie dich gesucht!«

»Im schlimmsten Fall werde ich ein paar Nächte außer dem Hause schlafen«, konzedierte der friedliche Büding.

Gerda begriff nicht, woher diesem unkriegerischen kleinen Mann, der schon soviel Gefängnis und Unbill erlitten hat, seine heroische Zuversicht kam. Sie prüfte ihn mit scharfen Augen – sein Lächeln war echt, in seinem Eigensinn war nicht ein Schatten von Komödie.

Jetzt müßte er auch Hans-Heinz imponieren, dachte sie. Auf einmal sah sie ihn wie in einer Vision von diesem Tisch hochgerissen, von den krummbeinigen braunen Burschen, die eben noch mit ihren Polizeiknüppeln durch den Raum geknallt hatten, gepackt, umringt, fortgeschleppt. Es war eine Vorstellung, die ihr körperlich weh tat, einen schneidenden Schmerz verursachte. Ganz plötzlich, ganz spontan rief sie, das heißt, sie rief es in Flüsterton, so, als schriee ihr Herz:

»Draußen steht mein alter Ford. Es sind nur vier Stunden – ich fahre Sie – vier oder fünf Stunden – dann sind Sie in Sicherheit!«

»Wie gern würde ich mit Ihnen vier Stunden spazierenfahren, Fräulein Gerda! Glauben Sie nicht, daß ich für soviel Güte unempfindlich bin! Aber es ist schon deshalb unmöglich, weil sich im Laufe der nächsten Woche der Fall BullerjahnDer Bruder des Autors, Rudolf Olden, hatte in den zwanziger Jahren die Öffentlichkeit wiederholt über die politischen Hintergründe von Fehlurteilen deutscher Richter, die sich später als Gesinnungs- und Klassenurteile erwiesen, aufgeklärt. Aus Kenntnis der Materialien, die zum Fall Bullerjahn von der Liga für Menschenrechte zusammengetragen worden waren, stellte er im »Berliner Tageblatt« fest, daß der Hauptbelastungszeuge, Herr von Gontard, Generaldirektor der metallverarbeitenden Berliner-Karlsruher Betriebe, in denen eine internationale Kontrollkommission Anfang der zwanziger Jahre ein geheimes Waffenlager entdeckt und Bullerjahn als den Alleinschuldigen namhaft gemacht hatte, auf Wunsch und im Interesse der Reichswehrführung anonym am Zeugentisch »vorbeigeführt« worden war. entscheiden muß. Es hieße, den Mann im Stich lassen  . . .«

Den Fall Bullerjahn kannten alle – aber es war einer von Hunderten oder Tausenden und in dieser Stunde ohne Bedeutung. Ein junger Mensch, der politisch ganz im feindlichen Lager stand, den Braunhemden viel näher als den Demokraten, war unschuldig in die Maschinerie der Justiz geraten. Sein 158 schroffes, gewalttätiges Auftreten hatte ihm Feindschaften zugezogen, er war verdächtigt und wegen »Landesverrats« zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Der Mann war ganz uninteressant, interessant und himmelschreiend war nur das Gerichtsverfahren gewesen, ein Hohn auf jede wirkliche Justiz.

Dieser Bullerjahn hatte sich aus dem Zuchthaus an die Liga für Menschenrechte gewandt, sein Fall war für Büdings leidenschaftlichen Gerechtigkeitssinn, den seine Freunde manchmal Gerechtigkeitswahnsinn nannten, ein Gegenstand des schwersten Kampfes geworden. Himmel und Hölle hatte er in Bewegung gesetzt, falsche Zeugen entlarvt, die höchsten Richter des Reiches befehdet, in hundert Versammlungen gesprochen, in hundert Schriftsätzen und Leitartikeln immer aufs neue die schändliche Prozedur zerfasert, bis er es erreicht hatte, daß Bullerjahn nach sechs Jahren Qual dem Zuchthaus entrissen war. Aber der Mann war nur beurlaubt worden, nicht begnadigt, nicht rehabilitiert – erst jetzt sollte sich entscheiden, ob das Urteil kassiert wurde oder ob er noch einmal sechs grausame Jahre lang unschuldig büßen sollte.

Büding war warm, als er von »seinem« Bullerjahn sprach.

»Wie dieser Mensch vor mir stand, so mißhandelt und doch noch aufrecht! Was das für ein Glück ist, zu wissen, daß man ihm wieder ein bißchen Glauben an die Menschheit gegeben hat! Gerade deshalb, weil er ein unsympathischer Geselle ist, gerade deshalb . . .«

Es war nichts mit Büding anzufangen, man brach auf.

»Du solltest wenigstens bei uns schlafen!« bat Naumann, und Yella drängte sofort:

»Du schläfst oben, in meinem Zimmer, in meinem Bett! Ich leg mich unten auf Väterchens Couch!«

»Wenn wirklich – aber es ist ja absurd, daran zu denken –, wenn mir wirklich eine Gefahr drohen sollte«, widersprach Büding, »dann werde ich sie ganz gewiß nicht auf euch ablenken. Dann such ich mir schon einen Schlupfwinkel, in dem ich niemand anderen gefährde.« 159

»Jetzt bist du wieder hasenherziger als wir«, lachte Naumann. »Wodurch sollten wir in Gefahr kommen? Revolutionen sind unberechenbar – aber daß sie Lustspieldichter und Anekdotenerzähler zu Opfern machten, so etwas habe ich noch nie gehört. Es ist beinahe kränkend für mich, zu empfinden, wie ungefährlich und wie uninteressant ich bin.«

 


 << zurück weiter >>