Balder Olden
Anbruch der Finsternis
Balder Olden

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Achtes Kapitel

Der Gestiefelte Kater empfing Rümelin in seinem Arbeitszimmer, bot ihm einen Stuhl an und saß dann lange Zeit über ein Papier gebeugt, den Zwicker in der zittrigen Hand, ohne zu sprechen. Sein weißer Kopf lag hell im Schein der Studierlampe, er erschien viel älter, eine ganze Stufe weiter ins Greisentum gesunken als tags zuvor. Es war etwas geschehen, was der Alte nicht fassen konnte – manchmal griff er sich mit allen zehn Fingern an die Stirn und massierte seinen Schädel, massierte über die runzligen Augen in den buschigen Schnurrbart hinein, dann kam plötzlich ein schwerer Seufzer aus seiner Brust, von dem er selbst nichts zu wissen schien, und dann kam wieder das dumme, nervöse Hantieren mit dem Augenglas. 76

»Habe an sich meiner gestrigen Entscheidung nichts hinzuzusetzen«, bellte es endlich aus ihm heraus. Die Augen auf den Tisch geheftet, ohne Rümelin, mit dem er sprach, einen Blick zu schenken, gab er seinem Groll und seiner Empörung noch einmal Worte.

»Meine Tochter – wie ein Dienstmädchen – nachts ins Zimmer des Gastes geschlichen. – Entehrt – Verschweinigelt – Gastpflicht verletzt! – Pfui Teufel!«

»Bitte zu verzeihen, Herr Major. Gerda und ich waren schon lange –«

»Kein Einwand – keine Entschuldigung!«

Dann knallten die harten Fingerknöchel des Gestiefelten Katers dröhnend auf die Tischplatte:

»Echt republikanisches Sodom und Gomorrha! Jedenfalls bleibt es dabei – Gerda kommt mir nicht wieder unter die Augen – tritt mir nicht wieder unter die Augen – ehe Sie das Mädel nicht wieder ehrlich gemacht haben! Verstanden? Hoffe, daß Sie mich verstanden haben, Herr!«

Rümelin sprang begeistert auf:

»Dann gestatten Sie also, Herr Major – dann weisen Sie mich nicht mehr zurück? Nehmen mich als Schwiegersohn an? Darf ich gehorsamst Gerdas und meinen innigen Dank aussprechen?«

Der Gestiefelte Kater gab ihm flüchtig die Hand, ließ ihn wieder Platz nehmen.

»Hätte es vor drei Stunden noch für unmöglich gehalten –«, dabei würgte es in seiner Kehle, als preßten ihn Tränen. »Daß ich – einem Nazi – einem Anhänger dieses – Hitler – Hand meiner Tochter geben würde. Hoffe immer noch – aber einstweilen gibt es wenig zu hoffen –. Hoffe immerhin – daß Sie als Ehrenmann – früherer deutscher Offizier, wenn auch unter Ebert – Ehre zu schätzen wissen.«

»Zu Befehl, Herr Major. Werde die Ehre immer zu schätzen wissen. Welche Befehle haben Herr Major noch für mich?«

Der Gestiefelte Kater drückte auf den Klingelknopf, befahl eine Flasche bayrisches Bier. 77

»In keinem Gefecht – nicht in Kalahari-Wüste – war mir Kehle so ausgetrocknet.«

»Zum Wohl, Rümelin!«

»Zum Wohl, Herr Major!«

Hans-Heinz war aufgesprungen, wie im Offizierskasino, wenn ein Vorgesetzter ihm zutrank.

»Bitte sitzen zu bleiben! Danke, Anna, können wegtreten!«

Dann kam, mit Zögern, mit Ächzen und mit grollendem Gebell, der Bericht dieses Tages, soweit Rümelin ihn kennen mußte, um den Umschwung in seiner Lage, dem Hause Reischach gegenüber, zu begreifen.

Schleicher hatte gemeutert, Schleicher, den die konservativen Barone rings um Hindenburg für ihren treuesten Garanten, den Leibwächter ihrer Interessen gehalten hatten! Den sie in ein paar Jahren vom Major zum General, vom General zum Reichskanzler vergrößert hatten. Er war plötzlich aufsässig geworden, so wie deutsche Doggen, die immer gehorsam waren, in einem bestimmten Alter plötzlich den eigenen Herrn anknurren. Er war an ihr Heiligstes gegangen; hatte den Großgrundbesitz bedroht, und damit war eine Panik unter den Säulen der Hindenburgschen Republik ausgebrochen.

»Sie wissen jedenfalls – daß Generalfeldmarschall selbst – ursprünglich vermögensloser Offizier – Großgrundbesitzer ist?«

»Jawohl, Herr Major. Zu seinem achtzigsten Geburtstag hat die deutsche Nation seiner Exzellenz, dem Reichspräsidenten, das Gut Neudeck als Ehrengabe übereignet.«

Es war nicht ganz so, erfuhr Rümelin jetzt, nicht die deutsche Nation, sondern nur die deutsche Industrie hatte Hindenburg auf Betreiben der Junker zum Großgrundbesitzer gemacht.

»Verdammt schlau war das«, stöhnte der Major. »Nur möglicherweise – zu schlau.«

Genaugenommen nicht ihn, sondern der Form nach seinen Sohn und Alleinerben, den fünfzigjährigen Obersten Oskar von Hindenburg, der der Adjutant und allein maßgebende Ratgeber seines Vaters war.

»Für Sechsundachtzigjährigen – Präsidentschaft schwere 78 Bürde. Sehr begreiflich – daß erwachsener Sohn dabei tragen hilft. Immerhin – Posten eines Erbpräsidenten – sozusagen Kronpräsidenten – in Verfassung nicht vorgesehen.«

Aber das Wasser stand ihnen am Hals, die Verzweiflung wuchs mit jeder Sekunde, in der Kamarilla selbst war kein gemeinsamer Entschluß mehr aufzubringen. Da hatten sie den Kopfsprung ins eiskalte Wasser gewagt. Es gab nur einen mächtigen Parteiführer, der zuverlässig korrupt war, Hitler! So hatten sie Hitler ins Palais gerufen und ihn gefragt, ihn, auf dessen Parteiprogramm hoch oben Besiedlung der großen Güter, Verstaatlichung der Bergwerke, Verstaatlichung der Großindustrie stand, ob er bereit sei, all diese Punkte fallen zu lassen, wenn er die Macht bekam.

Er hatte gar nicht gezögert, »selbstverständlich, Exzellenz!« zu sagen.

Ob der Sechsundachtzigjährige gewußt hatte, was er dann unterschrieb? Vor wenigen Wochen erst hatte er dem devot buckelnden »böhmischen Gefreiten« ins Gesicht geschleudert:

»Eid und Pflicht verbieten mir, Ihnen das Amt zu geben. Ich habe die Verfassung beschworen und weiß, daß Sie die Verfassung nicht achten werden!«

Heute verboten Eid und Pflicht es ihm nicht mehr?

»Aber inzwischen hat Hitler ja selbst seinen Eid auf die Verfassung geleistet, Herr Major! Und er muß sie zum zweitenmal beschwören, wenn er das Amt des Reichskanzlers übernimmt.«

»– und hat tausendmal erklärt, daß Wortbruch Handwerkszeug seiner Politik!«

Herr von Reischach wäre der letzte gewesen, der sich in die Bresche stellte, wenn die Verfassung dieser Republik berannt wurde. Er haßte sie wie das Böse, er war Monarchist bis in die Knochen und hatte nie ein Hehl daraus gemacht. Die Junker waren seine Vettern. Aber die Hohenzollern waren seine Gottheit, und noch hatte er nie befürchtet, daß er die Augen schließen würde, ehe wieder ein deutscher Kaiser in all seiner Pracht an der Spitze des Reiches stand! 79

Mit jeder Faser seines Herzens hatte er gerade deshalb die Nationalsozialisten abgelehnt, diese Bolschewiken, die seiner Partei das Wort »national« gestohlen hatten, diese brüllenden Demagogen und Plebejer. Es mochte sein, er glaubte es sogar, daß Hitler noch höher strebte als danach, Hindenburgs Nachfolger zu werden. Der strebte nach einer Bonaparte-Krone, einer Art Volkskaisertum. Man nannte ihn »Wilhelm III.« – in so vielem erinnerte er an Wilhelm II., den Herrn von Reischach als Kaiser verehrt, als Individuum submissest verabscheut hatte. Aber trotz allem und allem: Wilhelm II. war als Sohn eines Kaisers geboren worden, stammte aus dem Blute der Hohenzollern, war von Gottes Gnaden. Dieser Hitler, Sohn des Proletariats, hatte viele seiner Schwächen und nichts von seinem angeborenen Glanz – ihm sich zu beugen, ging gegen die Würde, ging gegen das Blut eines alten Monarchisten.

Trotzdem – in dieser Stunde hieß es, Politiker sein, klaren Kopf behalten! Man mußte Fühlung nehmen. Zu übersehen war Hitler nicht mehr, er hatte die Macht, und es war auch nicht möglich zu rebellieren. Hindenburg hatte die Festung, deren Kommandant er war, ohne Schwertstreich preisgegeben. Nun hieß es, zähneknirschend mit dem Feind paktieren.

»Werde gegebenenfalls Post- oder Eisenbahnministerium in neuem Kabinett übernehmen. Hitler hat Auftrag, eine Reihe wichtiger Portefeuilles mit Deutschnationalen zu besetzen. Unsere letzte Karte im Spiel. Werde mich meiner Pflicht nicht entziehen. Bis zum letzten Atemzug Pflichterfüllung!«

Hans-Heinz Rümelin, sein künftiger Schwiegersohn, der im Lager der Nationalsozialisten einen guten Namen hatte, konnte sein Verbindungsoffizier werden! Deshalb hatte er ihn rufen lassen.

»Erwarte kein doppeltes Spiel von Ihnen – keineswegs – würde Sie selbst nicht achten. Verbindungsoffizier ist älteste Institution im Heer – unentbehrlich zwischen alliierten Armeen. Werden dem Vaterlande – werden Ihrer künftigen Gattin besser dienen – als wenn Sie kopfüber in brauner Flut 80 untergehen! Offizielle Stellung wird sich finden, wenn Ministerien vergeben sind – zugleich soziale Position – Möglichkeit, Familie zu begründen. Bin telefonisch und mündlich jederzeit für Sie zu sprechen, erwarte baldige Entschließung.«

Dann wurde Rümelin mit einem Händedruck verabschiedet.

Ob es möglich war, Gerda heute noch zu sprechen? Ob er es wagen konnte, um diese Stunde noch bei Naumanns anzurufen? Es war sehr spät geworden, beinahe zwei Uhr – sicher schlief man dort längst. Das heißt, Gerda schlief wohl nicht! Sie wußte ja, daß alles auf dem Spiel stand, daß über ihr und sein Schicksal in dieser Stunde entschieden worden war – es war schrecklich, ihr heute keine Nachricht mehr geben zu können.

Rümelin fuhr Gerdas Wagen in die Garage, dann machte er sich auf die Beine, nur um zu laufen, um einen langen gewaltigen Marsch zu tun. In seiner Brust war ein so unbändiges Hochgefühl, wie er es nie im Leben empfunden hatte. Er konnte sich nur vorstellen, daß Krieger nach einer siegreichen Schlacht, Krieger, die auf verlorenem Posten gegen eine überwältigende Mehrheit gefochten hatten, solchen Jubel empfanden.

Nun war sie für Deutschland vorbei, die Zeit der Erniedrigungen! Mit Hitler an der Spitze mußte das Deutsche Reich von der ersten Stunde an wieder gleichgeachtet, gleichberechtigt dastehen unter den Großmächten Europas. Vorbei war die Zeit der Bruderzwiste, der Spaltungen im Kern des Volkes – ein Takt, ein Schritt und Tritt, so würde die Nation jetzt marschieren.

Denn Hitler wußte, wie man dem Volke Arbeit und Brot gibt! – Es war ja nur der schäbige Hunger, der demoralisierende, erbärmliche tägliche Hunger, der Haß der Arbeitslosen und die Angst derer, die noch Arbeit hatten, aber um ihren Lohn zitterten, was in den Deutschen diese Zwietracht gesät hatte, diesen wütenden Haß jedes gegen jeden, den man von allen Gesichtern las.

War Hitlers Weg zu neuem Ruhm und Wohlstand wirklich ein Krieg? Was ging ihn das an, er hatte die Pläne des Führers 81 nicht kritisch zu prüfen, er war Soldat, er hatte zu gehorchen! Mehr als das – was kann ein Soldat anderes wünschen als Krieg? Sie hatten ihn ja erbetet, von Gott erfleht, er und seine jungen Kameraden da unten in der württembergischen Garnison, in der er seine Leutnantsjahre absolviert hatte. Friedenssoldaten – wozu taugt das? Paradieren und strategische Spiele spielen, tage- und nächtelang über kriegswissenschaftlichen Büchern büffeln – das war doch nur Vorbereitung, das konnte nicht der Zweck des Lebens sein . . . Rekruten ausbilden, zu Soldaten machen, die auch nichts anderes mit ihrem Soldatentum anzufangen wußten als Schildwache-Stehen, Patrouille-Gehen und eines Tages ins Zivil abmarschieren, mit ein paar tausend Mark in der Tasche, um Gerichtsvollzieher oder Zigarrenhändler zu werden. – War das Sinn eines Lebens?

Allen gibt er Arbeit und Brot, dachte Rümelin, uns Soldaten aber gibt er Arbeit und Ruhm!

So fegte er mit weiten Schritten die stillen, breiten Großstadtstraßen hinunter, tat nach dem Trommelwirbel seines Herzens einen Gewaltmarsch, wie er ihn so lange nicht mehr getan hatte, er, der Häftling, bestraft wegen Meuterei gegen eine Republik, die unkriegerisch und so verächtlich war, daß sie von ihren Söhnen das beste Opfer nicht nehmen wollte: ihr Blut.

Seltsame Dinge hatte der Gestiefelte Kater gesprochen! Was da im Palais des Reichspräsidenten vor sich ging – im Kreise dieser wenig über hundert, vielleicht weniger als hundert Männer, die zur Zeit allein regierten, die alle Parlamente und Parteien ausgeschaltet hatten und sich rühmten, von den Ohren ihres greisen Herrn jede fremde Stimme fernzuhalten – was sie trieben, schien wirklich ein schäbiger Kuhhandel zu sein! Wenn der Alte so sprach, dann mußte man es glauben, es waren ja seine Magen und Sippen, seine Vettern und Freunde, die dort ein- und ausgingen.

»Es geht mich nichts an!« rief Hans-Heinz Rümelin sich abermals zu, »ich habe nicht zu denken, ich habe zu marschieren! Welchem Zufall Hitler seinen Sieg verdankte – in einem 82 Jahr würde niemand mehr danach fragen! Daß er gesiegt hatte, nur darauf kam es an!«

Und nun stand nichts mehr zwischen ihm selbst und Gerda! Es war noch lange nicht vierundzwanzig Stunden her, seit der alte Baron sie beide mit Schimpf und Schande aus dem Hause gejagt hatte, auf die Straße hinaus, an der schluchzenden Mutter, dem fassungslosen Bruder vorbei. Gestern noch ein Vagabund in den Augen des grimmigen Tyrannen, heute nacht schon sein Alliierter und morgen der hochwillkommene Eidam!

Machen Sie sich nichts draus, alter Herr, dachte er, das ist so im Krieg – auf und ab, Sieg oder Niederlage. Wenn man nur ein guter Soldat ist.

Aber trotzdem – er fühlte, daß sein Blut triumphierend loderte. Gottlob, er war noch lange nicht zu Hause, er hatte noch viele, viele Kilometer zu marschieren. Wenn er sich nicht mit diesen starken, schnellen Beinen austoben konnte, dann hätte er laut brüllen müssen vor Glück.

Viktoria! Viktoria!

In den Straßen des Westens war nur noch wenig Leben gewesen, leise Musik hinter den Fenstern bunt beleuchteter Bars, vor denen großgewachsene, muskulöse Türhüter standen, aber nur selten ein Wagen hielt. Die letzten armen, bemalten, durchfrorenen, in dieser späten Stunde schon fast hoffnungslosen Straßenmädchen hatten ihm zugeflüstert: »Komm mit, Baron!« oder »Bei mir ist es schön warm. Wie wär's mit einem Plauderstündchen?« Dann waren auch sie verschwunden, die innere Stadt war so tot wie ein Dorf um Mitternacht. Viel Polizei stand, blankgeputzt, wachsam und wohlgenährt, an den Straßenecken, alle Fenster waren dunkel, nur da und dort wurde am Pflaster gearbeitet, oder ein paar Elektrizitätsarbeiter flickten bei Azetylenlampen an irgendeiner Leitung herum.

Erst in der gewaltig breiten, für den ungeheuren Verkehr einer Hauptschlagader Berlins gebauten Prenzlauer Allee bekam Rümelin zu spüren, daß hinter den Kulissen dieser schlafenden Stadt ein schleichender, böser, unerbittlich geführter Bürgerkrieg wütet. 83

Ganz plötzlich hörte er in seinem Rücken gellende Hupensignale, dann wurde das Pflaster vor ihm taghell von riesigen Scheinwerfern, zwei Überfallwagen brausten an ihm vorbei. Er starrte sie an – er fand, dies Ganze war wie Traum oder Spuk, dies blendende Licht, diese grellen Signale, dies lautlose Hinhuschen einer rollenden Festung. Maschinengewehre waren an Bord, auf jedem Wagen saßen, ausgerichtet wie auf dem Kasernenhof, den Karabiner in der Hand, den Sturmriemen umgeschnallt, in blauen Uniformen und Tschakos sechzehn Polizisten, sechzehn Gladiatoren des Bürgerkriegs, und man sah es ihren eisernen Gesichtern an, daß vor ihnen ein Kampf lag.

Der Kampfplatz konnte nicht fern sein, jetzt schrillten auch ihm entgegen, schrillten von rechts und links die Polizeihupen – auf einem Punkt, der nicht tausend Meter vor ihm lag, blendeten von allen Seiten zugleich die phantastischen Scheinwerfer der Überfallwagen. Dort wurde geschossen, ein paar gräßliche Schreie zerfetzten die Nachtruhe, Kommandos dröhnten.

Gleich darauf stürmten in rasender Flucht ein paar dunkle Gestalten Rümelin entgegen, keuchend, in Todespanik. Sie trugen keine braunen Hemden, kein Hakenkreuz am Arm – er wußte schon von weitem, das war Rotfront oder Reichsbanner, das war der Feind!

Es zuckte von Kampfgeist durch seinen jungen Körper, einen, mindestens zwei von ihnen konnte er jetzt zur Strecke bringen. Um einen oder zwei Gegner konnte er die feindliche Heeresmacht schwächen, nur mit seiner Faust, nur mit ein paar unerwarteten, furchtbaren Hieben.

Dann fiel ihm ein:

Die sind ja gar nicht mehr, die sind ja schon geschlagen, und wenn sie wüßten, was heute geschehen ist, hätten sie keinen Arm mehr gehoben. Ob sie als Kommunisten oder als Gewerkschafter gerauft hatten, gegen die Nazis, gegen das Bürgertum oder einer gegen den anderen – schon heute abend war das gleichgültig, war all dies nächtliche Toben ohne 84 Belang. Morgen entfaltete Hitler seine Fahne, und dann war Ruhe im Land!

Die Burschen waren an ihm vorbeigejagt, weiße Gesichter mit lodernden Augen, hinter sich ließen sie dunkle Blutspuren wie schweißendes Wild. Mochten sie sich in Sicherheit bringen, ihre Wunden von schweigsamen Parteiärzten zupflastern, von der Zeit ausheilen lassen, auf sie kam es nicht an. Oh, im Gegenteil, bald würden sie in die Reihen eintreten, um unter Hitlers Kommando, Kameraden derer, mit denen sie heute gekämpft hatten, in der neuen Front zu stehen.

Als Rümelin den Kampfplatz erreichte, war die Arbeit der Polizei fast schon getan. Dreißig oder vierzig von ihnen hatten einen Platz umstellt, die übrigen hatten in diesem zernierten Rayon binnen weniger Minuten ihre Arbeit getan. Schon waren die Wagen in fahrende Kerker verwandelt, eben flogen im Schwung die letzten Gefangenen hinein, krachten mit dem Kinn oder mit den Knien auf die harten Planken auf und blieben liegen wie totes Reisig. Einer, ein schmaler Bursche in blauem Hemd, der das Abzeichen des Reichsbanners trug, dem das Blut aus einer schweren Wunde über die Stirn lief, schien wahnsinnig geworden, leistete waffenlos dem waffenstarrenden Feinde Widerstand.

»Ihr Schufte!« rief er, »ihr Schweine, Bluthunde! Bluthunde! Blaue Kosaken!«

Ein Polizist packte von hinten zu und drehte ihm den Arm aus dem Gelenk.

»Mama!« schrie der Junge, daß es jedem, der diesen Schrei hörte, das Herz zerreißen mußte. »Erbarmen! Erbarmen!«

Es fuhr ihm noch ein Schlag in die Zähne, eine Faust oder ein Gummiknüppel, daß das Blut spritzte, dann sauste sein magerer Körper wie im Hechtsprung durch die Luft, dann kam aus dem Wagen, in dem er krachend gelandet war, nur noch dünnes Winseln.

Ein paar Tote oder Schwerverwundete wurden auf Bahren gelegt, die Bahren, wie Kommißbrote in den Backofen, in ein Sanitätsauto geschoben. Dann sprangen die Posten mit 85 geübten Sätzen auf ihre Wagen zurück, es hupte abermals, die Chauffeure gaben Gas, der Spuk war vorbei.

Blutlachen lagen noch auf dem Pflaster, wie Kugellöcher gähnten Türen und Fenster einer kleinen Destille, in die das Licht der Straßenlaternen dürftig hineinblinzelte. In den Auslagen war kein Scherben Glas mehr, zerschmetterte Möbel, zerschlagenes Geschirr lag auf dem Boden, es stank nach Bier und Schnaps und Blut, das in Strömen über die Trümmer geflossen war.

Zwei Braunhemden schlichen, als die Polizeiwagen verschwunden waren, aus einer dunklen Nebenstraße, um hier Posten zu stehen. Zwei ungefüge Riesen mit roten Augen und kampfverzerrten Totschlägergesichtern. Sie sahen so furchtbar aus, mehr Kampfmaschinen als Menschen, daß selbst Rümelin Widerwillen empfand, obwohl es Soldaten seiner Armee waren.

»Ein rotes Rattenloch weniger«, hörte er den einen im Vorübergehen sagen, und der andere gurgelte, als hätte er die Kehle voll Gift:

»Rotfront verrecke! Heil Hitler!«

 

Als Rümelin in die Gasse einbog, in der sein Bett bei der Waschfrau Schniedecke stand, löste sich aus dem Dunkel erschreckend plötzlich eine Gestalt und sprang ihn an. Es schien ein Überfall, aber dann war es nur der Kellnerbursche Karl, der auf den Zimmerherrn gewartet hatte.

»In so einer Nacht ist es besser, man kommt zu zweit nach Hause, Herr Leutnant«, sagte er. »So nach zwölfen ist es nicht mehr geheuer. Aber wer die richtige Nase hat, der spürt schon von weitem, wo die Luft dick ist. Für den Augenblick können wir ruhig passieren.«

Im Weitergehen erzählte er leise:

»Da drüben, schräg vor unserer Haustür, da haben sie heute abend um elfen einen umgelegt, einen gewissen Glubinski. Bis gestern war der bei Rotfront, ein tüchtiger Kerl. Heute morgen ist er zur SA übergelaufen, hat schon das neue Parteibuch 86 gehabt. Steht da drüben im braunen Hemd, mit noch zwei oder drei anderen, und denkt sich gar nichts. Ein Motorrad kommt mit sechzig Kilometer vorbeigesaust, ein Kerl vorn, einer im Soziussitz, peng, peng, zweimal knallt es. Zwei Volltreffer! Im Sechzig-Kilometer-Tempo, Herr Leutnant! Glubinski ist erledigt.«

 


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