Hermann Oeser
Des Herrn Archemoros Gedanken über Irrende, Suchende und Selbstgewisse
Hermann Oeser

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21.
Der Zerstreute.

Steht die Blutbuche noch? –

– Ja, sie steht noch zur Freude jedes Besuchers des botanischen Gartens.

– Steht auch noch der Heidenturm, um den die Dohlen flatterten und krächzten?

– Ja, gewiß.

Auf der Bank unter der Blutbuche saß ich mit dem hochverehrten Lehrer, als ich ihn zum letztenmale sah. Ich fühlte mich hochgeehrt, als er mich bei meinem Gruße erkannte, mich anredete und mich neben ihm niedersitzen hieß. Sein Gesicht hatte gerade den Ausdruck, von dem man in halbzärtlichem Scherze im Kreise seiner jugendlichen Verehrer behauptete, er sei nur zu sehen, wenn er »am Zeitalter litte«. Er litt zuweilen wirklich am Zeitalter. Dann seufzte er tief, nahm die Brille ab und legte die Hand fest auf die Augen. Nun, Sie haben das ja auch beobachtet.

– Gewiß! War er auch zu Ihrer Zeit schon so zerstreut?

– O, davon wußten wir hundert Geschichten, die ihn uns nur noch lieber machen.

154 – Ich muß Ihnen etwas von ihm erzählen, das wirklich alles übertrifft. Es war drei Jahre vor seinem Tode, im Februar 1880. Er stand in seiner Vorlesung über die Kulturströmungen des achtzehnten Jahrhunderts bei Lessing, seinem Liebling. Er begeisterte uns alle, weil er selbst begeistert war: Licht entzündet sich nur an Licht, um ihn selbst zu zitieren. Wir näherten uns eben Lessings Streit mit Göze und Nathan dem Weisen.

Hospitanten kamen in Menge, der Lehrsaal war überfüllt. Als er an jenem Tage, es war der 15. Februar, um ein Viertel nach drei Uhr eintrat, er las von drei bis vier Uhr, wurde ihm ehrfurchtsvoll Platz gemacht. Man sah, er war sehr zerstreut, oder besser, tief in seine Gedanken hineingezogen, er hatte die Hände auf dem Rücken, den Hut in den Händen. Dieser entglitt ihm, er wurde rasch von vielen Händen aufgehoben. Er drehte sich mitten auf seinem Wege nach den dienstwilligen Studenten mit gütigem Lächeln um, verneigte sich freundlich und ging dann rasch zum Katheder.

Da und dort wurde noch eilig ein Tintenfäßchen aufgedreht, Federn gerichtet, Blätter sorgsam mit einem Rande versehen: die akademische Jugend war bereit, gegen Melchior Göze in das Feld zu ziehen. Der Vortrag begann:

In dem letzten Vortrage habe ich Ihnen von Lessings Leben in Wolfenbüttel, von dem so wahren und kurzen häuslichen Glück des redlichsten Mannes und liebenswürdigsten Herzens erzählt.

Hier hielt er inne, es war uns überraschend, denn er 155 sprach fließend und schlicht; sein Blick suchte durch das Fenster die kleine im Stile des Pavillons des vorigen Jahrhunderts erbaute freundliche Wohnung des Universitätsgärtners, die nahe bei dem Universitätsgebäude lag; dann sah er über die schweigende Schar seiner Zuhörer hin und fuhr fort:

Ich habe Ihnen nun heute darzustellen, wie ihm die leidenschaftlich werdende Fehde mit den Dogmatikern der Aufklärung eine Aufgabe stellte, an der er erfuhr, daß das persönliche Leid sich vergessen muß, wenn es gilt, der Krankheit der Zeit zu steuern.

Mit Betrübnis hatte er gesehen, wie das innere Leben der Menschen gefälscht wurde, weil wie eine starre Eisdecke der Bann der Aufklärung auf der fröhlichen Welt des Gemütes lag. Vergewaltigung des Gemütes durch beharrliche Grenzüberschreitungen des Verstandes war ein Zeichen der Zeit, die trotzdem sich selbst mit Stolz »das Zeitalter des Liberalismus« nannte. Die Menschen hatten Angst, sich lächerlich zu machen, ja sie waren sich selbst lächerlich, wenn sie der Wissenschaft zum Trotze sich zu Christus, dem Sünderfreunde, hingezogen fühlten und von Stellen Eindruck erfuhren, die die Wissenschaft als »eingeschoben« nachgewiesen hatte.

Ihre Gelehrten riefen in die aufgeregte Gemeinde der Zeit hinein: »Ihr stützt eure Hoffnung auf die Seligkeit, euren Glauben auf jene Stelle des Apostels? Wartet noch ein wenig! Jene Stelle ist wahrscheinlich unecht. Es gilt manchem sogar als fest erwiesen, daß sie aus dem vierten Jahrhundert n. Chr. stammt und nichts 156 als eine Polemik gegen gewisse kleinasiatische Strömungen enthält. Vorsicht! Geduld! Stützt euch lieber einstweilen auf jenen andern Vers, er scheint völlig einwandfrei!«

Lessing sah mit Zorn, wie die »Seelsorger« den Kampf gegen den Aberglauben, gegen die Teufels- und Dämonenvorstellungen kämpften, wie sie nachwiesen, daß auch Mohammed nicht ohne Religion und Buddha ein frommer Mann gewesen sei – während sie hätten sorgen sollen, nicht um die Meinung, die Peter und Martin von Mohammed und Buddha etwa hätten, sondern um die Seelennot Peters und Martins.

In anderen Jahrhunderten hatte die Orthodoxie die freie Entfaltung und subjektive Gestaltung des religiösen Lebens verhindert, in Lessings Zeitalter verschob der »Verein für Rettung der evangelischen Freiheit« und seine Leute – –

Schon lange hatte die Mehrzahl der Zuhörer die Feder hingelegt, viele erstaunt, manche beunruhigt, einige ergötzt, und unter diesen hatte einer, ein besonders Aufgeklärter, wiederholt die Augen von Befreundeten gesucht, zum Teil deren Aufmerksamkeit durch leises Husten oder ein kurzes Scharren mit dem Fuße auf sich zu ziehen gewußt, um dann die Schultern zu zucken und ironisch-amüsiert zu lächeln.

Endlich schrieb nur noch ein Student mit dem Eifer nach, der ihn seit neun Semestern seinen Lehrern so sehr empfohlen hatte, der rechtschaffene Johannes Stein, dessen einziger oder doch jedenfalls größter Kummer es 157 war, wenn ihm ein Satz der Rede in seiner Nachschrift entgangen war. Erinnern Sie sich seiner?

– Ach ja, des Stein, oder des Steinchen, wie wir den kleinen, breitschultrigen Kommilitonen nannten, erinnere ich mich aus meinem letzten Semester sehr wohl. Wie manchmal kam er abends, um mein Heft zu vergleichen und ihm gewissenhaft das zu entnehmen, was es etwa mehr enthielt als seine Niederschrift.

– Eifrig kritzelte die Feder des redlichen Johannes über das Papier. Von dem allem merkte der Professor nichts; das innere Auge so leuchtend als das äußere und auf seinen Gegenstand fest gerichtet, fuhr er fort: – verschob der »Verein für Rettung der evangelischen Freiheit« und seine Leute völlig den Schwerpunkt des religiös angeregten persönlichen Lebens. Indem dieser seinen Freunden das Gewissen für die gesamte äußere Wahrheit der historischen Außenseite des Christentums schärfte, entwöhnte er sie, auf sich selbst ängstlich, sorgenvoll reuig und sehnsüchtig acht zu haben; seine Freunde verehrten so innig das zeitlich Richtige, daß sie keine Zeit fanden, das ewige Wahre zu erkennen und festzuhalten. Auch sie bedauerten die Trennung der Gemüter durch den Parteistreit der Zeit, auch sie versicherten oft und entschieden, sie wollten Frieden und nichts als Frieden, und zu diesem Zwecke behandelten sie, sobald es zu mündlichen oder schriftlichen Gesprächen kam, das Trennende und nicht das Verbindende, als ob man einen Graben, der die Nachbarn trennt, dadurch trocken lege, daß man Wasser aus zwanzig Röhren 158 hineinlaufen lasse, um zuvor darzutun, daß das Wasser das Trennende sei.

O, wie ungütig waren ihre Prediger und Redner gegen die Hungernden. Wenn deren eine große Anzahl sich versammelt hatte, um gespeist zu werden, dann trat wohl ein Redner mit der Bibel unter dem Arme auf und sagte: Hier ist ein Brot, ein schönes, großes Brot, mit ihm will ich euch nun sättigen. Ich weiß, zum Sattwerden wollt ihr manches wissen. Dies Brot wiegt vier Pfund, zu seiner Herstellung, verwandte man Mehl, Wasser, Sauerteig und Salz; über seinen Nährwert beruhigt uns erst eine gewissenhafte chemische Analyse; dieses Brot besteht aus elf und einem halben Prozent Wasser, aus beinahe sieben und einem halben Prozent eiweißartigen Stoffen, dreizehn und einem halben Prozent Dextrin und löslicher Stärke, ferner aus zwei und einem halben Prozent Zucker, und einem respektablen Anteil Stärke. Hört und staunt, meine Teuren, dies Brot hat über vierundsechzig Prozent Stärke! Daneben verschwindet der Fettgehalt so gut wie ganz, er erreicht nicht einmal einen Prozent. Es gibt Weißbrot und Schwarzbrot, die Toren begehren Weißbrot, kräftigere Naturen wählen allein Schwarzbrot. Ich selbst kann nur das Schwarzbrot empfehlen, das der Bäcker Schneidig aus Mehl gebacken hat, das drunten in der Talmühle aus dem Getreide gemahlen worden ist, das der Herr Schulze auf seinem Erbacker gezogen hat. – Ein Teil der Hungernden war über dieser Rede vor Erschöpfung eingeschlafen, ein Teil 159 hoffte noch auf die Austeilung des Brotes, aber dem Redner war über seiner Auseinandersetzung eingefallen, daß er noch nie danach gefragt habe, wer zuerst das Vorhandensein von Dextrin im Brote nachgewiesen habe, und es drängte ihn, das zu Hause sogleich festzustellen. Er eilte deshalb aus der Versammlung fort und nahm in der Zerstreuung das »Brot« wieder mit –

Kaum hatte der Herr Professor diesen Satz ausgesprochen, so erhob sich jener Aufgeklärte mit großem Geräusch unter den Zeichen offenkundiger Entrüstung und verließ den Saal, mit ihm noch andere Studierende, namentlich einige Theologen.

Der Professor erwachte wie aus einem Traume und sagte mit herzgewinnendem Lächeln: Nicht wahr, es hat schon lange geläutet, und ich habe es überhört? Entschuldigen Sie freundlichst! Damit verbeugte er sich und verließ den Saal.

Nun, sagen Sie, wie reimen Sie sich das?!

– Ich sehe genau, wie das ward! Es war der 15. Februar, Lessings Todestag; indem er sich den Vortrag des Nachmittags innerlich zurecht legt, beschäftigt ihn die Frage, wessen Gegner Lessing heute sein müsse, und dieser Gedanke geht mit ihm die Treppe hinab, durch die Straßen bis zur Universität, und läßt ihn vergessen, daß Lessing im achtzehnten Jahrhundert gelebt hat. Er hatte erkannt, daß Lessing nicht die Orthodoxie als solche bekämpfen wollte, sondern jedes Hemmnis, das der subjektiven Religion im Wege stand.

160 – Sie haben recht. Ich erinnere mich, daß er einmal sagte: Der Liberalismus hat auf Lessing abonniert. Die große Menge weiß so gut wie gar nicht, was eigentlich Lessing bekämpfte. Wie sollten sie staunen, wenn Lessing heute käme!

– Es war ein verehrungswürdiger Mann, und wir wollen ihm treu bleiben. 161

 


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