Hermann Oeser
Des Herrn Archemoros Gedanken über Irrende, Suchende und Selbstgewisse
Hermann Oeser

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2.
Gesindeordnung der Diener Gottes

1. Du sollst leben, als ob du stürbest.

2. Du sollst noch andere Götter haben neben dir.

3. Du sollst keinen Nudelteig ausrollen.

Wenn du ein Gefühl hast, so hege es still, denn ein echtes Gefühl ist selten, sehr selten; sprich nicht darüber; mache es nicht wie die Verunehrer des Heiligen in ihrer Brust, die im Augenblicke, wo sie etwas erleben, wo sie etwas fühlen, schon die zwanzig Menschen vor sich sehen, denen sie es erzählen müssen, jedem einzeln. Gehe nicht mit deinem inneren Erleben hausieren. Begehe nicht die Indiskretion gegen dein Inneres, die gefährlichste aller Indiskretionen.

4. Du sollst nicht Bogen laufen.

Du siehst im Winter junge Männer mit stolz verschränkten Armen und mit studierter Achtlosigkeit durch Bogenlaufen auf dem Eise um den Beifall des großen anonymen Publikums ringen. Du Gotteskind tue das 12 nicht. Vielleicht ist dir die große Gabe geworden, mit dem volkstümlichen Worte dir das Zutrauen der Mißtrauischsten aller Mißtrauischen, der heruntergekommensten und stumpfgewordenen Armen, zu gewinnen; erzähle nicht, wie du es machst, wenn du den Freunden berichtest, die deine Gabe nicht besitzen. Und wenn du ein Pfarrherr bist und ein schönes Organ besitzest, spiele dies Instrument nicht als Virtuose; wenn die leichtgläubigen Frauen bewundernd in Scharen kommen und die Männer ganz wegbleiben, so erschrick und erkenne, daß du Bogen gelaufen hast.

5. Du sollst dir nicht selbst zum Mythus werden.

Sonst tötest du den Christen in dir. Du sollst nicht wissen, wie du unter den Menschen erscheinst, du sollst keine Vorstellung von dir haben. Du sollst nicht von dir sagen: »Na seht, Kinder, so ist der alte Dekan.« »Ja, wenn ihr den Alten nicht hättet!« »Es gibt Fragen, da kann das junge Volk, da kann die Synode, da kann die Gemeinde den Stilling doch nicht entbehren.« Du sollst dir, um deiner Vorstellung von dir selbst zu genügen, nicht die Haare zu »ehrwürdiger« Länge wachsen lassen. Du sollst nicht leise sprechen. Du sollst dir kein spanisches Rohr mit silbernem Knopf kaufen, um die äußere Erscheinung zu vollenden.

6. Du sollst dich nicht selbst kopieren.

Diese Verunehrung des Heiligen in dir ruht darauf, daß du gesehen hast, wie einmal eine Äußerung von 13 dir, deine Handbewegung, eine Handlung von dir »einschlug«. Wisse, daß nur der Blinde tausend verschiedene Wege zum Guten sieht.

7. Du sollst dich nicht selbst in Versuchung führen.

Darum vermeide einen trotzigen und für ein gereiftes Urteil überflüssigen Bruch mit der Welt; weißt du denn, ob du für diesen unnützen Streit mit der Welt Kräfte genug hast? Wirf dich nicht in auffallende Kleider. Sei nicht so einfach in deiner Kleidung, daß dir diese Einfachheit selbst immer bewußt bleibt. – »Bekenne« nicht, wo Liebe oder Menschenkenntnis dich schweigen heißen sollen.

8. Du sollst dich nicht eins hinaufsetzen.

Es gibt eine Art, von sich zu erzählen, es gibt eine Art, sich zu demütigen, es gibt eine Art, von andern zu reden, durch die man »eins hinaufkommt«. Du verstehst mich. Tue das nicht!

9.Du sollst kein Mäntelchen umhängen.

Du hast z. B. ein schlechtes Buch gelesen: entschuldige dich nicht mit dem sonoren Wort, es habe dich eine dunkle Gewalt gezogen. – Du warst starrsinnig, ganz einfach starrsinnig: sage nicht, Konsequenz gehe dir über alles. – Du warst, wenn auch in verborgenem Zorne, hart gegen dein Kind: sage nicht: wer sein Kind lieb hat, der züchtiget es. – Du warst schwach: sage 14 nicht, dich selbst gutmütig absolvierend: wir stammen eben alle von Adam ab.

10. Du sollst dir kein zweites Motiv bewußt machen.

Das erste Motiv kennt jeder, es ist so oft recht harmlos, und man gibt es ohne weiteres preis. Aber das zweite, das hinter dem ersten verborgen liegt, wie die Zeigerfigur hinter der Schießscheibe, von dessen Gegenwart und verfälschender Wirksamkeit die wenigsten wissen, das ist unser heimlicher Feind. Achte doch darauf, wenn du wieder eine einflußreiche Persönlichkeit mit besonderer Ehrerbietung grüßest. Stutze doch nur ein wenig, wenn du am ersten Neujahrstag nach der Pensionierung deines Vorgesetzten, dem du so oft deine bleibende Verehrung und Dankbarkeit brieflich zu erkennen gegeben hast, ganz naiv die Zusendung der Neujahrskarte unterlässest, weil du mit keinem Gedanken daran dachtest. Es fragt dich jemand um Rat, und du erteilst ihn rasch und gern; merkst du denn gar nicht, daß die Befolgung deines Ratschlages dir übermorgen, in fünf Monaten, in zwanzig Jahren einen Vorteil einbringen wird?

O das zweite Motiv! Es ist in dem Nußkern, aus dem dir der Baum erwächst, der zwar unsichtbare, aber gerade erst das Leben verleihende innere Kern.

11. Du sollst nicht bandeln!

Du weißt nicht, was das ist? Hast du denn nie Billard oder Kegel gespielt?

15 Wenn ein Kegelspieler einen einzelstehenden Kegel zu Fall bringen will, so kann er die Kugel in gerader Linie auf ihr Ziel zurollen lassen, das ist schwer, oder er kann, wenn der Kegel etwas rechts steht, die Kugel zunächst an dem linken Seitenrande oder »Bande« der Kegelbahn anschlagen lassen, damit sie abprallt und nach rechts gegen den alleinstehenden Kegel herüberrollt. Das ist leichter.

Jetzt weißt du, was für den Kegler »bandeln« ist; nun will ich dir sagen, wie du bandelst. Du bist ein entschiedener Parteimann, eine »Kraft« in deiner Partei; du treibst, du agitierst. In deiner Stadt ist aber ein einflußreicher Mann, er hat Geld, er hat Ansehen, er ist beredt, seine Feder ist brauchbar, ihr zählet ihn gern zu den eurigen, er steht euch fern, aber er wäre zu gewinnen. Geradewegs zu ihm hinzugehen und ihm offen sagen: »Tritt zu uns herüber, wir schätzen dich«, das ist außergewöhnlich und ist schwer; den einzelnen Kegel direkt nehmen, das ist ja schwer, du erinnerst dich. Da besinnst du dich, ob du nicht ein hervorragendes Interesse von ihm kennst, ein Interesse, das mit einer Parteifache gar nichts zu tun hat, und es fällt dir eines ein, und du schlägst nun an dieses »Band« an. Er ist mildtätig, du kommst mit einer Sammelliste, führst dich ein, plauderst mit dem Manne, er findet dich nicht übel, und er zeichnet eine beträchtliche Summe; er will gleich bezahlen, aber du bittest »um der Ordnung willen« damit zu warten, bis der Sammler kommt. Du gehst befriedigt weg, nach vier Wochen schickst du den Sammler, 16 auch einen scharmanten Mann, nebenbei auch zu deiner Partei gehörig. Nach acht Wochen erlaubst du dir, jenen einflußreichen Mann zur Teilnahme an einem Komitee von Männern aller Richtungen einzuladen, in dem allerdings fast nur Leute deiner Partei vertreten sind und anstandshalber zwei, drei von anderer Färbung. Nun hast du den still Umworbenen in die Gesellschaft deiner Freunde gebracht, du gewöhnst ihn an diesen Verkehr und führst ihn zu Konsequenzen, die ihm am Ende zeigen, daß er unmerklich in die Anschauungen und den geschlossenen Rahmen deiner Partei hineingeglitten ist.

Siehe, so bandelst du.

12. Du sollst nicht anzizipieren.

Du erinnerst dich, wie dir, als du jung und enthusiastisch philosophische Vorlesungen besuchtest, »das Ding an sich« so schwer zu begreifen fiel, und wie froh du mit deinen Nachbarn warst, als dir zugestanden wurde, daß man das Ding wenigstens an seinen Merkmalen körperlich und geistig zu Gesicht bekommen kann. Später fandest du dann, daß auch die unphilosophische Welt die Sache zu haben glaubt, wenn sie sich in den Besitz der Merkmale gesetzt hat. Und endlich teiltest du den hier eingeschossenen Irrtum. Zum Beispiel ein Ding an sich, die Wahrhaftigkeit, hat oft zum Merkmal eine etwas unbequeme und formlose Offenheit; da wurdest du grob und glaubtest mit diesem Merkmal im Besitz der Sache zu sein. Du sahest, die wahre 17 Frömmigkeit ist oft stille, sie spart am Worte, das ruhige Wort der Frommen hat den gesänftigten, beruhigten Rhythmus, den auch die Seele hat; du nun begehrtest die Sache, das Ding an sich, die Frömmigkeit, und da sprachst du leise, sprachst so langsam, gingst nicht mehr, sondern wandeltest. O du Tor, warum gabst du dein gutes teures Geld für ein Kolleg aus, wenn du nicht gelernt hast, daß die Folge später ist als die Ursache!

13. Du sollst kein Wermutsauger sein.

Denn wenn du glaubst, daß in allem Ursache zur Trostlosigkeit stecke, so bist du blind und dumm, und wenn du glaubst, Gott habe just dir den Lebenstornister mit den schwersten Sandsäcken gefüllt, so bist du eitel.

14. Du sollst dich nicht selbst preisgeben.

Du hast den göttlichen Auftrag, eine Persönlichkeit zu sein. Wäre es anders und solltest du in eine breite Masse demütig-gestaltlos zerfließen, so hätte dich der Herr in dem Protoplasmabrei gelassen, zu dem dich die würdelose Unsicherheit deines irregeleiteten Selbstgefühls zurücktreibt.

15. Du sollst nicht das Spalier begießen.

Du hast doch ein Konversationslexikon? Schlage dort unter der Überschrift »Spalierobst« nach, so wirst du finden, daß man edle Stein- und Kernobstsorten, statt sie dem freien Wachstum zu überlassen, am Spalier 18 und dadurch in einer festen und einfachen Form ihrer Bäume ziehen kann. Zu dieser Spalierzucht muß auch der geistige Mensch zuweilen greifen, und gerade die Selbsterziehung ernster und sich zu bändigen leidenschaftlich bemühter Naturen richtet Spaliere auf, um das innere Wachstum zu einer vorbestimmten Richtung zu nötigen. Nur begießt der Gärtner dabei gar leicht das Spalier und nicht den Boden, in dem die Wurzel ruht. Das Spalier, an dem du den sittlichen Willen deines Kindes erziehst, ist der Gehorsam; im Gehorsam wirkt deine reife Einsicht, da das Kind noch keine Erfahrung hat. Wenn du aber nicht Gehorsam und Einsicht zu verbinden lehrst, so begießest du in der Forderung des blinden Gehorsams eben nur das Spalier. Das Spalier, an dem die Frömmigkeit sich emporrankt, ist unter anderem der Kirchenbesuch; wer sich darin nicht genug tun kann, begießt doch auch nur das Spalier. Das Tagebuch, wie es namentlich im Gewissen beunruhigte jugendliche Selbstquäler als ethisch-religiöse Konduitenliste führen, läuft fast immer auf ein unnützes Spalierbegießen hinaus. Auch die Privatbeichte, für deren Wiedereinführung du schon so manchmal nachdrücklich gesprochen hast, wird sich nur als ein Spalier erweisen. Was denn anderes ist es, wenn du darauf bestehst, daß am Schlusse des Karfreitagsgottesdienstes drei Liederverse gesungen werden, um damit an die Dreieinigkeit zu erinnern! O, pflege die Wurzeln deines und des fremden Innenlebens, es könnte sonst geschehen, daß sie abstürben, obgleich du die heißen 19 Sommertage lang Wasser um Wasser trügest und sprengtest.

16. Du sollst keinen Superlativ gebrauchen.

Als Gott die Sprache schuf, schuf der Teufel den Superlativ, und in ihm gewann der Vater der Lüge seinen zuverlässigsten Diener. Um einen Superlativ zu retten, den du, wirklich nur dem Dämon des Hinredens achtlos folgend, gebraucht hast, gibst du deine Seele preis.

17. Du sollst nicht improvisieren.

Du bist freundlichen Gemüts, ich weiß es. Weil du so bist, hast du die Vorstellung, du müssest die Menschen vergnügt machen, du müssest einen Gast »unterhalten«, einen Tischnachbar nicht langweilen. Da wartest du nicht, bis man mit dir spricht, sondern du mühst dich innerlich ab, das zu finden, was deinem Gegenüber Freude macht. Du armer Samariter, ich sehe, wie schwer du dich schädigst! Du redest über dies und jenes, woran dir nichts liegt, du sprichst in deiner Sorge um die Stimmung deines Nachbars unwesentliche Worte, und das fühlst du, indem du sprichst, dein Herz wird krank in dir und mit jedem neuen Gerede aus deinem Munde kränker, aber dein Mund lächelt und erzählt Neuigkeiten und spricht von Büchern, von Romanen, von Theateraufführungen – nun sage mir, du armer Märtyrer einer leidvollen Improvisation, ist das ruhige Zuwarten oder das Wortemachen das, was dir deine Seele rettet?! Du hast keine gute 20 Meinung von Pythagoras, vom pythagoreischen Lehrsatz her, aber du tust ihm unrecht. Sieh, dieser Mann hat das Leid der Worte besser gekannt als wir beide; er hat gesagt: »Lieber sterben als reden!«

18. Du sollst nicht immer eine Meinung haben.

Es ist »gebildet«, nach einer Musikaufführung sich mit einem »reifen Urteil« äußern zu können; es ist »gebildet«, sich einem neuen Schauspiel oder einem neuen Schauspieler gegenüber nicht durch Enthusiasmus zu blamieren – denn man könnte ja sich recht irren –; es ist »gebildet«, die Schönheit einer Landschaft nach der Rückkehr von einem Ausfluge im Teekränzchen katalogisieren zu können: ja gewiß, darin sind wir einig, es ist »gebildet«, immer etwas sagen zu können, – aber ich sage dir, das Gleich eine Meinung Haben ist eine der sieben Todsünden gegen die Stille, Tiefe, Kraft, Reinheit und Unschuld des Gefühls.

19. Du sollst nicht Schnee schöpfen.

Nun sei einmal ehrlich! Wie viele Freunde hast du, wie viele Bekannte? Du besinnst dich! Das ist recht! – – – Zwei Freunde, vielleicht drei, – – zwanzig Bekannte. – Ich merke es an deinem Tone, du weißt, was das heißt »ein Freund«! Und doch hast du dreißig Lieblingsbücher und liesest alle Neuheiten, um auf der Höhe zu bleiben, und siehst Sonntags, wenn du in die Bildergalerie gehst, alle Bilder an und spielst, um nicht einseitig zu werden, nicht bloß 21 Bach, nicht bloß Mozart? Was baute aber von alledem deine innere Welt, was ging so in deine Persönlichkeit über, daß diese nicht ohne jenes zu denken ist? Hast du nicht Schnee geschöpft, statt deiner Seele Bausteine zuzuführen? O, liebe innig ein paar Bücher, ein paar Gemälde, einen Komponisten, sei »einseitig«, »schreit« lieber »nicht fort«, aber sei treu. Kennst du Novalis? Er hat gesagt:

Das Alte wird hintangestellt:
Was soll uns denn das Neue?

20. Du sollst dich nicht wegschwemmen lassen.

Auf zehntausend Individuen kommen zehn Individualitäten. Die Individualität prägt aus eigenem Metall die Doppelkronen und die Scheidemünze, die sie ausgibt. Die Individuen aber, das liebe, gedankenlose Völkchen, schnappen geradezu nach einem Individualitätsersatz. Das eine Mal ist's der Anfang einer Arie, der wie eine Epidemie hereinbricht, daß der Offizier wie der Schusterjunge summt, singt und pfeift »Herzliebchen mein unterm Rebendach«; das andere Mal ist's eine geistesarme Redensart wie: »Mensch ärgere dich nicht!« oder »Schwamm drüber!« das drittemal ist es das Schlagwort einer Partei. Kein stolzer Mensch und kein Christ, den der Psalmist gewarnt hat, daß er nicht sein Leben wie ein Geschwätz vorübergehen lasse, läßt sich durch die Albernheit des Zeitalters weg- und mitschwemmen. 22

21. Du sollst kein Pflästerchen schmieren.

Es gibt eine Wahrhaftigkeit, die auf Gefühllosigkeit ruht; diese tut weh: eine, die auf Mangel an Menschenkenntnis ruht, diese betrübt den Betroffenen. Ich hoffe, keine dieser Wahrhaftigkeiten ist diejenige, die du pflegst. Die rechte Wahrhaftigkeit erhält ihr Wort diktiert von der Einsicht in die pädagogische Wirksamkeit des rechten Wortes, vom Mitgefühl für die Wirkung, die die unbarmherzige, wahrhaftige Wahrheit auf den Betroffenen ausübt, und von inniger Liebe, die nur wehe tut, um zu heilen. Zu dieser Wahrhaftigkeit entscheide dich noch heute, gleich jetzt, und entsage dem Pflästerchenschmieren, mit dem du seither verzichtetest, ein wahrer Freund, Erzieher, Arzt und Seelsorger zu sein. Ist denn »recht nett« die Antwort, die du einem verfehlten Versuche gegenüber haben darfst? Schweigen darfst du; aber wenn du redest, dann muß dein Wort auferbauend und nicht einlullend sein. Warte nur, mein Freund, was du am jüngsten Tage erleben wirst, wie da irdische Handlungen, die der Oberlandesgerichtspräsident als »Verbrechen« bezeichnen mußte, kaum beachtet werden, wie aber deine »recht nett«, »ganz leidlich«, »nicht übel«, »gar kein schlechter Anfang« so tief die Wagschale deines Gerichtes hinabziehen werden!

22. Du sollst ein guter Leiter sein.

Erinnerst du dich noch jener Physikstunde, du warst Sekundaner, es war Dezember, knapp vor den 23 Weihnachtsferien, in der dein Lehrer dich aufforderte, an den Ofen zu gehen und das Türchen zu öffnen? Du warst dienstwillig und gingst rasch und auch wegen der Auszeichnung durch den Auftrag erfreut an den Ofen und griffst herzhaft den eisernen Knopf der Ofentüre mit ungeschützter Hand an, statt das Tuch, einen rot umnähten Teppichrest, zu benützen, das am Gestell recht nahe hing, und zogst dann rasch die schmerzende Hand zurück und holtest dir nun unter der Fröhlichkeit der Klasse den »Schoner«. Da hattest du einen unbequemen, aber doch vorzüglichen Anschauungsunterricht über die Eigenschaft des Metalls, ein guter Wärmeleiter zu sein. Hätte der Pedell den Holzring, der den eisernen Türknopf ursprünglich umkleidete, wieder herstellen lassen, so wärest du um eine wesentliche Erfahrung ärmer geblieben. Wie nun, wenn auch dein Wesen, die ganze Anlage, die dir Gott gegeben hat, ein rechter »Leiter« ist? Draußen in der Welt, in der großen Esse, in der die Menschen geschmiedet werden, ist so viel Wärme des Gefühles, so viel Glut großer und guter, böser und verderbender Leidenschaften, so viel Jammer, so viel Sehnsucht: nun denke dir ein Herz, das in ein Wesen eingeschlossen ist, das kein guter, das ein schlechter Leiter ist, dies Herz wird von allem Brande, der in anderen Menschenleben brennt, nichts, gar nichts merken! Wer ein schlechter Leiter ist, geht durch das Menschengewühl mit jener schweigenden Ruhe, mit der der Stocktaube langsam durch den Lärm des Marktes schreitet. Du armer Mann, der du ein schlechter »Leiter« bist! 24

23. Du sollst keine Spitalsuppe sein.

Eine magere, wasserhelle, kraftlose Brühe und ein paar klagende Fettaugen, angerichtet und dargereicht von gleichgültiger oder ungütiger Gesinnung, so war vor Zeiten die Spitalsuppe. Solche Suppen sind verschwunden, aber die Spitalsuppengesichter sind geblieben. Sei nicht wie eine solche Spitalsuppe, wenn dein Kind vor dem Gast eine lang einstudierte Sonate recht mangelhaft vorträgt; sei nicht wie eine Spitalsuppe, wenn die Jugend um dich herum objektlos melancholisch oder allzu enthusiastisch oder renommistisch ist; sei nicht wie eine Spitalsuppe, wenn es sich »leider« herausstellt, daß du »wieder einmal Recht gehabt« hast.

24.

Gott aber wolle Herrn Archemoros und seinen Freunden verleihen, daß nach ihrem Tode ein frommer Mund spreche:

Selig sind, die da geistlich arm sind,
Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen. 25

 


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