Hermann Oeser
Des Herrn Archemoros Gedanken über Irrende, Suchende und Selbstgewisse
Hermann Oeser

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15.
Pietà

Zu Rom steht ein steinernes Haus.

Zweimal sah ich dort den lebendigen Gott.

Das erstemal war es mitten im Gedränge des Ostermorgens. Die Sänger sangen, die Priester hielten ein Hochamt, die tausend Fremden drängten sich und wogten, – ein brandendes Meer von Schritten und Sängerstimmen und Priesterworten, das an den hohen Säulen und in der mächtigen Kuppel emportoste und zusammenschlug: da sah ich den lebendigen Gott.

Denn inmitten von Menschen, modisch oder priesterlich gekleideten Menschen, kniete ein Geängsteter und Geschlagener. Als ich ihn sah, wußte ich, wie ein Gottrufer aussieht,

und ich zerknüllte um dieses Einen, in Qualen betenden Mannes willen das Blatt, das ich vorhin mit diesen Worten beschrieben hatte:

»Was an Frömmigkeit sichtbar wird, ist meistens Sünde, denn gewiß – die Sünde nimmt wunderliche 93 Formen an, bei dem einen als Dieberei, bei dem andern als Lüge, ja, merke es wohl und erschrick, bei dem dritten als Frömmigkeit. O, schwer geschlagenes Menschenvolk.«

Wo hatte ich denn Frömmigkeit gesehen, die mir Gott allein war, wie dieser Gequälte inmitten des großen Stelldicheins? Frömmigkeit, die ihrer nicht inne war? die nicht verglich? die nicht sprach? die schwieg, ohne es zu wissen, daß sie schwieg? die ohne Bekehrungslust war, ohne Angriffsbedürfnis?

Und in demselben steinernen Hause sah ich noch einmal den lebendigen Gott.

Hinter Vorhängen hatten sie seither das marmorne Werk des Florentiners verborgen, aber an dem Tage, den sie den »Tag des Herrn« nennen, stand es enthüllt da, – Maria mit dem toten Sohne, eine arme Mutter, die ihr Kind dahingegeben hat und deren Seele schwer und stumm leidet. Dieses Werk sprach zu mir im Namen des Höchsten:

Ich bin nicht gekommen zu »trösten«. Was ihr trösten nennt, damit meint ihr das Schwere euch abnehmen, Religion aber tröstet nicht. Wo man glaubt, sie tröste, hat man keine Religion. Religion lehrt Leid, Schmerz, Last und Überlast als ein Gottglaubender annehmen, aber sie macht sie nicht einmal leicht, sie tröstet nicht. Wer Liebstes hergibt und ergeben sagt – sie nennen es ergeben, ich nenne es herzlos – »der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobt«, der war getröstet, ehe 94 er verlor, er hatte kein Herz, das zerrissen werden konnte. Religion tröstet nicht, Gott tröstet nicht, er leitet dich an, das Kreuz auf dich zu nehmen. Religion tröstet nicht, sie haßt vielmehr die tröstbaren Seelen und nennt sie flach. Religion tröstet nicht, denn sie ehrt im Menschenherzen das Menschliche. Religion liebt das blutende Herz, das zitternde, das trostlose. Religion weint mit ihm.

Und so ging der Beter ungetröstet hinaus aus dem großen, steinernen Raume, vorüber an Michelangelos Beweinung, hinab die vielen Stufen vor dem Hause und Gott schritt an seiner Seite. 95

 


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