Hermann Oeser
Des Herrn Archemoros Gedanken über Irrende, Suchende und Selbstgewisse
Hermann Oeser

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20.
Der Weiterschieber.

Der Pfarrgarten lag unmittelbar an den Feldern der reichen Dorfgemarkung. Es gab Fenster am Pfarrhause, von denen aus man kaum einen Dachgiebel des Dorfes, sondern nur den großen Garten, die wogenden Felder, und links die dunkle Linie eines hohen, dem Rücken der Hügelwellen folgenden Buchenwaldes sah. In diese Hügel war das stattliche Pfarrdorf hineingebettet. Rechts über einer langen Reihe von Obstbäumen hin erblickte man die Türme einer großen Stadt.

Es war ein freundlicher Sommernachmittag.

In der großen Laube, deren Rückwand von Hagebuchen gebildet war und deren Seitenwände aus Stangen bestanden, die wilder Hopfen und eben reich blühende Feuerbohnen umrankten, saß der Herr Pfarrer und die Frau Pfarrerin, jedes mit einer Arbeit beschäftigt. Die Pfarrfrau saß nicht um ihrer Ruhe willen da, es galt ihr mehr, die Arbeit ihres Mannes vor Unterbrechungen zu schützen; sie selbst wurde öfters abgerufen, sei es, daß Arme sie in Anspruch nahmen oder eine 147 Bäurin sich Rats zu erholen kam oder ihr Jüngster einen Käfer brachte, den er im Garten oder draußen auf der angrenzenden Wiese gefunden hatte, und den nun die immer bereite Mutter in einem Spiritusglase unterbringen mußte, das hinter ihrem Stuhle im Bohnenlaube verborgen stand.

Der Pfarrherr merkt von diesem stillen Kommen und Gehen und gedämpften Sprechen nichts. Er hatte einen »guten Mittag«. Er stand vor der Niederschrift eines Gedankenganges, der eine schwierige Frage in ihren Gliedern wohl ordnen, ihr den vollkommensten Ausdruck und eine überraschende Lösung geben sollte. Die Gedanken folgten sich so stetig und rollten so gleichmäßig und entschlossen dahin, wie ein Strom, in dem nichts drängt und doch alles lebendig abwärts flutet; kein Klang der Außenwelt traf ihn, auch nicht, wenn seine gute Frau dann und wann einmal eine Mitteilung halb an ihn, halb an sich selbst richtete: Der Rechner, Vater! – der Ortsrechner war gerade am Pfarrgarten vorübergegangen und hatte nach der Laube hin respektvoll gegrüßt –: Wir haben Ostwind, man hört die Domglocken aus der Stadt; – der Herr Pfarrer vernahm nichts; er schrieb, er sah angespannt nachdenkend in die Luft, er blätterte die zahllosen, kleinen, alle gleichgeschnittenen Zettel seiner »Materialsammlung« durch, las einzelne aus, deren Inhalt nun im Verlaufe der Ausführung in Frage kam, und legte sie so um sich her, daß das Auge sie aufsuchen konnte, ohne daß die Hand dabei nötig war; kam ein rascher Hauch des 148 Ostwindes durch die Bäume des Gartens und wehte in die gelehrte Stille der Laube hinein, dann rettete die besorgte Pfarrfrau gerade diese wichtigsten Zettel, indem sie auf den einen rasch den Fingerhut stellte, auf den andern die Schere, für einen dritten löste sie die Brosche, einen blauen Anker in silberner Fassung, ein Patengeschenk, von dem Kleide, und endlich mußten Steinchen vom Boden der Laube helfen.

Ja, der Herr Pfarrer war ein gelehrter Mann, auch ein guter Mann; »er ist recht«, sagten seine Bauern von ihm, aber mehr, weil er sie gehen ließ, als weil er sich ihrer angenommen hätte. Es lag zuweilen ein schwermütiger, oft ein verdrossener Zug auf ihm, doch dieser seltener, seitdem sein dringender und oft wiederholter Wunsch, von seiner Stelle droben im Gebirge erlöst und in die Stadt oder doch in ihre Nähe versetzt zu werden, erfüllt worden war. Ein Katheder wäre ihm lieber gewesen als die Kanzel. Auf seinem Gesichte hatte eine redliche und ernste Gedankenarbeit jene Linien gezogen, wie sie nur der Gedanke zieht; es lag nicht in dem Auge jener mütterliche Blick, der die Not sucht, wie die Mutter und die verirrten Kindlein, und nicht der Blick, der dem im Gemüte schwer Erkrankten sagt: Laßt mich mit dir weinen, denn ich bin dein Bruder, auch ich kenne die Sünde, darum kann ich dich trösten. Aber »er war recht«.

Nun aber kam eine Unterbrechung, die auch den Herrn Pfarrer zum Aufmerken zwang.

In der einen Ecke des Pfarrgartens, auf einem 149 künstlichen, von Immergrün überzogenen Hügel lag eine zweite Laube. Es war eigentlich keine Laube, sondern ein prächtiger Sitz unter einem uralten, mächtig ausladenden Haselnußbaume, der seine Zweige zum Ärger der Pfarrkinder bis tief hinab über den schmalen Pfad, der zwischen dem Pfarrgarten und den Feldern hinlief, niedersenkte. Dieses Plätzchen gehörte den Kindern, vermutlich weil es das schönste war und weil es einen Blick in die Außenwelt gestattete. Hier saß nun die sechzehnjährige Tochter des Pfarrers und setzte einen Aufsatz für die »Selekta« auf, deren Schülerin sie war. Neben ihr saß ihr Bruder Ernst, Student im ersten Semester und klüger als die ganze Familie zusammengenommen. Er war infolge davon im Augenblick gänzlich unbeschäftigt, hatte sich aber doch herbeigelassen, sich das Aufsatzkonzept von der Schwester vorlesen zu lassen.

Diese erschien nun klagend vor den Eltern, der Ernst habe gesagt, sie habe einen Gedanken gestohlen und doch sei die ganze Arbeit ihr Eigentum. Auch der Bruder kam, mit einer Gerte an die Stiefel schlagend, und wiederholte die Anklage. Der Pfarrherr sah auf, hörte zu und lächelte. Dann stellte er zunächst fest, worüber Mariechen zu schreiben habe. Ein Sonnenuntergang in der Heimat, sagte diese schluchzend. Wie hast du das nun angefangen, forschte der Vater weiter, während die Mutter das Töchterchen tröstete. Ich dachte, ich stünde droben auf dem Heisterkopf und sähe das Dorf und sähe die Bauern heimkommen und sähe die Stadt. – 150 Hier gewannen die Tränen wieder die Oberhand, und Ernst nahm das Konzept und las zornig-nachdrücklich folgende Stelle vor: Hinter den Türmen der Universitätsstadt, hinter dem Rauchschleier, den tausend Schornsteine weben, geht die Sonne blutigrot unter, wie ein sterbender Held niedersinkend. Den sterbenden Helden hat sie aus den »Räubern«, das lasse ich mir nicht nehmen! Darauf kommt sie nicht! Darauf kommt sie ihre Lebtage nicht. – Neues Schluchzen, noch leidenschaftlicher als zuvor, und neue leidenschaftliche Versicherung, daß sie niemand gefragt, kein Buch benutzt, daß sie die »Räuber« noch nie gelesen habe, daß ihr jetzt die ganze Freude am Aufsatze genommen sei. Bei allem, was ich sage, heißt es gleich: Darauf bist du doch nicht gekommen! Das ist gewiß wieder so ein Einfall von der Maxi. – Ernst hat in der Tat eine hohe Meinung von Maximiliane, der Tochter des Herrn Rentamtmanns, und hat sich um ihretwillen ein Pincenez angeschafft. – Ernst, schäme dich! sagte der Vater und versank wieder in seine Zettel, die Mutter aber legte ihren Arm um die Taille der Tochter und geleitete sie langsam zu ihrem Haselnußbänkchen zurück.

Als sie dann eine Weile später wieder eintrat, sah der Gelehrte von neuem auf, legte die Feder hin und sagte nach einem Augenblicke schweigenden Besinnens: Der Streit der Kinder erinnerte mich an Erichs letzten Besuch. Denkst du noch daran, wie er uns gerade hier in unserer Hütte mit Eifer auseinandersetzte, daß der Plan zu dem berühmten Rechtsabmarsch des deutschen 151 Heeres, durch den der Tag von Sedan möglich wurde, nicht das Verdienst Moltkes, sondern des Generals Blumenthal gewesen sei, Moltke werde ganz über Verdienst geschätzt? Die Frau Pfarrerin bestätigte es, und dann fuhr der Pfarrherr nach einer Weile, in der er still gesonnen hatte, fort: Ich möchte solche Leute »Weiterschieber« nennen, sie schieben das Problem gleichsam um eine Station zurück und meinen es damit gelöst zu haben, übersehen aber, daß nun von neuem sich die Frage erhebt: Wie kam aber dieser dazu? Sie schieben es einem dritten zu, der nicht ertragen kann, daß Blumenthal den genialen Gedanken gehabt haben soll. Es ist der Kampf gegen das Ursprüngliche im Gemüte des einzelnen, fuhr er stockend fort, indem seine Augen den Händen seiner Frau folgten. Die Frau Pfarrerin rettete nämlich eben einige Zettel vor dem Davonflattern, indem sie Strickstöcke zur Belastung sorgfältig hierhin und dorthin legte.

Darüber kehrten die Gedanken des Gelehrten zu seiner Arbeit zurück, und bald war die Welt versunken, in der er wie ein Gast für Augenblicke eingekehrt war. Die Feder flog mit kräftiger, entschiedener Schrift über die Blätter der voranschreitenden Abhandlung, in der der gründliche Forscher zu beweisen suchte, daß wesentliche Lehren und Anschauungen Jesu von Nazareth den Anschauungen der Essäer entnommen seien; auch Pythagoras oder doch pythagoreische Gedankenelemente, die der Hauch der unruhig bewegten Zeit wie fliegende Pflanzensamen weithin verbreitet habe, seien für Jesu 152 innere Welt entscheidend geworden; ja – und daran stand der Ehrendoktor der nahen Universität gerade eben – es seien Verbindungsglieder wohl denkbar, durch welche persische, möglicherweise auch indische Ideen an Jesus hätten übermittelt werden können.

Die Feder schrieb, die Wange rötete sich, und die fromme Pfarrfrau hütete den Arbeitstag ihres Mannes. 153

 


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