Hermann Oeser
Des Herrn Archemoros Gedanken über Irrende, Suchende und Selbstgewisse
Hermann Oeser

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11.
Barometrische Studien.

Im August 1873 wohnte ich einige Zeit in dem Hotel »Zur Post« in Airolo. Ich empfehle es euch, es ist gut. Aber davon wollte ich nicht reden. Es war eine große und lebhafte Fremdenkolonie in dem Gasthofe vereinigt: Mailänder Juristen und Geldleute mit ihren Familien, und einige norddeutsche Familien. Justizräte, Professoren und Geistliche, Männer, Frauen, erwachsene Töchter und Knaben; die erwachsenen Söhne waren auf Fußwanderungen im Harz, im Schwarzwald, in Tirol. Außerdem war ein Junggeselle da aus Halle oder Aschersleben oder Roßla, ein hübscher, langer, schwarzer Mensch, vergnügt und immer zu allem aufgelegt. Die Landsleute riefen ihn, wenn er nötig schien, und ließen ihn gehen, wenn man seiner nicht bedurfte; er nahm das alles als selbstverständlich und mit Heiterkeit hin.

Ich sah seinem Wesen und Treiben zu und dachte, er belustige sich innerlich über uns. Es fragte ihn einer, womit er sich beschäftige, wenn er für sich sei. Mit barometrischen Studien, war seine flinke Antwort. Ich 55 glaubte ihm das nicht, denn während die anderen kein gutes Gewissen hatten, wenn sie nicht zwischen Frühstück und Mittagbrot tausend Fuß in die Höhe geklommen waren, so trieb er sich bald da, bald dort im Tale oder auf der Gotthardstraße herum, saß auf einem Felsen, sonnte sich und las, und wenn abends die Abenteuer des Tages mit scheinbarer Gleichgültigkeit oder mit Pathos oder mit Sommerfrischlergeschrei berichtet wurden, so lächelte er gutmütig, verschmitzt und still ergötzt in sich hinein.

Auf seinen kleinen Wanderungen – denn große unternahm er in der Tat nie – begleitete ihn öfters der Sohn eines deutschen Professors. Man sah, daß er den Knaben sehr lieb gewonnen hatte; er fuhr ihm manchmal mit der Hand über das braune, schwer zu scheitelnde Haar; wenn er durch Airolo mit ihm ging, hatte er ihn an der Hand gefaßt und er jagte wie ein Schulkamerad mit ihm an den Bergseiten hinauf. Das ist ein Glückskind, sagte er manchmal mit fröhlichen Augen zu mir; der Junge heißt Gisbert Felseneck; nur daß er Gisbert heißt, das macht ihm das Leben zu einem Freudenspiel! »Ihm ist, ehe er es lebte, das volle Leben gerechnet; ehe er die Mühe bestand, hat er die Charis erlangt!« Wenn er später einmal in einem fremden Hause seine Karte hineinsendet, dann wenden sich ihm geistig schon Köpfe und Herzen zu, lange, ehe er eingetreten ist. Wenn er seine Karte auf der Straße verliert, so denkt der Finder: Das muß ein vornehmer Mann sein. Bewerbe ich mich um eine Stelle, und 56 meldet mich der Kanzleidiener an: Herr Peter Hutzler, so sagt der Bureauchef: Der Mann soll warten, und eine Stunde später nimmt er mich zwischen Tür und Angel an. Peter ist Stehplatz, Gisbert ist erster Rang. Das sagte er so heiter hin, daß ich ganz vergaß, daß er Peter hieß.

Aber durch Gisbert erfuhr doch die ganze Gesellschaft, daß der »lange Fremde« Peter heiße, und es ward sofort im Benehmen merklich; man ward noch unbequemer im Verkehre mit ihm und erzählte noch lauter und noch lachender als früher, wenn er wieder einmal den Mut gehabt hatte, seinen Tag ganz anders zu verleben als alle andern.

Er machte in der Tat barometrische Studien, offenbar seit Jahren.

Plötzlich aber, wirklich ganz mit einem Schlage, veränderte sich der Ton, in dem man mit Herrn Peter sprach. Kam er morgens zum Frühstück herunter, wurde ihm hie und da ein Platz am Frühstückstisch angeboten, andere rückten wenigstens, um ihm Platz zu machen, und schoben einen Stuhl mit stummer Beredsamkeit zurecht; bei Tisch hörte ich, wie der Herr Wirkliche Geheimrat verbindlich fragte: Nehmen Sie noch an einer Flasche Barletta teil? Damen riefen in hohem und bestrebt naivem Tone: Sie sind doch mit von der Partie? Herr Peter hatte nämlich drei Tage vorher einem Gespräche überaus aufmerksam zugehört, in dem der Herr Superintendent a. D., der Herr Justizrat und der Herr Obersteuerkommissär sich über den Wert eines 57 eigenen Hauses unterhalten und seufzend geschlossen hatten: Ach, wenn es uns doch noch so gut würde, daß wir wenigstens ein kleines Haus erwerben könnten. Herr Peter, der bis dahin völlig geschwiegen hatte, äußerte harmlos: Ich besitze drei Häuser. Sofort merkte der Obersteuerkommissär, daß Herr Peter eigentlich nicht ganz im Kreise der anderen hatte sitzen können, und rückte höflich etwas nach rechts; der Herr Superintendent goß Herrn Peter in sein Glas auf, obgleich dieser noch kaum einen Zug aus dem vorhin gefüllten Glase getan hatte; der Herr Justizrat wurde nachdenklich.

Dann vergingen acht Tage. Nach Umlauf dieser Zeit nahm der Herr Justizrat, er war mit vier Töchtern zur Kur in Airolo, Herrn Peter mittags nach Tisch vertraulich zur Seite und sagte: Junger Freund, ich nehme wirklich rechten Anteil an Ihnen. Wie kommen Sie mit der Verwaltung eines so großen Besitzes zurecht? Was sind das für Häuser? In der Stadt? Oder ein Gütchen draußen?

Herr Peter antwortete freundlich: Ja, es sind drei Häuser: eine Gedankenmühle, ein Schweighäuschen und ein Gotteshaus.

Der lange Peter geht nicht mit, sagte eine halbe Stunde später des Herrn Justizrats jüngste Tochter zu einer Freundin, die sie seit acht Tagen kannte und seit sieben Tagen mit Du anredete.

Herr Peter Hutzler aber setzte seine barometrischen Studien fort. 58

 


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