Hermann Oeser
Des Herrn Archemoros Gedanken über Irrende, Suchende und Selbstgewisse
Hermann Oeser

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12.
Wie Herr Philippus entdeckt, daß Ludwig zweifarbige Augen hat.

Ich habe bis zum dreiundzwanzigsten Jahre Ausstand! hatte er lässig gesagt und die Sache damit abgetan geglaubt.

Wenn man jünger ist, erträgt man es leichter, war die schüchterne Erwiderung der Mutter gewesen. Du hast es auch dann hinter dir.

Jetzt kann ich mich unmöglich unterbrechen – hatte Philippus erregt geantwortet, und die sanfte Mutter hatte es zugelassen, daß er sich nicht unterbrach.

Er war damals achtzehn Jahre alt gewesen, hatte eben das Gymnasium mit Ehren verlassen und sehnte sich danach, die weiten Räume der geistigen Welt zu betreten und nach allen Seiten hin durch zu schreiten. Er wollte die sechs Bände der ersten Ausgabe des Goethe-Schillerschen Briefwechsels lesen –, ein alter Verwandter besaß sie und wollte sie ihm leihen –; es drängte ihn, Spinozas Ethik kennen zu lernen; auf einem 59 »Agendazettel« stand seit anderthalb Jahren: »Vischers Ästhetik, fünf Bände, Reutlingen und Leipzig«; und einige Ausrufungszeichen von verschiedener Größe und in verschiedener Tinte zeigten, daß er mehreremal wehmütig oder selbstanklagend sich diese Vormerkung in das Gedächtnis zurückgerufen hatte; er wollte Philosophie »treiben« und dabei ordnungsmäßig vorgehen und deshalb die Logik als Türe wählen, durch die ein feierlicher Eintritt geschehe; ehrfürchtig und verlangend hoffte er in die Sozialwissenschaft eindringen zu können, – sein von ihm so sehr verehrter Geschichtslehrer hatte noch in seiner letzten Unterrichtsstunde nebenbei hingeworfen, jene sei die Wissenschaft der Zukunft – – –

und wenn er nun erst Einjähriger werden sollte, dann sprang eine weite Kluft in seinem Leben auf, jenseits deren all das Erkennen, Wissen und Fortschreiten lag und unwiederbringlich verschwand, dem er sich entgegensehnte.

Aber er hatte bis zum dreiundzwanzigsten Jahre Ausstand.

Und so studierte er denn fünf Jahre, eifrig, nach allen Seiten hin ausgreifend, von diesem zu jenem eilend, er errang eine weite Bildung, er ward ein gelehrter Student und hörte sich auch gern so bezeichnen. Ein fröhlicher Student aber war er nicht, und wenn trotzdem der seltene Gast in seinem Kreise wohlgelitten war, so rührte das von der Feinheit seines Wesens her; er war eine vergeistigte Erscheinung. Etwas kühl! sagten Beobachter, die nicht tiefer blickten. Wenn das 60 sein frommer Vater wüßte! sagten bedauernd alte Freunde des Verstorbenen, wenn sie hörten, daß Herr Philippus ein Freidenker geworden sei.

Nach fünf Jahren bestand Herr Philippus seine Prüfung so, wie er und alle, die ihn kannten, das erwartet hatten. Er legte die Hand auf das Universitätsszepter, um dann von dem Universitätspedellen als dem ersten »Herr Doktor« angeredet zu werden, und alsdann begaben sich Herr Dr. Philippus und sein Freund Ludwig – sie kannten und liebten einander seit den Kinderjahren – zu dem Regimentsadjutanten, um sich die Kompagnie nennen zu lassen, der sie beide zugeteilt seien.

Der Dienst entfremdete ihn nicht den Büchern, und erst die Manöver nötigten ihn aus den Geleisen heraus, in denen er seit dem Jahre, in dem er Obersekundaner geworden war, sich bewegt hatte.

Zu aller Freude wurden die Übungen am Rande und in den Eingängen des Gebirges abgehalten, und hier beherbergte eine kleine, gastliche Bergstadt das Bataillon der beiden Freunde. Eine große, schon lange vorher und dann noch länger nachher besprochene Gefechtsübung, in der es sich um die Verteidigung eines Gebirgspasses handelte, wies dem Bataillon die Aufgabe zu, vor dem Gebirgsrande Wache zu halten und die Richtung zu erspähen, in der der feindliche Anmarsch erfolgte, und auch Herr Philippus erhielt seinen Anteil an dieser Aufgabe. Über dem Städtchen stieg ein trotziger Berg empor, dunkle Tannenwälder und kleine 61 Bestände von Laubland umkleideten ihn, in der oberen Hälfte aber baute sich der Berg zum Teil aus steilen und hohen Felswänden und Abstürzen auf. Von hier aus, am oberen Rande dieser Felsen, ließ sich ein Pfad in einem großen Teile seiner Windungen überschauen, in denen er aus einem Seitental den Berg hinanstieg, während er oberhalb der Felsen eine kurze Strecke hoch über dem Städtchen aus dem Walde hinaustrat, um einen weiten Blick in die Kamine, Dachfenster und Gäßchen der altertümlichen Stadt zu gewähren und dann auf der anderen Seite des Berges in das innere Gebirgsland zu führen. Hier erhielt Philippus seinen Standort als der äußerste Wachtposten; andere waren da und dort verteilt mit ähnlichen Aufgaben.

Unmittelbar vor ihm stand eine niedere Felsmauer, die ihn schützte und der fremden Beobachtung entzog; hinter ihm stieg eine freie, kleine Halde herauf; vor ihm lag das weite Land. Als der Unteroffizier ihm diesen Platz bestimmt und ihn unterwiesen hatte, und die letzten Schritte des sich Entfernenden verhallt waren, überkam Herrn Philippus eine große Freude. Er war allein, voraussichtlich für Stunden allein und unbelästigt, denn man hatte mit Recht angenommen, daß der »Feind« ganz andere Wege suchen werde. Nun konnte er ungestört und gesammelt nachdenken, er hatte die Besprechung eines gelehrten Werkes für eine kritische Zeitschrift zugesagt, und dafür konnte er sich in voller Muße seinen Gedankengang zurechtlegen und zurechtspitzen, wie er das liebte.

62 Er sah den Pfad hinunter, ob nicht ein Störenfried komme, er sah nach dem nächsten, ziemlich entfernten Posten aus und schlug dann innerlich das gelehrte Buch auf und legte in angemessenen Zwischenräumen in seinem geschulten Geiste die Blätter des Buches bedächtig um, wie sein inneres Auge im Inhalt voranschritt. Die Zeit ging leise mit und drehte still, um den Denker nicht zu stören, an dem Schatten der Bäume, um auch ihn nach und nach sorglich auf die andere Seite herumzulegen, und ein duftiges, kühles Flüstern ging über die Halme und über die Wipfel und schwebte und hauchte lautlos dahin, damit es Herrn Philippus nicht störe, der eben einen fein erwogenen Übergang in seiner Ausarbeitung in ein schönes, zurückhaltendes Deutsch kleidete. Da fuhr er auf, er hatte die leise, zitternde, hauchende und blühende Stille um sich her irgendwie vernommen. Richtig, da saß eine kleine Eidechse auf der Felsmauer vor ihm und wedelte mit dem Schwänzchen und blinzelte und spielte mit dem Zünglein und huschte dann fort, als hätte sie etwas zu besorgen vergessen, das ihr gerade eben einfiel. Herr Philippus hatte das Tierchen erstaunt angesehen, und darüber hatte er bemerkt, daß die Halde hinter ihm dicht mit hohen, silberglänzenden Gräsern bedeckt war, und daß diese eben in sanften Wellen schwankten, und daß diese Wellen wie in leichtem Atem nach ihm hin sich bewegten. Inmitten der Halme standen da und dort prächtige Fingerhutstauden, rotblühend. Und nun flatterten große, lichtbraun gefärbte Schmetterlinge in unruhigem Fluge über das Gräsermeer und 63 ließen sich auf den Stauden nieder. Philippus sah mit Aufmerksamkeit dem Kommen und Gehen, dem Schweben und Niederlassen, dem Flügelspannen und -schließen der schönen Falter zu, er hoffte, daß sie auch einmal zu ihm hinflatterten, ja er sehnte sich danach, aber sie schwebten dahin und dorthin und entfernten sich neckisch und genossen die durchwärmte Luft.

Es ward warm. Philippus merkte es, aber es störte ihn nicht. Er war in dem Kapitel stehen geblieben, in dem der Verfasser die Ansichten seiner Vorgänger mit einem höflichen Worte für die Person der Vorgänger und einem sehr unhöflichen Worte gegen deren Meinungen abtat, aber er fand sich nicht mehr zurecht, es zitterte da nämlich etwas über dem Felsen, das zog ihn ab. Es war ihm neu. Sollte sehr verdünnter Rauch aus den Tiefen der Wälder, etwa von einem Holzhauerfeuerchen, bis zu dieser Höhe heraufgestiegen sein? Aber es zitterte überall. Es mußte die Luft über den heißen Steinwänden sein. Er hatte noch nie von dieser Erscheinung gehört, aber sie war schön und geheimnisvoll, es war ein Sichtbarwerden des Unsichtbaren. Philippus sah vorsichtig über den Felsen hinab, weil er hoffte, daß dieser zitternde Schleier auch die steilen Abhänge umwebe; da allerdings sah er ihn nicht mehr, aber er sah auf herrliche Baumwipfel herunter, es waren alte Rotbuchen mit Bergahorn untermischt; er glaubte nicht, je ein so vollkommen schönes und dichtes grünes und in starkem Schattenwechsel spielendes Gewoge mächtiger Blättermassen gesehen zu haben.

64 Da empfand er einen Schmerz in seiner Seele, indem er so die Schönheit des Waldes vor Augen hatte. Er hatte sich ein Buch vor zwei Jahren hingelegt, um es in stiller Stunde zu lesen, ein Buch der Sehnsucht, in dem die Seele die Flügel ausbreiten konnte wie der Falter, der eben über die Felsen hinaus schwebte in die freie, blaue Luft. Aber er war nicht zum Lesen gekommen. Eben damals war ihm die außerordentliche Ehre widerfahren, daß ein von ihm hochverehrter Mann ihn für eine bestimmte Seite der Wissenschaft zur Mitarbeit an jener Zeitschrift eingeladen hatte. Mit heißen Wangen hatte er damals zugesagt und jugendlich genug hinzugefügt, er glaube, den vierzig bis fünfzig Erscheinungen, die erfahrungsgemäß das Jahr in diesem Fache bringe, gerecht werden zu können. Da hatte jener ernst zu ihm gesagt: Junger Mann, wer liest zehn Bücher in einem Jahr? Damals war er nur flüchtig betroffen gewesen, aber eben ward es ihm zu einer peinlichen Erinnerung. Was hatte er gelesen? Wie oft hatte er sein Herz ausgeruht und sein inneres Fühlen, Glauben und Schauen ausgeweitet?

Fernes Gewehrfeuer rief ihn aus seinem Sinnen auf. Wie war die Zeit vergangen! Er blickte nach dem nächsten Posten aus: er sah an der rechten Stelle etwas blinken, vielleicht einen Uniformsknopf, vielleicht den Feldkessel. So war es gut. Wenn nur das Sammlungssignal noch recht lange ausblieb. Sein Blick ging hinaus in das Land. Im Licht des Morgens hatte das Vorland wie eine Ebene ausgesehen; nun, da die 65 Sonne andere Schatten warf, erkannte Philippus flache Talzüge und niedere Hügelwellen, die wie breite, grüne Furchen von dem Gebirg hinauszogen. In ihnen hoben sich in der besseren Beleuchtung weitschattende Nußbäume ab, sie standen breit und schön an den Straßen und Feldabhängen. Kirchtürme ragten darüber empor, manchmal schlug eine ferne Turmuhr.

Es wurde doch spät. Es kam die Unruhe über ihn, daß er ein Signal überhört haben könne; auch war es still über den Bergen; seither hatte man von Zeit zu Zeit den dumpfen Widerhall des Artilleriegefechtes oder das scharfe dünne Rollen fernen Gewehrfeuers gehört; auch mußte in so später Mittagsstunde das Gefecht zu Ende sein. Trotzdem war seine Angst noch größer, daß er irgendwie schon abgerufen würde, er fühlte, was er verlor, wenn ihn das alte Leben zu früh zurückerhielt. Aber kein Horn rief, kein Unteroffizier erschien.

So zog ein milder Spätsommerabend langsam auf ungesehenem Pfade, die Seele umwebend und das Denken stille machend, herauf. Aus dem Walde klang ein vereinzelter Vogelruf herüber, ein Zweig löste sich und fiel, ein Weih zog in schweigendem Fluge eine Linie, der Philippus' Auge mit Entzücken folgte; aus dem Waldrande oben jenseits der Halde trat ein starkes Rudel Rehe und dann Hirsche langsam grasend heraus, bald sah einmal das eine scheue Tier fragend auf, bald auch einmal alle, dann zogen sie ruhig zwischen kleinem Buschwerk und durch das Gras hin; Philippus' Auge gewöhnte sich daran, die braune oder hellere Färbung 66 der Tiere aus den Farben der Halde heraus zu erkennen, und als sie seinen Blicken entschwanden, folgte ihnen alle Sehnsucht seiner Kinderjahre.

Langsam wandte er den Blick zurück. Er sah, wie spät es geworden war. Im Westen jenseits des Städtchens und der es dort überragenden Hügel sank die Sonne in einen fernen, grauen Duft; so war sie seit Jahren nach der Aussage einiger seiner Bücher untergegangen, so ging sie heute vor seinen Augen unter, die Wölkchen zart anhauchend und den Rand der Nebelschicht erst mit Gold, dann mit Purpur säumend. Aus den Nußbäumen herauf rief von dem schlanken Kirchturm eines nahen Dorfes die Abendglocke; die Töne kamen heran, nicht als ob sie Flügel hätten, nicht als ob sie getragen würden, sie kamen, daß es wie ein unsichtbares, rasches Gehen war, und sie kamen hell, eindringlich und süß. Nun erklangen auch die Glocken der unter ihm liegenden Stadt, und nähere und fernere Glockenrufe woben sich hinein, und Philippus erkannte, daß sie sagten, noch sei über den Feldern und ihrer Mühe, über den Straßen und ihrer Hast, über den Köpfen unter den Windfahnen der Dächer und Türme das unsichtbare Geistesreich vorhanden, das über den Zeiten und Geschlechtern walte.

Als schon alle Türme schwiegen, da läutete noch spät aus einem Dörfchen an der Bergwand jenseits der Stadt vereinzelt eine letzte Glocke: ihr Ton erinnerte ihn an die Glocke seines Heimatdorfes. Dort läutete sie nur früher, noch ehe die Sonne rascher sank, und 67 dann hielten Schnitter und Steinklopfer, der Wanderer und die Spinnerin in der Arbeit zum Gebet inne. Indem er mit festgeschlossenen Augen ergriffen nach den fernen, im dunkelnden Abend ihn aufsuchenden Klängen hinhorchte, gedachte er eines abendlichen Ganges, den er als Knabe an der Seite des Vaters durch hohe Kornfelder gemacht hatte. Da hatte aus dem Dorfe von dem niederen uralten Turme des kleinen Kirchleins die Feierabendglocke geläutet. Der Vater war stehen geblieben und hatte die Knabenhände in seine eigene gefaltete Hand warm und fest eingeschlossen, dabei ernst und liebreich in das Kinderauge gesehen und gebetet: So nimm denn meine Hände und führe mich bis an mein selig Ende und ewiglich.

Das war lange her. Bei der Heimkehr von jenem Gang war noch etwas anderes gewesen. Philippus wußte es. Kein Sternbild hatte sein Auge einst lieber gesucht als den Orion, und eben an jenem Tage hatte es sich nicht zeigen wollen. Philippus sah nun auch jetzt sehnsüchtig nach Südosten, ob nicht in den dahindunkelnden Tag das prächtige Gestirn hereintrete, und indem er nach der schwarzen Berglinie starrte, über die das Sternbild erst in einigen Stunden heraufschreiten sollte, da verstummte die Welt und versanken die Linien des Gebirges, und er stand inmitten seiner Kinderheimat. Er sah ein kleines Dorf, eine dunkle Dorfgasse, einen kleinen Bach, den die Gasse auf einer kleinen, höckerigen, steinernen Brücke überschritt, und gerade über der Dorfgasse und der Brücke stand so oft das funkelnde, 68 geheimnisvolle Bild des Orion. In der Dorfgasse rechts, in ihr links kleine Häuser, in ihnen matterhellte Fenster, es wird noch kein Erdöl gebrannt, erst die Städte wagen es zu verwenden, der Bauer fürchtet, es entzünde sich von selbst und zerschlage sein Haus und sein Glück. Öllampen scheinen hoch von der Decke herab, oder Talglichter brennen und beleuchten die Gesichter. Vor der Brücke rechts wohnten Ludwigs Eltern; Philippus schenkte ihm ein Blumenstöckchen, als er für immer von der Dorfgasse Abschied nahm, und Ludwig pflegte es Jahre hindurch. Im Hause links von der Brücke wohnt Gretchen Berger, ein Mädchen, so alt wie Philippus, also acht, neun Jahre alt, mit hellen Haaren und rundem, hellem Gesicht und hellem Lächeln; ihr Vater hat einen Laden, ach nur ein Lädchen, ein elendes, erbärmliches Ding von einem Laden, mit einer Weihnachtsausstellung, die Philippus und Ludwig die Augen stahl und zu sich hineinnahm mit ihrer Seele: elende Griffelkasten, elende Archen Noäh, elende Eselchen von Papiermaché, aber eine Kinderlust und Kindersehnsucht. Das schweigende Wasser zieht im Dunkel unter der Brücke durch nach der Mühle. Philippus sieht sie nicht, aber sie liegt ganz nahe, ihr Rad schweigt, und die alte Müllerin schweigt, sie hatte ehedem Philippus rufen lassen, wenn sie »Käskuchen« gebacken hatte, den süßen Kuchen mit den braunen Blasen. Neben den Rädern fällt das Wasser hinunter, es geht ein wenig weiter, bespült den Pfarrgarten mit seinen Aurikelbeeten, mit seinen Rosenstöcken, mit seinem Haselnußbaum, den kleinen 69 Garten: er ist lächerlich klein, aber wie groß war er, als der Orion über der Dorfbrücke stand! Dann geht das Wasser hinaus. Hundert Stunden nach Süden, hundert Stunden nach Norden, hundert Stunden nach Westen liegt Deutschland, und ein kleines Dorf in breitem Wiesental, in sanft gewelltem Hügelland, über das bei Tage Buchenwälder und Dorftürme schauen, liegt still in schweigender Nacht unter dem ernsten Funkeln des Orion da . . . .

Philippus schreckte aus seinem Traume auf: drunten im Städtchen ward die Trommel gerührt. Zog die Kompagnie ein? Wurde die Wache abgelöst? Es war höchste Zeit, den Weg hinab zu suchen und seinen Vorgesetzten sein Ausbleiben zu erklären. Ehe er ging, brach er drei kleine Buchenzweiglein und legte sie in sein Taschenbuch, eines für die Mutter, eines für den Freund, eines für Herrn Philippus, und indem er sie einlegte, sprach er halblaut ein Wort, das war für keines Menschen Ohr bestimmt.

Rasch fand er sich zurecht. Am Waldrande begegnete ihm Ludwig, der, von Unruhe um den Freund getrieben, die Erlaubnis erbeten hatte, den Weg zu gehen, den die vergessene Schildwacht wohl heimkehren mußte. Wo warst du? was hast du so lange getan? fragte Ludwig, sobald er den Freund heil und fröhlich vor sich stehen sah. Ich habe mich ausgeruht, antwortete Philippus freundlich und aus froher Seele. Ausgeruht, fragte Ludwig erstaunt, aber wovon denn? – Ich glaube, ich habe mich von mir selber ausgeruht, sagte Philippus 70 halb fröhlich, halb verlegen. Ludwig fragte nicht weiter, aber er beschloß, noch heute an Philippus' Mutter zu schreiben; er gab ihr zuweilen von dem Sohne Nachricht, Philippus hatte so wenig Zeit zum Schreiben. Dieser nun ließ sich erzählen, wohin der Tag die Kompagnie geführt hatte, und wie es gekommen war, daß man ihn auf seinem Posten gelassen hatte. Von seinen Erlebnissen zu erzählen, war noch nicht die Zeit gekommen.

Als er am andern Morgen mit den andern antrat, ertrug er lächelnd die Neckereien wegen seines Ausbleibens. Als Ludwig auf ihn zukam, um ihn zu begrüßen, sagte Philippus plötzlich in größter Überraschung: O Ludwig, dein eines Auge ist ja braun und das andre blau!

Da küßte ihn Ludwig vor allen Menschen; es war der erste Kuß, den er dem Freunde seiner Kinder- und Jugendjahre gab. 71

 


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