Hermann Oeser
Des Herrn Archemoros Gedanken über Irrende, Suchende und Selbstgewisse
Hermann Oeser

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8.
Ein Gentleman ist sündlos; denn die einzige Sünde, die es gibt, begeht er nicht.

Nimm einmal an, ein Schlehenbusch nähme sich vor, Eierpflaumen, recht schöne und große, zu tragen; du siehst, es gelingt ihm nicht. Das, was seine Wurzeln aus dem Boden entnehmen, und was nun als sein Lebenssaft durch seine Zweige und Zweiglein kreist, erlaubt ihm nichts anderes hervorzubringen, als die freundlichen, kleinen weißen Blüten und die unfreundlichen, kleinen blauen Früchte.

So geht es auch einem Zeitalter. Was es aus seinem mütterlichen Boden an Nahrung zieht und als seinen Lebenssaft in sich verarbeitet und durch Tausende von Adern strömen läßt, das zwingt es zu bestimmten Anschauungen, und wenn es sich Mühe geben wollte, diese Anschauungen zu ändern – es will sich aber diese Mühe nicht geben –, so wäre das ganz umsonst.

So bringt unser Zeitalter, – das, was sich »das Zeitalter« nennt: Erkenntnis ohne Glaubensfähigkeit, zu deutsch Gelehrtendünkel, den geschichtslosen 44 Idealismus der reinen Moral, die besitzende, wohlmanschettierte und wohlkrawattierte Halbbildung und das ethische Manchestertum, – dies Zeitalter bringt nicht mehr das Bewußtsein der Sünde hervor und versteht eigentlich nicht einmal mehr den Begriff der Sünde.

Ein paar Hundert Leute unterrichten ein paar Millionen Leute über den Begriff der Sünde. Die Wolke regnet auf den Schlehenbusch, und dieser benutzt die segenbringende Flut, um Schlehen hervorzubringen. Die paar Millionen hören die Predigt und teilen dann, als ob niemand je zu ihnen gesprochen hätte, das »Unrecht« in zwei Arten ein. Auf der einen Seite steht alles »Elegante«, das, was man zum Spaß in einer drolligen Anspielung mit heiterem Augenzwinkern »Sünde« nennt, indem man dabei den Dampf der feinen Zigarre in wirklich graziösen Ringen rasch hintereinander aufsteigen läßt, jenes »Elegante«, das man nur so weit »bereut«, als es Folgen hat, und mit dem sich die Gedanken nie wieder beschäftigen, wenn es keine Folgen gehabt hat. Auf der anderen Seite steht die einzige Sünde, die das heutige Geschlecht allein als vorhanden anerkennt; es nennt sie nur »Schlechtigkeit«, – »Sünde« ist ja das, worüber die Auguren des modernen Lebens nachsichtig sich zulächeln.

Wenn der Mann in tadellosen Manschetten und neuester Krawattenfasson von Schlechtigkeit spricht, dann meint er nicht das »Elegante«, worauf ein gebildeter Mann ja ein Recht hat, er meint etwas anderes; einen Mord begeht ein gebildeter Mann nicht – außer im 45 Wahnsinn –, der fällt also weg; Untreue gehört zum »Eleganten«; der Lüge zeiht man sich selbst nicht, es zeiht auch einen niemand anderes der Lüge, also gibt es auch keine Lüge; aber eines gibt es, das heute auch bei einem »gebildeten« Manne möglich ist, das ist der Diebstahl; er ist die einzige Sünde, auf die sich bei angestrengtem und beharrlichem Nachdenken »das Zeitalter«, die »führende Klasse« besinnen kann. Ein Gentleman stiehlt nicht, folglich hat er nie eine Sünde begangen. Und wenn du zwei Stunden vor fünftausend Männern über die Sünde predigst, jeder von den fünftausend hört in den hundertzwanzig Minuten immer nur vom Stehlen sprechen und erkennt daraus, daß nicht von ihm die Rede ist.

Wissen Sie noch, Herr Pfarrer, wie wir Sie lieb gewannen und warum wir in der Sommerfrische Ihre Bekanntschaft und Ihre Freundschaft suchten? Es war ein Augustabend, zwischen neun und zehn Uhr. Sie gingen mit einem Berliner Herrn in dem Hotelgarten eine Stunde lang auf und ab und sprachen zu ihm von der Schwere der Arbeit an sündigen Herzen; wir hörten Ihre Stimme und hörten Einzelheiten, und wir gingen im Geiste an Ihrer Seite auf und ab. Und der Ihnen unmittelbar zur Seite ging, sagte, er sei kein Sünder, er habe nie eine Sünde begangen. Und Sie erschraken, wir hörten es an dem Tone, in dem Sie sprachen; Sie wußten ihn nicht zu fassen, weil Sie nicht wußten, daß ihr Nachbar zur »führenden Klasse gehörte«. Sie sprachen auf ihn ein, Sie wollten ihn zwingen, seinen 46 Anteil an der Sündhaftigkeit unseres Geschlechtes anzuerkennen; er aber ward ungeduldig in sich und dachte (wir wußten, was er dachte, denn wir sahen, daß er »Zeitalter« war). »Was will der Pfarrer? Ich habe ja doch nicht gestohlen!« 47

 


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