Hermann Oeser
Des Herrn Archemoros Gedanken über Irrende, Suchende und Selbstgewisse
Hermann Oeser

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4.
Herr Kibitz.

Herr Kibitz wohnt neben Erwin, ihre Gärten sind nur durch einen Zaun getrennt. Das ist Herrn Kibitz angenehm, denn er beschäftigt sich viel mit Erwin. Er hat zwar, wie er sagt, Besseres zu tun, als sich um seine Nachbarn zu bekümmern: er ist im Parteiausschuß, er ist Mitglied des Beirates des Gymnasiums, er ist Kirchengemeinderat, Stadtverordneter und Direktorialmitglied einer großen Aktiengesellschaft und erholt sich allabendlich von diesen Geschäften als gerngesehener Gast an seinem Stammtische. Trotzdem beschäftigt er sich viel mit Erwin. Er weiß, was dieser tagsüber treibt, wie hoch er besteuert ist, wie sein Besuch heißt, welche Zeitungen er liest, warum er nicht mehr bei seinem alten Bäcker kauft, und Herr Kibitz mißbilligt alles, was Erwin tut.

Immerhin nötigt er ihn, über den Zaun herüber seine Ansicht in politischen Zeitfragen zu äußern, er spricht wegen Aufgaben und Vorgängen der Kirchengemeinde mit ihm, er erfragt die Hotels, die Erwin auf seinen Reisen aufgesucht und bewährt gefunden 29 hat, und macht seinerseits Mitteilungen über das Wetter des Tages oder über das, was beide gestern in ihren Zeitungen gelesen haben.

Abends aber gibt Herr Kibitz am Stammtische seine Meinung über Erwin zu erkennen. Er tut ihn am liebsten in Fremdwörtern ab. Herr Kibitz ist ein gebildeter Mann, er besitzt einen ansehnlichen Vorrat von Fremdwörtern und hat die neueste Auflage des Konversationslexikons einem Kolporteur gegen Abschlagszahlungen abgenommen; den ganzen Betrag zu zahlen, so leicht ihm das gefallen wäre, behagte ihm nicht, es war doch ein »Heidengeld«.

Wenn Erwin sich nicht entschließen konnte, das Unechte für echt zu halten, so nannte ihn Herr Kibitz einen Skeptiker; hatte Erwin im nachbarlichen Nachmittagsgespräch bei einem neuen Gesetz schlimme Folgen vorausgesehen, so bezeichnete ihn der Stammtisch des Herrn Kibitz am Abend als einen Pessimisten. Das hinderte nicht, ihn schon tags darauf einen Optimisten zu nennen, wenn es sich herausstellte, daß er nicht in all den Gossen gelegen hatte, in denen Hans und Kunz gelegen hatten. In das Gesicht hatte er Erwin einen Realisten genannt, als dieser bei Gelegenheit einer öffentlichen Sammlung die Wahrheit gesagt hatte. Sehr oft mußte Erwin hören, daß er ein Idealist sei; Herr Kibitz betonte dann entweder ironisch oder entrüstet, unter allen Umständen sehr nachdrucksvoll jede Silbe jedes Wortes, und Erwin hätte bemerken können, wenn er darauf geachtet hätte, – aber er achtete nicht 30 darauf, – daß Herr Kibitz ihn das eine Mal einen Idealisten nannte, wenn Erwin sich mit Dingen beschäftigte, von denen jener nichts verstand, das andere Mal aber, wenn er zu Ergebnissen gelangt war, die Herrn Kibitz unbequem waren. Es konnte vorkommen, daß Erwin seinem Nachbar am Freitag als ein Revolutionär galt und am Samstag als ein Stockkonservativer. Im ersten Falle geschah das, wenn Erwin Herrn Kibitz nachwies, daß das »Althergebrachte« auch einmal vor Zeiten neu gewesen ist und damals etwas Altes verdrängt hat; der zweite Fall aber trat ein, wenn Erwins Herz an etwas hing, woran der Welt nichts lag, oder das ihr unbequem geworden war. Wie aber auch Herr Kibitz seinen Nachbar bezeichnen mochte, unter allen Umständen war er ihm ein Romantiker, denn Erwin sah in dem Irdischen ein Symbol des Ewigen.

Trotzdem war Herr Kibitz stark beunruhigt, als sich in der Straße das Gerücht verbreitete, Erwin wolle in eine andere Stadt ziehen; er konnte ihn im letzten Grunde eigentlich nicht leiden, ja, nicht ausstehen, und doch hätte er gerade diesen Nachbar nicht gern vermißt.

Aber Erwin zieht nicht weg. 31

 


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