Hermann Oeser
Des Herrn Archemoros Gedanken über Irrende, Suchende und Selbstgewisse
Hermann Oeser

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17.
Herr Echternacher.

Es war genau um vier Uhr nachmittags; die Uhr im Turm der evangelischen Stadtkirche sagte es, und merkwürdigerweise genau in demselben Augenblick auch die Uhr des Rathausturmes, sonst hatten die beiden Uhren Gründe, nicht übereinzustimmen.

Es war genau um vier Uhr, als Erwin und Friedrich, beide schwarz gekleidet, auf einen Bekannten, einen Kaufmann, stießen: Nun, ihr seid ja beide wie zu einem Begräbnis gekleidet, sagte dieser. Friedrich, der jüngere und redseligere, antwortete rasch: Herr Echternacher ist gestorben und vorhin begraben worden.

Herr Echternacher? Echternacher?!

Es erstaunt mich nicht, daß du ihm nicht begegnet bist; du bist mehr auf Reisen als hier. Er war kein Einheimischer und wohnte auch erst einige Jahre hier, sagte Erwin.

Friedrich fuhr dann aber fort: Es war ein drolliges Leichenbegängnis.

Ein drolliges Leichenbegängnis?

123 Ja, wirklich komisch! Sie hätten sehen sollen, wie das war. Auf drei Uhr war ein kleiner Hausgottesdienst angesetzt. Wir zwei waren die ersten. Gleich nach uns kam ein liberaler Freund Echternachers und fragt: Wer wird das Begräbnis abhalten? Erwin sagt: Nach seiner eigenen Bestimmung Herr Pfarrer Weber! So – der? sagt jener gedehnt. Es kommen dann andere Freunde, immer mehr und mehr, liberale und positive. Wie sie sich musterten, wenn jeder sich unbeobachtet glaubte, keine Richtung war auf die andere gefaßt. Wie kommen denn die hierher? dachten die Positiven. Wie kommen denn die hierher? dachten die Liberalen. Knapp vor drei Uhr erschien der Geistliche; auch ihm mußte die Zusammensetzung der Versammlung unerwartet sein; er sah, als er seine Ansprache begann, prüfend über seine Zuhörer hin. Als sich dann die Leidtragenden auf der Straße ordneten, suchte jeder möglichst unauffällig seinesgleichen, immerhin kamen rechts und links ein wenig in Unordnung. Es war wirklich drollig!

Aber wie war das denn mit Herrn Echternacher?

Was Friedrich drollig nennt, das wäre für Herrn Echternacher ein tiefer Kummer gewesen, fiel nun Erwin ein. Friedrich kannte ihn so gut wie gar nicht, lockere Vereinsbeziehungen, was will das heißen? Ich kannte ihn aber seit Jahren und weiß genau, wie es mit ihm stand.

Doch nicht so was wie ein Laodiceer?

O nein! nein! Er war weder kalt noch lau, er war 124 ein warmer und entschiedener Mann. Das Bewußtsein seiner Sündhaftigkeit war mächtig in ihm, das Gebet war ihm ein Suchen nach der Vaterhand Gottes, ernstlich und einem eingeborenen naiven Drange gehorchend, war er bestrebt, auch den Tag in seinen kleinen irdischen Teilen auf Gott zu beziehen, und Christus war ihm der Weg, die Wahrheit und das Leben.

Aber?

Aber? echote Friedrich etwas scharf und mißvergnügt.

Es folgt kein Aber, fuhr Erwin ruhig fort. Bei seinem bewegten religiösen Innenleben und seinen theologischen Interessen mußte er mit Notwendigkeit den Richtungen unseres heutigen Protestantismus gegenüber zunächst innerlich Stellung nehmen. Er empfand einen starken Zug zu den Positiven.

Aha! ließ sich Friedrich vernehmen. Erwin ergriff lächelnd seine Hand, drückte sie leise, und Friedrich war versöhnt. Die Korrektur vorhin war ihm unangenehm gewesen. Er war reizbar.

Erwin aber sprach weiter: Ja, zu den Positiven, oder wie mein seliger Freund regelmäßig, wenigstens im Gespräche mit mir sagte, den sogenannten Positiven. Der große Gesichtspunkt, aus dem man heute die Parteien betrachten muß, pflegte er wiederholt auszuführen, ist die Frage, ob sie erhaltend, rettend, aufbauend sind, oder ob ihre Ideale und ihre Maßnahmen – natürlich ungewollt – die sittlichen Hebungs- und Widerstandskräfte des Menschen schädigen oder gar aufheben. Sieh, was deutsch im deutschen Volke ist, 125 das retten oder erhalten doch heute noch die sogenannten Positiven, sagte er einmal zu mir; und ein andermal, wo er in innerer Unruhe war und seine Sympathie für diese Christen vor sich selbst zu rechtfertigen bestrebt war, führte er aus einer reichen Erfahrung, die er in den Beobachtungen eines intimen Verkehrs aufgesammelt hatte, aus, daß viele der sogenannten Positiven es wirklich in ihrem gesamten Leben ernst nehmen; sie haben mehr ursprüngliche subjektive Religiosität, die Energie ihres Christenlebens ist mir zweifelloser als bei ihren Gegnern. Es sind unter ihnen mehr, die treu geblieben sind, treu den Absichten, Idealen und Gelöbnissen ihrer Jugendjahre.

Aber – schaltete hier der Kaufmann von neuem ein.

Du bist ja unerbittlich! sagte Erwin mit freundlicher Ruhe. Hier kommt nun wirklich bei meinem Freunde ein Aber. Aber es entging ihm bei vielen unter denen, die sich in kindlicher Zuversicht für »die Christen« hielten und den großen Mut hatten, sich auch so zu bezeichnen, doch nicht, daß hier ein gewisser Mangel an durchgebildetem Urteil und fortgeschrittener, eine weitere Umschau ermöglichender Bildung eine Enge der Gesichtspunkte und eine betrübende Verständnislosigkeit dem Reichtum des Lebens gegenüber verschuldete; besonders aber stieß es ihn ab, daß diese Christen diese Enge und diesen Bildungsmangel als ein Verdienst, ja, als ein wesentliches Merkmal eines ernsten und geläuterten Christensinnes betrachteten und danach andere beurteilten!

126 Lange Haare, Leisesprechen, schlechte Zimmerluft! platzte hier Friedrich heraus.

Erwin sah Friedrich mißbilligend an und sagte: Du kanntest Herrn Echternacher wirklich nicht! Nein, die Sache lag anders. Er war voll Liebe zur Kunst, er freute sich an aller echten Poesie, er liebte sehr die Musik, er besuchte oft das Theater. Und wenn er nun sah, wie Christen, die es ernst mit den Forderungen des Herrn Jesu Christi nahmen, und die ihr Leben fromm und tüchtig lebten, redliche, wohlmeinende, aber da und dort in ihrem Urteil befangene Gemüter, sich selbst das Theater versagten und andere in ihrem Gewissen wegen dessen und wegen weltlicher Musik irre oder doch ängstlich machten, dann sagte er, er werde sich nie und nimmer auf diesem Gebiete in seiner unbefangenen Bildung vergewaltigen lassen. Ja, es konnte damit so weit kommen, daß er monatelang allen Positiven auswich und wohl im engsten Kreise mit Bitterkeit von den Borniertheiten der Christen sprach. Tue ich ihnen, sagte er einmal, mit herzlicher Sympathie drei Schritte entgegen, gleich, an demselben Tage noch, muß ich mindestens einen innerlich zurücktun, weil sie von mir verlangen, ich müsse ihre Enge für die wahre Weite anerkennen und bei Nennung von Goethes Namen doch immerhin ein leises Bedauern einfließen lassen, so groß er auch sei.

Erwin schwieg hier und besann sich eine Weile, dann sagte er: Erinnert ihr euch einer kleinen Ausführung, die unsere Zeitung vorigen Winter in ihrem Feuilleton 127 unter der Überschrift: Welche Komödie ist nun die schlimmere? brachte? – Nicht? Nun, man übersieht ja solche kleinere Mitteilungen. Sie war von Herrn Echternacher. Es hieß da etwa, der Einsender komme von der Reise nach einer fernen Stadt zurück. Dort sei eben ein Millionär unter besonderen Ehrenbezeugungen begraben worden; wie er aber seine Millionen erworben habe, sei ein öffentliches Geheimnis. Trotzdem habe der Geistliche, der die Trauerhandlung zu leiten hatte, nicht den Mut gefunden, sich nur auf die Mitteilung einiger Tatsachen des äußern Lebensganges zu beschränken, sondern habe, wenn auch mit Zurückhaltung, doch mehr gesagt, als er vor Gott, vor seinem Gewissen und im Angesicht einer Zuhörerschaft habe verantworten können, deren sittliches Urteil er nunmehr verfälscht oder deren Achtung vor dem geistlichen Amte er vermindert habe. Welche Komödie wirkt demoralisierender, die vor den Theaterlampen, in der ein Schauspieler spricht, den man nicht für bar nimmt, oder die unbeabsichtigte aber tatsächliche Komödie vor dem Grabe, in der im ernstesten Augenblicke ein Mann Risse verkleistert, den man immer in jeder Sache und an jedem Orte für bar nehmen sollte!

Friedrich hatte schon einige Male Zeichen von Ungeduld zu erkennen gegeben; er brannte darauf, Erwin sich wieder innerlich entgegenkommend zu erweisen, und als nun dieser eben inne hielt, sagte er: Einen andern Beitrag des Herrn Echternacher habe ich mir, ich weiß nicht mehr, für wen, aus der Zeitung geschnitten und in meine Brieftasche gelegt. Er ergänzt das, was Erwin 128 gesagt hat; ich will ihn vorlesen. Nun suchte er heftig, blätterte zweimal das ganze Büchlein durch und fand ihn endlich da, wo er vernünftigerweise allein sein konnte, in dem kleinen Mäppchen auf der Innenseite des Rückendeckels. Friedrich las nun, indem die Freunde langsam weiterschritten, folgendes vor:

Manche unserer Freunde mißtrauen dem Schönen, als vertrüge es sich nicht mit der Religion; ebenso verklagen andere, denen Frömmigkeit eine Verkürzung des Lebens einzuschließen scheint, die Religion, daß sie dem Schönen nicht sein Recht zugestehe. Hier liegt eine ebensogroße Verkennung des Schönen wie der Religion vor. Das Schöne bringt so lange, als man unmittelbar unter seinem starken Einfluß steht, die Sünde zum Schweigen; die Religion erlöst von der Sünde; darum kann an sich das Schöne nicht von der Religion entfernen, und die Religion kann sich des Schönen freundlich, ja dankbar annehmen. Ja, der Religion darf das Schöne als sie selbst in Form kristallisiert vorkommen, und wenn das Schöne sich auf sich selber besinnt, muß es freudig erschreckend erkennen, daß sein Geist, den es als Körper umschließt, das Heilige ist.

Erwin hatte aufmerksam zugehört, dankte dem Freunde, daß er das Wort des Toten gerade für seinen Begräbnistag gerettet habe, und fügte dann hinzu: Vielleicht hat es der Herr Echternacher gesagt, vielleicht aber rede ich das nur in seinem Sinne, was ich nun hinzufügen will. Auch der Herr Christus hat das Schöne geliebt, auch er hatte ein Auge für das, was das Leben 129 reizend und erfreulich umkleidet. Auch er teilte die Vorstellung von irdischer Pracht, wie sie in dem Königtum Salomos erschien, aber von Salomos Herrlichkeit glitt sein Auge hinüber zu den Lilien des Feldes; die stumme, innige Schönheit der Blumen ward von ihm empfunden; in ihm lebte jene irdische Jugend, die durch Anmut und Lieblichkeit unwiderstehlich angezogen wird. Die Lilien des Feldes, die sein heiliger Mund pries, die hat seine Hand lebend berührt; er hat ihrer welche gebrochen, sie auf der Wanderung mitgenommen, sie dankbar betrachtet und sie in die Hände gelegt, die ihm die liebsten waren, seiner Mutter, der Seinigen, der Jünger.

Das alles führt uns ab von unserem Thema, fiel hier der Kaufmann ein. Mich interessiert vor allem, was Herr Echternacher vielleicht noch gegen die Positiven auf dem Herzen hatte.

O ja, da gab es noch manches, das unser Freund nicht rund brachte, wie er zu sagen pflegte. Da, wo er die sogenannte gläubige Richtung als die herrschende sah, mußte er sehen, daß sie es machte wie die Gegner: auch sie sah in den ihr zugänglichen Kreisen auf Gehorsam, sie erzwang einen regelmäßigen Kirchenbesuch und ließ in bestimmten Stellen nur ihre Leute zu. Wie kann das sein? fragte er. Man fordert die innere Umkehr, man rühmt Luther, daß er den verlorengegangenen Sinn aufrichtiger Buße, der Metanoia, in den Ängsten seines Seelenlebens wiedergefunden habe, und doch gibt man sich, ich meine mit geschlossenen Augen, zufrieden, 130 wenn nur mitgemacht wird. Denn, so viel Menschenkenner sind ja doch unsere Freunde, daß sie ohne weiteres annehmen müssen, daß viele eben aus Klugheit nach rechts gehen, wenn das Zeichen der Zeit nach rechts weist. Wie bringe ich das rund?!

Ich darf euch nicht verbergen, sagte Erwin mit Widerstreben, aber fortgezogen und gezwungen durch das freigewordene und drängende Wort, ich glaube, daß Herr Echternacher, so lieb ihm auch die Positiven waren, im stillen halbwegs froh war, daß sie nicht unumschränkt herrschen können. Er war eben kein eigentlich praktischer, zu äußerer Wirksamkeit und Einflußnahme drängender Mensch, sonst hätte sich dieser Widerspruch irgendwie in ihm gelöst. Und es ist doch ein seltsamer Widerspruch, dieselben Leute als die Erhaltenden zu lieben und doch gerne die freie Entfaltung ihrer erhaltenden Tätigkeit eingeschränkt zu sehen. Ich meine, der Widerspruch löse sich durch einen Willensakt, kraft dessen wir uns der Erfahrungstatsache unterwerfen, daß bei jeder Einwirkung auf das Leben Vergewaltigungen unterlaufen, und daß uns nur die Wahl bleibt, wem wir lieber diese Vergewaltigung gestatten wollen, den wohlmeinenden Erhaltenden oder den wohlmeinenden Auflösenden. Doch ich will nicht von mir, sondern von Herrn Echternacher reden.

Wenn ihr nicht ungeduldig werdet, so laßt mich noch eines hinzufügen. Gerade ein Steckenpferd von ihm war der Gedanke, daß Orthodoxie und Rationalismus Geschwister seien, da beide zu Beweisführungen ihre 131 Zuflucht nehmen, beide durch Lehrsysteme auf dem Wege über den erkennenden Verstand überzeugen wollen. Beide waren ihm nur Wortemacher, die über den Eifer der Beweisführung sich und andere von dem Quellpunkt aller Frömmigkeit, der wortlosen Sehnsucht des Gemütes, rein zu werden und als ein Gotteskind fortan zu fühlen und zu handeln, nur zu weit entfernten.

Höre, Erwin, unterbrach ihn der Kaufmann, du fängst an, bei deinem eigenen Feuer zu schmelzen und bringst mir auch zu viele Fremdwörter. Laß mich etwas anderes hören. Ich bin gespannt, wie er sich meiner Partei gegenüber verhielt.

Ach richtig, du bist ja liberal! sagte Erwin lächelnd und fügte scherzend hinzu: Was ist eigentlich ein liberaler Christ? Ist er liberal gegen sich oder gegen andere?

Friedrich bezichtigte Erwin entrüstet des Mangels an Objektivität, aber Erwin schien an der Last dieses Vorwurfes nicht schwer zu tragen, sondern ging getrost auf die Beantwortung der vorhin an ihn gerichteten Frage ein.

Den Leuten, die sich Liberale nennen, stand der Theologe in ihm – wohlverstanden: der Theologe, nicht der Christ – allerdings nahe. Es konnte ihn nichts an der freudigen Zuversicht irre machen, daß Gott dem Menschen den Wahrheitssinn verliehen habe, und daß man ihn sich unter keinem Vorwande dürfe verfälschen lassen. Wenn positive Freunde mit Ironie von der Wissenschaft sprachen, die heute das unumstößliche 132 Ergebnis von gestern belächle, um morgen das Ergebnis von heute wieder preiszugeben, so fühlte er sich sofort so fremd berührt, daß er den Schritt, um sein Bild zu gebrauchen, vor ihnen zurückwich, den er ihnen entgegengetan hatte. Leugnen sie denn, daß die Wissenschaft keine Ergebnisse gehabt habe? Benutzen sie nicht täglich in Eisenbahnfahrten, in Drahtberichten, in trefflichen Bildern, in der Auswahl und Zubereitung ihrer Speisen die Ergebnisse der Wissenschaft? Fehlt ihnen denn so der freie, unbefangene Blick, daß sie die Bedeutung des Irrtums für den Prozeß der Wahrheit wirklich nicht zu erkennen vermögen? Sehen sie nicht, daß das Leben der Wissenschaft in der Selbstaufhebung besteht? Die neue Erkenntnis wurde ermöglicht durch eine vorhergehende und ist nur dazu da, eine kommende vorzubereiten. Der Irrtumsbestandteil einer wissenschaftlichen Erkenntnis zwingt zu ihrer erneuten Bearbeitung, der Wahrheitsbestandteil aber gliedert sie an die festen Ergebnisse an, die als eine sich immer vergrößernde Kette Ring um Ring durch die Jahrhunderte hindurch ansetzen. Benutzt ihre Apologetik nicht sehr dankbar die Ergebnisse der Keilschriftentzifferung? Wird denn Gott korrigiert, wenn wir etwas korrigieren müssen, das Menschenhände einmal mit Rohr und Farbe niedergeschrieben haben?

Zornig rief er einmal: Hat denn Kant umsonst gelebt? Sobald wir über Gott und göttliche Dinge nachdenken, dann haben wir nur die irdischen Mittel, die uns Gott gegeben hat, die fünf Sinne und den 133 Verstand, und mit diesen Mitteln erkennen wir aus allem, auch an den Offenbarungen Gottes, nur den natürlichen Ablauf, wie er an die Gesetze der mechanischen Welt, nach dem Willen Gottes, gebunden ist. Wo dieser unser Wahrheitssinn stockt und nicht weiter kann und sich unnachgiebig erweisen muß, da soll er demütig und der Verzeihung Gottes sicher sagen, wie der Scheich ül Islam: »So meint es der arme Scheich Osman, Gott aber weiß es besser!« Wer aber darf den, der das Erfahrungswidrige nicht glauben kann, einen Gottlosen nennen, sich selbst aber als einen Gläubigen empfinden, der das Rechte glaubt? Mit einem Wort, Herr Echternacher nahm die Ergebnisse einer Kritik, die von redlichen Männern aus unbefangener Hingabe an die Wahrheit geübt worden war, zwar nicht als die letzte Antwort, aber als irdisch berechtigte und notwendige Auskunft über die irdische oder besser diesseitige Seite der betreffenden Frage hin, und schalt ihn darum einer seiner positiven Freunde, so sagte er wohl: Ich tröste mich mit dem Apostel Paulus, auch er sah nicht die göttliche Wirklichkeit, sondern nur ein Spiegelbild; ihm war das Wort, ahnungsreich zwar, aber dunkel, das die heutigen Schriftgelehrten so fest ausprägen und dessen Verständnis sie zu einer Seligkeitsbedingung machen möchten; auch Paulus war an das irdische Erkenntnisvermögen gebunden, darum war sein Erkennen nur ein stückweises; auch er hatte nur am farbigen Abglanz das Leben.

Erwin hielt inne, er sah mit fröhlichem Blick den 134 Kaufmann an und sagte: Mein Lieber, ich vermisse nun dein Aber! Wo bleibt es??

Welches Aber? fragte dieser überrascht.

Nun das Aber, das Herr Echternacher gegen deine Freunde einzuwenden hatte.

Und er hatte eines einzuwenden! Er war zwar eifriges Mitglied ihres Vereins für wissenschaftliche Theologie, er las die Mappe, in der die Blätter der kritischen Richtung den Kreis der Gesinnungsgenossen durchliefen, aber er besuchte keinen Gottesdienst von Geistlichen eurer Richtung. Manche sind zwar rechte Seelsorger, so sagte er, sie sorgen für die ihnen vertrauenden Seelen, weil sie Christen sind, andere aber sind Seelenbekümmerer, weil sie nicht von Christus und dem in ihm gegebenen Heile reden, sondern von den Meinungen der Menschen über Christus und christliche Dinge, also von dem Streite der Zeit.

Das muß er aber an den Orthodoxen oder doch an vielen Orthodoxen auch zu tadeln gehabt haben, nach dem zu schließen, was du vorhin sagtest, warf der Kaufmann ein.

In der Tat! Nur glaubte er unter diesen mehr suchende Christen, allerdings aber auch mehr selbstgewisse zu finden, als unter jenen.

Ein zweites Aber entfernte ihn ebenso weit von den sogenannten Liberalen, das war das, daß sie mit Kant nicht ganz Ernst gemacht hatten: wenn sie darauf fußten, daß auch die göttlichen Dinge uns nur in einem endlichen Verstande wahrnehmbar wären, der an Raum und 135 Zeit gebunden ist und alles, womit er sich beschäftigt, nach bestimmten Denkformen verarbeiten muß, so sah er, daß doch viele mit dem Nachweise des Menschlichen die ganze Sache erschöpft zu haben glaubten, und daß eben diese in keiner Weise die andern verstanden, die im Glauben die zweite, jenseitige Seite derselben Sache hinzuzufügen suchten, kraft des Rechtes einer Monas, die sich in den Bedingungen der Zeit eingeschlossen sieht und doch spürt, daß sie in der Ewigkeit wurzelt.

Halt ein! rief der Kaufmann. Auch Friedrich sah gelangweilt darein. Ich war im Ausdruck nicht glücklich, gestand Erwin zu. Nun laßt mich noch ein letztes Aber erwähnen, dann habe ich das gesagt, zu dessen Beantwortung ihr mich ja aufgefordert habt. Wenn der kritische Theologe die Diesseitigkeit eines Teiles oder einer Stelle der Bibel nachgewiesen hatte, so nahm ihm das Herr Echternacher nicht übel, er nahm ja sein Ergebnis an; aber übel nahm er, daß nun manchem Theologen und den zahllosen Laien, die in die Resultate dieser Forschungen eingeweiht wurden, jene Stelle wertlos wurde. Ein Einschiebsel?! – und wenn es ein Wort vom frömmsten Gehalte war, vielleicht vierhundert Jahre nach der Abfassung des übrigen von einem frommen Mann in reiner Absicht eingeschaltet, wie du einem Kirchenliede von 1530 im Jahre 1872 eine Strophe hinzudichtetest, um den Gedanken noch wirkungsvoller zu machen, ohne daß irgend ein Mensch, auch nicht ein Kritiker, daran dächte, dich einen Fälscher zu nennen: ein Einschiebsel? – fort damit auf den Kehrichthaufen 136 des kritischen Weltgerichtes! Was wirkt, ist echt, war Herrn Echternachers feste Überzeugung, oft führte er das schöne Wort, das der hochbetagte Goethe in dem Gedichte Vermächtnis ausgesprochen hatte: »Was fruchtbar ist, allein ist wahr«, im Munde. Erst soll es nicht von Gott sein, sie weisen mit Glück das Menschliche nach Zeit, Ort, Beweggrund nach, und kaum ist es zu dem von ihnen so hochrespektierten Menschlichen geworden, so ist es ihnen völlig wertlos. Was da Offenbarung! Welt und Geschichte ist für uns von Kant Belehrte Offenbarung. Nun offenbart sich da ein Stück Welt, und da ist's eben für sie doch nur eine Probe gemeiner und langweiliger Wirklichkeit. Sie beseelen nicht das diesseitige und entseelen das Jenseitige. Viele, viele unter ihnen, verbesserte sich dann Herr Echternacher nach einem solchen Ausbruch; dann sah er mich wohl lächelnd an und sagte: Höre, Erwin, es bleibt dabei: ein Positiver ist darum noch kein Christ und ein Liberaler darum noch kein Unchrist!

Der Kaufmann hatte im ganzen aufmerksam zugehört, jedenfalls aufmerksamer als Friedrich, dem Erwin zu viel sprach, und der gern inzwischen von hundert andern Dingen geredet hätte, und der Kaufmann sagte nun: Eines interessiert mich noch zu hören: wie kam Herr Echternacher nun praktisch zurecht.

Erwin erwiderte: Wie ich die Sache ansehe, sollte man fragen: Wie kam das Zeitalter mit ihm zurecht? Die Liberalen zählten ihn zu den Ihrigen und entschuldigten seine offenkundigen Bemühungen, als ein 137 frommer Christ zu leben, mit der Erinnerung daran, daß er ein Pfarrerssohn sei. Die Positiven zählten ihn ebenfalls zu den Ihrigen, nur fanden sie ihn nicht »gefördert« genug. Er selbst hoffte darauf, mit Innigkeit hoffte er darauf, daß er von Gott als ein Christ erkannt werde, und lehnte es entschieden ab, sich selbst nicht als ein Christ zu erscheinen, weil er die Meinung, die andere und zwar von ihm Verehrte von dem Christentum sich gebildet hatten, nicht teilte. Er wußte, daß die positive Presse eine Stellung wie die seinige zu den theologischen Fragen von oben herab als Rückkehr zu dem alten Rationalismus, die liberale Presse nicht minder von oben herab als Mangel an Konsequenz bezeichne; er wußte aber auch, daß beide das eigentliche Objekt, das ihn und andere ihm unbekannte Gesinnungsgenossen Erfüllende und Treibende nicht sähen.

Mit absichtlich pathetischem Tone bezeichnete er zuweilen das als die Tragik seines Lebens, daß er nicht in einem Zeitalter geboren sei, das ihn für voll nehme. Ich sage: absichtlich, denn er machte keinen Lärm um sich. In gleichem Zusammenhange und Sinne nannte er denn auch wohl jenen wackern Ahnherrn, der 1622 von Echternach ausgewandert war, um sein evangelisches Bekenntnis bewahren zu dürfen und der in einem Dörflein des Thüringer Landes Glaubenssicherheit, Heimat und Zukunft und den neuen Familiennamen gewonnen hatte, seinen Vater Tantalus, der ihm den Namen gegeben habe und es verschulde, daß nun ein so später Enkel von den Realitäten seiner Zeit schmerzlich 138 berührt, Schritte zurücktue, wo er so gerne mit freudigem Schritte voranginge.

Ein ominöser Name! sagte Friedrich; Herr Echternacher gefiel ihm immer schlechter.

War er dir je aufgefallen? fragte Erwin. Friedrich mußte schweigen.

Erwin berichtete dann weiter: Mein Freund hatte keine rednerische Begabung; da sein Beruf ihn an die Schreibstube band, hatte er auch keine eigentliche Nötigung zu öffentlichem Hervortreten erhalten. Dagegen war ein starker Drang zu dienen in ihm. Er war Rechner in einigen der innern Mission unterstehenden Vereinen; er ließ sich Distrikte für die Armenpflege anweisen und griff dabei still und unermüdlich in die eigene Tasche. Er schmückte den Weihnachtsbaum im Vereinshause. Da konnte es aber vorkommen, daß er plötzlich verschwunden war; er hörte vielleicht, während er auf hoher Stellleiter stand, um den Stern oder den Engel auf der Spitze des schlanken Tannenbaumes anzubringen, einen Gehilfen der inneren Mission bei dem Befestigen einer rätselhaften Figur am Baume einen Scherz über die Darwinsche Theorie gegenüber einem andern äußern, und dann machte das Gemisch von Unkenntnis, Verwechslung von Theorie und unberechtigten Folgerungen aus der Theorie, Leichtfertigkeit im Urteil und Bildungsmangel, das in dem ganz haltlosen Gerede über Darwin sich offenbarte, ihn so mißtrauisch und unlustig gegen die Positiven, daß er still nicht bloß äußerlich auf einige Zeit das Feld räumte. 139 Die dem Christentume feindlichen Grundinstinkte Friedrichs lehnten sich immer mehr auf; Herr Echternacher war ihm eben innerlich irgendwie sehr im Wege. Er fragte mit einiger Schärfe: Wie war das doch mit seiner Wirksamkeit im Kirchengemeinderat?

Erwin erwiderte: Er war allerdings Mitglied des Kirchengemeinderates, und zwar war er nach einer Vorschlagsliste der Positiven gewählt worden. Er kam aber – wie das Friedrich offenbar bekannt war – selten oder gar nicht zu den Sitzungen. Er wußte, daß er in der einen Frage unbedingt mit den Liberalen stimmen mußte, in einer andern mit den Positiven, er war innerlich kein Parteimann und wußte, daß das von außen angesehen und im Munde der wortreichen und oberflächlichen Parteischwätzer wie Schaukelpolitik erschien. Da blieb er weg.

Da hätte er sich besser nicht sollen wählen lassen, meinte der Kaufmann.

Ja, das hätte er unterlassen müssen, bestätigte Erwin. Doch erkennt man oft erst dann deutlich die praktischen Konsequenzen, wenn man sich in die Verwicklungen des praktischen Lebens begeben hat. Sein Fehler lag darin, ich wiederhole meine Ansicht von vorhin, daß er sich nicht mit sehenden Augen und festem Willen entschied, die Partei, die er als die immerhin beste zur Zeit erkennen mußte und ja auch erkannte, mit ruhiger Hinnahme ihrer Unvollkommenheit und mit ruhiger Hinnahme der falschen Beurteilung, die ihn selbst bei ihr traf, rücksichtslos, aber auch rücksichtslos gegen sich 140 und innerhalb der Grenzen strengster Wahrhaftigkeit zur seinen zu machen. Die Geschäfte Gottes können wir zur Zeit offenbar nur in irgend einer Einkleidung besorgen, wie ja auch der Nahrungsstoff nicht rein erscheint, sondern als Brot, als Fleisch, als Milch genossen wird und in der einen Einkleidung lieber genommen wird als in der andern.

Gibt es nun viele solcher Echternacher in unserer Zeit? fragte der Kaufmann.

Ich glaube, sehr viele! gab Erwin zur Antwort.

Hier waren die Freunde an einer Straße angelangt, wo ihre Wege sich trennten. Sie verabschiedeten sich mit freundlichem Händeschütteln. 141

 


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