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Fünfunddreißigstes Kapitel.
Der Anfang des Endes

Alle Aerzte und Wundärzte von Beachborough und Umgegend kamen an Freddys Bett zusammen, alle aber schüttelten verzweiflungsvoll den Kopf. Einer der berühmtesten Aerzte war aus London verschrieben worden. Nachdem er einige Stunden an dem Schmerzenslager des Jünglings zugebracht hatte, reichte er allerdings eine seiner Berühmtheit entsprechende Rechnung ein, aber Hoffnung konnte auch er nicht machen, und über Arzneien und Behandlungsweise des Patienten war er verhängnisvoll schweigsam.

Freddy selbst war von Anbeginn überzeugt davon, daß menschliche Hilfe bei ihm nichts mehr ausrichten könne. Er ertrug seine schweren Leiden wie ein Mann; nur ein oder zweimal drückte er die Hoffnung aus, daß es nicht lange dauern möge. Der arme Bursche sehnte sich nicht nach dem Leben. Wirklich konnte man ihm auch das Leben nicht wünschen, denn wenn es wohl Krüppel gibt, denen das Leben noch Genüsse bietet, so gehörte doch Freddy Croft gewiß nicht zu ihnen.

Am zweiten Tage nach der Katastrophe rief Freddy seine Mutter und bat sie, nach Southlands zu fahren und Genoveva mit sich herüber zu bringen.

»Ich habe an ihr gehandelt wie ein Schurke,« sagte er; »aber ich denke, sie wird sich nicht weigern, mir noch ein letztes Lebewohl zu sagen. Ich bin ja eigentlich kein Mensch mehr, ich bin nur noch ein Sterbender und sie ist das edelste Geschöpf unter der Sonne. Sie wird mich tief verachten, aber sie wird kommen, damit ich zum letztenmal in ihre schönen Augen sehe. Geliebt habe ich doch niemand anders auf der Welt als sie ganz allein.«

Lady Croft ging und fand bei Ausführung ihres Auftrages keine Hindernisse vor. Im Wagen bemühte sie sich unter Schluchzen und Thränen, Genoveva auf die Eröffnung vorzubereiten, die ihr Sohn ihr machen würde. Allein vollkommen gefaßt unterbrach das junge Mädchen sie: »Claud hat mir alles gesagt; wir brauchen jetzt keine Worte deswegen zu verlieren.«

Die arme Lady stammelte einige unzusammenhängende Entschuldigungen, tadelte das kokette Weib, tadelte Herrn Gervis, tadelte jedermann mit Ausnahme des unglücklichen Schuldigen, der sobald allem menschlichen Tadel entrückt werden sollte.

»Teure Lady Croft,« sagte das junge Mädchen sanft, »suchen Sie ihn nicht zu entschuldigen, es ist nicht notwendig. Er war niemals wirklich mit mir verlobt, wie Sie wissen, und wenn er es selbst gewesen wäre, würde das die Sache in meinen Augen nicht ändern. Ich hätte ihn niemals geliebt, wenn ich ihm nicht alles vergeben könnte.«

»Es liegt im Blute, mein Liebling; die Crofts sind immer so gewesen, sie können nicht dafür. Wenn Sie wüßten, wie gut er das ganze vorige Jahr hindurch gewesen ist, und wie er seine üblen Gewohnheiten abgelegt hat – und alles bloß Ihnen zu Liebe! Aber nun ist alles vorbei.«

»Nein, es ist nicht vorbei,« sagte Genoveva fest. »Er wird nicht sterben, er wird genesen und den vollen Gebrauch seiner Glieder zurückerhalten. Ich war vom ersten Augenblick an überzeugt davon.«

Lady Croft schüttelte den Kopf und verbarg das Gesicht in ihrem Taschentuch. Genoveva aber wiederholte ihre Worte und fügte noch hinzu: »Sie werden sehen, daß ich recht habe. Angenommen aber selbst, ich hätte nicht recht, so würden wir darum nicht schlechter fahren, daß wir glauben, es sei noch Hoffnung vorhanden. Aber ich habe recht. Mir ist es so gewiß, daß wir ihn durchbringen werden, wie daß ich hier sitze.«

Lady Croft führte sie gleich nach ihrer Ankunft in das Zimmer, wo Freddy lag. Seine Schwester, die am Bett gesessen, stand sofort auf und ließ die beiden allein.

Die Begegnung konnte nicht anders als schmerzlich sein, zumal wenigstens einer von ihnen die Ueberzeugung im Herzen trug, daß dies ihr letztes Lebewohl sei. Genoveva aber hatte sich ihre ganze Verhaltungsweise schon zurechtgelegt. Sie setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und fing heiter zu reden an und zwar von dem Tage, den sie im Bois de Boulogne zugebracht hatten, als ob sich nach demselben gar nichts Bedauerliches ereignet hätte. So sehr diese Auffassung der Lage den armen Kranken in Erstaunen setzte, so hatte es doch die gute Wirkung, ihn zu beruhigen und seine fieberhafte Erregung zu stillen. Als er mit schwacher, zitternder Stimme seine Beichte begann, hielt sie ihn mit aufgehobener Hand zurück.

»Das ist ja alles gut,« sagte sie. »Sie dürfen sich nie wieder durch den Gedanken daran quälen lassen. Mir liegt nichts an allem, was Sie gethan haben, weil ich weiß, daß Sie mich doch am meisten lieben.«

»Das war's, was ich von Ihnen erwartete,« rief er eifrig und legte seine fieberheiße Hand in die ihrige, »ich bin ein gräßlicher Thor gewesen – es geschieht mir jetzt ganz recht; aber auch nicht einen Augenblick lang war ich in meinem Herzen Ihnen untreu. Seitdem die Geschichte anfing, habe ich mich unaussprechlich elend gefühlt – und ich dachte, ich hoffte immer, es würde sich alles entzwei reißen lassen. Ich konnte nur immer nicht – wie es kam, weiß ich selber nicht – aber –«

»Ich weiß ja alles,« lächelte sie, »ich verstehe vollkommen. Erinnern Sie sich an jenen Ball in Southlands, wo ich Ihnen sagte, daß auf meine Liebe nichts einen Einfluß haben würde, nicht einmal, wenn der Fall einträte, daß Sie eine andere liebten. Sie sehen also, wenn jetzt etwas derartiges geschehen ist, was noch nicht einmal Ihre Schuld war, so ist es gar nicht der Rede wert. Es ist schon viel zu viel darüber geredet worden.«

»Wie großmütig Sie sind, Genoveva! Es gibt in der ganzen Welt nicht Ihresgleichen.«

»Es ist gar keine Großmut, Freddy. Wenn Ursache dazu vorhanden wäre, so wollte ich großmütig sein – gegen Sie wenigstens.«

Jedenfalls dachte sie bei diesen Worten an jemand anderes, dessen Vergehungen sie nicht so leicht vergeben konnte.

»Wie war es nur möglich, daß Sie einem Sausewind wie mir Ihr Herz schenken konnten?« grübelte Freddy. Nach einer Pause sagte er: »Ihre Violine haben Sie wohl nicht mitgebracht?«

»Ja doch. Ihre Mutter war wohl etwas befremdet, als ich sie mit in den Wagen brachte. Aber sie sagte nichts und ich ebensowenig; denn ich wußte, daß sie mich doch nicht verstehen würde. Aber ich dachte daran, daß es Ihnen Freude machte, mich spielen zu hören.«

»Sie denken doch an alles!« rief er dankbar. »Die arme, alte Mutter! da sitzt sie hier bei mir mit der Bibel auf dem Schoße und einem Gesicht, so lang wie ihr Arm, und ich kann ihr kein Wort des Trostes sagen. Was nutzt es, ein so langes Gesicht zu machen? Sie war außer sich, daß ich mir von Flory die Witzblätter vorlesen ließ. Ich mußte mich halbtot lachen, als ich hörte, wie der Alte lehren will ›Capivvi‹ zu rufen, ›Capivvi‹ statt ›Peccavi‹ … Sie wissen doch … Ha ha ha!«

Es war das Gespenst von Freddys altem, lustigen Lachen; aber Genoveva zwang sich, obschon sie gar nicht wußte, wovon Freddy eigentlich redete, herzhaft mitzulachen. Sie erinnerte ihn an alte Späße und alte Zeiten, und in weniger als einer Stunde schien er schon wieder weit mehr dem alten Freddy ähnlich, als er seit Monaten gewesen war.

»Es nutzt nichts, lange Gesichter zu machen,« wiederholte er noch einmal. Indem aber die Worte über seine Lippen gingen, wurde sein eigenes Gesicht von einem plötzlichen Krampf verzogen.

»Haben Sie Schmerzen?« fragte Genoveva, sich über ihn beugend.

»Nein – nicht sehr, wenigstens – es ist nichts. Aber, aber es wird mir so sauer, von Ihnen zu gehen, Gen!«

»Sie werden ja nicht von mir gehen,« flüsterte sie. »Sie werden noch viele Jahre bei mir bleiben.«

Er schüttelte den Kopf.

»Mit mir ist es aus. Die Aerzte haben es deutlich gesagt. Ich klage ja auch nicht. Ich habe ein fröhliches, glückliches Leben geführt, solange es dauerte, und sterben müssen wir alle einmal. Nur –«

»Ja, ich weiß. Und um meinetwillen müssen Sie leben wollen.«

»Ach, wenn das Wollen etwas nutzte.«

Er sagte ihr nicht, daß er langsam, aber stetig seine Kräfte schwinden fühlte. Seinem gewohnten Grundsatze treu, suchte er die Sache so leicht und lustig wie möglich zu nehmen und that sogar, als hätten ihre hoffnungsvollen Reden auch ihn mit neuer Hoffnung erfüllt. Im Inneren aber wußte er zu genau, daß seine Tage gezählt waren.

Nach einiger Zeit sagte Genoveva: »Freddy, ich will Sie um eine Gunst bitten.«

»Dann wissen Sie im voraus, daß sie Ihnen gewährt ist.«

»Es handelt sich um Claud. Er ist so entsetzlich unglücklich. Ich bin gewiß, daß er noch kein Auge zugethan und noch keinen Bissen zu sich genommen hat, seit – seit jenem Abend. Er sagt, er könne es sich niemals vergeben, aber ich wünsche, daß Sie ihn sehen und ihm Ihre Vergebung zusichern.«

»Vergebung? Ach, der gute alte Junge! Was soll ich ihm denn vergeben? Er hatte ja gar nichts damit zu thun.«

»Er bildet es sich aber ein.«

»Thorheit! Ich trat zurück, als ich ihn sah, und vergaß, daß ich soeben den Graben überschritten hatte. Da stürzte ich hinunter, und so ist das Unglück geschehen. Es war so wenig seine Schuld, als wenn sich mein Pferd vor ihm gescheut und mich abgeworfen hätte. Wenn es sich um das Vergeben handelt, – nun, Sie wissen. Aber davon wollen wir ja nicht reden. Wo ist er? Ist er hier?«

»Ich weiß es nicht; aber jedenfalls ist er nicht weit fort. Er treibt sich den ganzen Tag hier herum und paßt die Gelegenheiten ab, um etwas von Ihrem Befinden zu erfahren. Aber in das Haus mag er nicht kommen.«

»So etwas habe ich aber doch in meinem Leben noch nicht gehört! Ich muß ihn sogleich hier haben. Wollen Sie mir nicht den Gefallen thun, die Klingel zu ziehen und jemanden nach ihm auszuschicken?«

Genoveva erklärte, sie wolle lieber selber gehen. Unbemerkt schlüpfte sie die Treppe hinunter und aus dem Hause, und es dauerte auch nicht lange, so sah sie auf dem verödeten Spielplatz ihren Bruder umherirren. Sie legte die Hand auf seine Schulter. »Komm herein, er verlangt nach dir.«

Er wandte sich um und folgte ihr, ohne ein Wort zu erwidern.

Claud war in Wahrheit untröstlich; denn wenn er sich auch sagen mußte, daß kein vernünftiger Mensch ihn für das Geschehene verantwortlich machen konnte, so blieb doch das Bewußtsein furchtbar lebendig in ihm, daß er die Schuld zeitlebens tragen müsse, und daß durch ihn mehr als ein Lebensglück zerstört worden sei.

»Ja,« sagte er zu Freddy, mit dem Genoveva ihn zartfühlend allein gelassen hatte, »darin stimme ich mit dir überein, daß kein Gericht mich des Totschlags schuldig erklären wird. Aber das ist ein armseliger Trost. Drehe die Sache, wie du willst, es kommt doch immer wieder darauf zurück: ich habe es gethan. Würdest du es dir nicht zurechnen, wenn durch den reinsten Zufall deine Flinte losginge und mich tötete? Und hier war es nicht bloßer Zufall.«

Um des armen, hilflosen Freundes willen that er sein mögliches, sein eigenes Elend zu unterdrücken; aber die Aufgabe war ihm zu schwer. Er war erschöpft durch die Entbehrung von Schlaf und Speise und die unablässige Pein einer fixen Idee. Nur mühselig konnte er ein Wort über die Lippen bringen. Auch konnte er sich nicht mit einem Schatten der Hoffnung betrügen, die seine Schwester aufrecht erhielt. Schon beim Eintritt war ihm Freddys trostloses, verfallenes Aussehen aufgefallen und hatte ihm jeden Funken Hoffnung geraubt. Es war ihm eine große Erleichterung, als Genoveva sich an der Thür sehen ließ und ihm erlaubte, seine Verzweiflung von hinnen zu tragen.

Als er aber aufstand, zog Freddy ihn nervös am Aermel.

»Höre 'mal, du alter Junge, eins muß ich dir doch noch sagen. Ich weiß wohl, daß ich kein Recht habe, mich einzumischen, aber es liegt mir schwer auf dem Herzen. Die Sache mit deiner Frau meine ich. Ich wollte dir nur sagen, daß du dir keine Kopfschmerzen zu machen brauchst – über sie und mich. Es war alles Schein und Unsinn. Und weißt du, Claud, alter Kamerad, sei nicht zu strenge gegen sie. Ich sah vom ersten Tage an, daß nur Aerger der ganzen Geschichte zu Grunde lag. Sie kokettierte mit mir, weil sie glaubte, du liebtest sie nicht mehr, und sie dir zeigen wollte, daß sie noch andere Leute an ihre Fersen heften könne. Sie sagte, du wärest zu gut für sie und du machtest dir keinen Pfifferling aus ihr, und solches Zeug mehr. Gen hat mir vergeben, denkst du nicht, du solltest Nina auch vergeben? So! Mehr wollte ich nicht sagen. Ich denke, du wirst es nicht als eine Unverschämtheit ansehen, da es doch von einem Sterbenden kommt.«

Claud erklärte, er wolle es gewiß nicht so ansehen, schüttelte dann seinem Freunde die Hand und bot ihm eine gute Nacht.

»Du wirst doch wiederkommen, nicht wahr?« rief der Sterbende ihm noch nach.

»Ja, ich werde zur Hand sein, sobald du nach mir fragst.«

Die Wahrheit zu gestehen – er hatte seit jenem Unglückstage, an dem er Nina zuletzt gesehen und später Freddy begegnet war, keinen Augenblick mehr an Nina gedacht. Die große Sorge seiner Seele hatte alle kleineren verdrängt. Als er aber jetzt durch den Park dem Wirtshause zuwanderte, wo er sein Pferd gelassen hatte, da fiel ihm ein, daß auch sie ernstliche Sorge um Croft haben müßte, und die ehrlichen Mannesworte seines Freundes verfehlten ihre Wirkung auf sein Gemüt nicht. Was ihn damals so erzürnt hatte, schien ihm jetzt von geringer Bedeutung und unschwer zu vergeben.

Als er so mit seinen Gedanken beschäftigt das Parkgitter durchschritt und auf die Landstraße trat, fand er sich plötzlich Auge in Auge seiner Frau gegenüber – seiner Frau, die mit langsam achtlosem Schritte, mit bleichem, verweintem Gesicht in vernachlässigter Toilette ihm entgegenkam. Sie war von ihres Vaters Hause herübergefahren und hatte gleichfalls ihren Wagen im Dorfe gelassen, weil es ihr peinlich war, sich vor den Bewohnern von Croft Manor sehen zu lassen. Selbst wenn Claud nicht zur Versöhnlichkeit aufgelegt gewesen wäre, so hätte Ninas Auftreten und Wesen ihn erweichen müssen. Ohne weitere Einleitung teilte er ihr mit, was er über den Zustand des Verunglückten wußte. Dann gingen sie beide nebeneinander dem Dorfe zu, schon halb versöhnt durch ihre gemeinsamen Sorgen und Gewissensbisse.

Claud war ganz bereit, ihr den Oelzweig hinzureichen; aber er wußte es nicht recht anzufangen. Und so war es Nina, die zuerst sprach.

»Bei deiner Gesinnung gegen mich vermute ich,« sagte sie traurig mit gesenkten Blicken, »es hat keinen Nutzen, wenn ich dir sage, daß ich das Vergangene bedauere.«

»Es hat einen Nutzen, wenn es dir ernst ist,« war die schnelle Antwort. »Was geschehen ist, ist geschehen, laß uns das Vergangene aus unserem Leben auslöschen.«

Sie blickte schüchtern auf und murmelte dann leise und demütig: »Das wird auch jedenfalls das beste sein.«

Claud reichte ihr die Hand, und Nina nahm sie; so war wenigstens der Friede geschlossen. Beide aber waren gerne bereit, den Gegenstand fallen zu lassen.

Wenn auch die Versöhnung zwischen den beiden Gatten geschlossen war, so behielten sie doch nach wie vor ihre getrennte Häuslichkeit, was sich unter den vorhandenen Umständen auch nicht wohl ändern ließ, und zeigten kein übergroßes Verlangen, sich gegenseitig zu sehen. Allerdings trafen sie jeden Tag am Parkgitter von Croft Manor zusammen, aber ohne Verabredung, und dann sprachen sie während ihres kurzen Beisammenseins nie über etwas anderes als Freddys Befinden. Nina ging nie über die Umfriedigung hinaus; Claud dagegen hielt sich täglich eine Stunde oder mehr im Krankenzimmer auf und brachte dann jedesmal die erstaunlichsten Berichte mit hinaus.

»Er empfängt alle Tage Besuch, von wer weiß wie vielen Leuten. Manchmal sind drei bis vier Menschen zugleich im Zimmer und plaudern über die nächsten Wettrennen, gerade als sollte er auch wieder dabei sein. Und er scheint sich daran zu erfreuen, der arme Kerl! Am besten gefällt es ihm aber, wenn ihm Genoveva etwas auf der Violine vorspielt. Gestern ließ er sich das Instrument geben und wollte von ihr lernen, eine Tonleiter spielen. Da kratzte er denn, auf dem Rücken liegend, an den Saiten herum, und sie lachten beide wie ein Paar Kinder. Kein Mensch könnte argwöhnen, daß er dem Tode so nahe ist, und doch bilde ich mir ein, ihn jeden Tag einen Schatten hinfälliger zu finden.«

Eines Nachmittags brachte Claud eine Neuigkeit mit heraus, die seine Frau nicht wenig in Erstaunen setzte.

»Freddy und Gen werden sich verheiraten.«

Sie verstand ihn nicht. »In diesem Leben wohl schwerlich,« sagte sie.

»Ja, ja. Es soll geschehen. Die Hochzeit wird sogleich stattfinden.«

»Wo? Doch nicht etwa im Krankenzimmer?

»Ja. Er hat sich die Idee nun einmal fest in den Kopf gesetzt, und Lady Croft wünscht es auch. Da kann natürlich niemand Einspruch erheben. Sie haben sich die bischöfliche Licenz verschafft, und übermorgen wird die Ceremonie stattfinden, wenn nicht – früher die Notwendigkeit eintritt. Er kann jeden Augenblick sterben!«

Mehrere Minuten lang sprach Nina kein Wort. »Ein wunderlicher Einfall!« seufzte sie endlich.

»Findest du es? Ich kann verstehen, daß er wünscht, sie möchte nach seinem Tode seinen Namen tragen; es kommt mir nicht so unnatürlich vor. Aber ich gestehe, daß ich die Scene fürchte. Eine ganze Menge Leute wünscht er dabei zugegen zu sehen. Der Vater kommt unter anderen und Herr Knowles und,« fügte er in etwas verändertem Tone hinzu, »Freddy bat mich, daß ich dich auch mitbringen möchte.«

Nina errötete.

»O, ich möchte tausendmal lieber nicht! Allerdings würde ich gehen, wenn du denkst, er wünsche es wirklich ernstlich oder wenn mein Fortbleiben unfreundlich aussehen könnte. Aber es wäre mir entsetzlich, ihnen allen gegenüber zu treten.«

»Du kannst es halten, wie du willst, sagte Claud nicht sehr herzlich.

»Dann werde ich nicht gehen. Es wäre doch ziemlich taktlos, wenn ich ginge, nicht wahr?«

Claud erwiderte nichts.

»Ich bin gewiß, daß es taktlos wäre,« wiederholte sie.

Als indessen der Tag kam, hatte sie ihre Ansicht geändert, und mir fiel auf, daß Freddy über ihr Kommen erfreuter war, als ihr Mann.

Der alte Gervis war so freundlich, mir einen Sitz in seinem Wagen anzubieten, als wir uns nach Croft Manor begaben, und in seiner gewohnten cynischen Weise äußerte er auf dem Wege, daß der junge Croft als Individuum ihm große Teilnahme einflöße, daß er aber mit dem Verlust seines Schwiegersohnes sich gern aussöhne.

»Ich brauche Ihnen nicht erst auszuführen, daß er uns allen unfehlbar eine Fülle von ärgerlichen Auftritten bereitet hätte. Soweit ich meine Tochter verstehe, ist sie nicht die Persönlichkeit, die seine Schwächen sehr philosophisch ertragen würde. Mir erscheint der ganze Fall wie ein besonderer Glückszufall für Genoveva. Denken Sie nur darüber nach. Mehrere Jahre hindurch wird sie sich allem Luxus des Grames hingeben können. Wenn sie wieder – und dann wirklich – heiratet und alle die abscheulichen Plagen des ehelichen Lebens durchzumachen hat, so wird sie sich immer an der Erinnerung weiden können, daß sie einmal einem fehlerlosen Wesen angehört hat. Solche Gnade wird nicht jedermann gewährt.«

Das Warten im Krankenzimmer war schauerlich, nicht sowohl wegen des bitteren Schmerzes der armen Mutter, als durch die erzwungene Heiterkeit der übrigen Gesellschaft. Claud suchte mit zitternden Händen die liturgische Einleitung zur Trauungsfeierlichkeit auf und schärfte seinem Freunde nervös scherzend ein, daß er seine Antworten ja nicht am unrechten Orte geben sollte. Geisterbleich, aber mit einem entschlossenen Lächeln auf den Lippen, stand die Braut neben ihm. Der Zwang, den alle sich anthaten, war zu groß, und ich besorgte jeden Augenblick, daß er mit einer allgemeinen Niederlage endigen möchte.

Die Ceremonie war schnell vorüber.

Als der Prediger in seinem weißen Talar neben dem Bette stand und mit leiser, murmelnder Stimme seine Rede hielt, da machte es auf alle weit mehr den Eindruck, als gebe er einem Sterbenden das letzte Abendmahl, als wenn er über ein junges Paar den Segen der Kirche spreche. Und ich glaube wohl, daß es für ihn eine ebensolche Erleichterung war, als er seine Aufgabe erfüllt hatte und gehen durfte, wie für uns.

Nach seiner Entfernung trat eine sehr verlegene Pause ein. Der Gebrauch hat uns mit einem Vorrat von nützlichen aber bedeutungslosen Phrasen versorgt, die uns bei allen Ereignissen des gewöhnlichen Lebens auf die Lippen treten. In diesem traurigen Fall jedoch versagten diese uns allen den Dienst; ratlos und befangen standen wir da und sahen uns an. Endlich ließ Freddys schwache Stimme sich vernehmen: »Ich möchte gern euch allen Lebewohl sagen, ehe ihr geht. Zum zweitenmal möchte sich die Gelegenheit nicht so finden.«

So beugte sich der Reihe nach jeder von uns über ihn und drückte ihm die Hand. Ich sagte etwas recht Albernes von »bald wieder gesund werden« und »solange man noch lebt, solange ist auch noch Hoffnung«. Doch sah ich mich sogleich besorgt nach dem alten Gervis um und war zufrieden, daß dieser sarkastische Freund bereits verschwunden war. Möglich, daß er sich auf seine Kraft bei einem so feierlichen Abschiednehmen doch nicht verlassen hatte; seine nachherige Erklärung war, er finde eine solche Scene zu taktlos, um daran teilzunehmen.

Freddy hatte zugleich mit dem Ehekontrakt auch sein Testament unterzeichnet. Einige seiner Vermächtnisse teilte er den Betreffenden gleich selber mit. So sagte er zu dem alten Oberst Finch: »Ich habe Ihnen den braunen Hengst vermacht, Oberst, den Sie so gern geritten haben. So einer thut Ihnen gute Dienste bei Ihrem Morgenritt durch den Park. Geben Sie ihm viel zu thun, denn wenn Sie ihn zu lange im Stall stehen lassen, so wird er Sie auf offener Promenade abwerfen. Ihnen, Doktor, habe ich auch ein Pferd hinterlassen. Ich weiß nicht, ob Sie sich noch erinnern – es ist der Grauschimmel, den früher Lord Lynchester geritten hat. Beim Aufbrechen werden Sie ihn etwas schwerfällig finden, aber Sie müssen ihn nur ein paar Volten gehen lassen, dann wird er sich schon besinnen, und wenn er erst einmal im Gange ist, so geht er so geduldig wie ein Schaf.«

So zählte er seine Geschenke weiter auf, doch wurde seine Stimme immer schwächer und die Pausen immer länger. Zuletzt raffte er alle Kraft zusammen und sagte: »Ich habe noch etwas zu sagen. Ihr müßt aber alle zuhören. Ich höre, daß hier und da viel geredet worden ist über die Ursache meines Unfalls. Der eine sagt dies, der andere jenes. Da ist es vielleicht ganz gut, wenn ich selber noch klare Auskunft darüber gebe, ehe ich von hinnen gehe. Es war nichts Besonderes dabei. Ich stand und wollte mit Claud sprechen … und es war dunkel. Da trat ich einen Schritt zurück … denn ich hatte ganz vergessen, daß ich mich am Rande des Grabens befand … und so fiel ich hinein. So, nun wißt ihr alles darüber, und das ist die volle Wahrheit.«

»Nein,« unterbrach ihn Claud mit hohler Stimme. »Es ist nicht die volle Wahrheit. Warum sollten wir verheimlichen, was doch jedermann argwöhnt? Ich habe ihn getötet.«

Damit schritt er an das Fenster und preßte seine Stirn gegen die Scheibe.

»Er mich getötet?« rief Freddy mit einem schwachen Lachen. »Das ist ein famoser Witz. Was? Claud Gervis – der beste Freund, den ich in der Welt habe! Ich hoffe, ihr glaubt das nicht. Ich kann einen heiligen Eid darauf schwören, daß er nie Hand an mich gelegt hat.« Als er dann bemerkte, daß Claud sich aus dem Zimmer begeben hatte, legte er den Finger an die Stirn. »Der arme, gute Kerl!« sagte er, »alle diese Geschichten sind ihm zu Kopfe gestiegen. Er weiß nicht, was er redet. Wenn ihr aber jetzt mich ein wenig allein lassen wolltet, wäre mir's doch lieb. Ich fühle mich etwas erschöpft und denke, ein bißchen Schlaf wird mir gut thun.«

Als wir eben das Zimmer verließen, hörte ich Genoveva mit zitternder Stimme nach dem Doktor rufen.

»Kommen Sie doch schnell her, bitte! Ich glaube, er ist ohnmächtig geworden!«

War er nur ohnmächtig geworden? Oberst Finch nahm meinen Arm und führte mich auf den Korridor, indem er erklärte, er verspüre einen Anfall seiner Gicht.

»Es ist alles aus!« stöhnte der alte Soldat, »alles vorbei! Das arme junge Blut! So dahingerafft zu werden, wo solche alte nutzlose Kerle wie Sie und ich übrig bleiben müssen! Ich hätte gern mein halbes Besitztum darum gegeben, wenn ich das hätte verhindern können!«

Der würdige Oberst mußte seinen Arm aus dem meinen ziehen, um sich heftig die Nase zu schneuzen, und mir war es sehr lieb, daß mein Arm frei wurde, weil ich dasselbe Bedürfnis fühlte. Der alte Gervis wollte mich nach Beachborough zurückfahren; ich zog es aber vor, den Weg zu Fuße zu machen; denn wirklich hätte ich gerade in diesem Augenblick seine Gesellschaft nicht ertragen können.



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