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Vierunddreißigstes Kapitel.
Ira brevis furor

Es war ein Glück, daß er nicht in das Haus konnte, ohne vorher geklingelt zu haben, und daß er auf das Oeffnen der Thür ein wenig warten mußte. Konnte er doch so wenigstens etwas die Herrschaft über sich selbst wiedergewinnen. Er war sich vorgekommen wie ein Rachegeist, vor dessen Annäherung die schuldigen Bewohner des Hauses zurückschrecken müßten. Der an der Thür erscheinende Diener aber zeigte weder Unruhe noch Ueberraschung, sondern erklärte einfach, Frau Gervis sei im Bibliothekzimmer und er wolle ihn sofort melden.

So trat unser Held seiner jungen Frau gegenüber und fand sie nicht allein. Sie saß neben dem Feuer und trug ein ebensolches Kostüm in Braun und Rot, wie sie es an dem sonnigen Herbsttage ihrer Verlobung getragen. Sicher war es nicht mehr dasselbe Kleid, denn wann hätte Nina je ein Kleid achtzehn Monate in Besitz gehabt? Aber Claud bemerkte das Zusammentreffen und es beschwichtigte ein wenig sein aufgeregtes Herz.

Der alte Flemyng mit seiner imposanten Weise und seinen Silberhaaren trat dem jungen Manne entgegen und bot ihm seine große weiße Hand zum Willkommen. Dann stand auch Nina auf und schritt auf ihn zu, und was konnte Claud thun? Er begrüßte sie und als er sich später an diesen Augenblick erinnerte – da glaubte er sich zu entsinnen, daß er sie auch geküßt hätte.

»Wir haben durch Ihren Vater erfahren, daß wir heute das Vergnügen Ihres Besuches erwarten durften,« sagte Flemyng in seinem pomphaften Stil. Sogleich stieg in Claud die Betrachtung auf, ob wohl Nina es absichtlich so angelegt habe, daß ihr Vater sich im Zimmer befand, als er eintraf? Jedenfalls verhinderte die Gegenwart des alten Herrn einen plötzlichen Ausbruch der Gefühle und während Flemyng seine endlose Rede abwickelte, fühlte Claud seine Wut sich mehr und mehr verkühlen. Die Lächerlichkeit der ganzen Lage erweckte in ihm sogar eine gewisse Heiterkeit, als ihm endlich zum Bewußtsein kam, daß die rollenden Phrasen des würdigen Herrn eine feierliche Strafpredigt enthielten, weil er vor mehr als einem Jahre mit Nina heimlich davongegangen war. Er konnte es sich nicht versagen, zu beobachten, was für eine Wirkung diese Strafrede ihres Vaters auf die junge Frau hatte. Diese aber studierte eifrig die Figuren des Ofenschirms und es ließ sich aus ihrem Betragen nicht ersehen, wie viel oder wenig sie hörte.

Flemyng dehnte seinen Vortrag ins Unendliche aus. Französisches Theater und Litteratur boten ihm, als das Thema der »Entführungsheiraten« erschöpft war, so ausgiebigen Stoff dafür, daß Claud ernstlich mit sich zu Rate ging, ob er nicht seinen Schwiegervater um eine halbstündige Privataudienz mit Nina bitten sollte. Glücklicherweise fiel dem alten Schwätzer noch zur rechten Zeit ein, daß er einen Besuch in Beachborough zu machen habe, und unter tausend Entschuldigungen entfernte er sich.

Claud war nun allein mit seiner Frau, aber die anklägerische Stimmung hatte ihn verlassen. Er näherte sich ihr langsam und beobachtete mit auf den Kaminsims gestützten Armen, wie sie noch immer ihren Ofenschirm studierte. Ein paar Minuten regte sich keines; jedes wartete auf das andere. Endlich blickte Nina auf.

»Nun?«

»Nun?«

»Was hat dich so plötzlich nach England zurückgeführt? Dein Vater sagte in seinem Billet, du würdest uns die Erklärung davon geben.«

»Es ist eine Entdeckung wegen Varinkas gemacht worden.«

»Ach, wegen der Prinzessin?« sagte Nina augenscheinlich sehr erleichtert. Ohne Zweifel hatte sie gefürchtet, daß, wenn eine Entdeckung gemacht worden war, sie einen ganz anderen als Varinka betreffen dürfte.

»Ja. In kurzer Zeit wird doch die ganze Geschichte ins Publikum dringen, da brauche ich also kein Geheimnis daraus zu machen. Ihr Gatte, Graf Ponetzky, von dem es hieß, er sei getötet worden, ehe sie meinen Vater heiratete, ist plötzlich aufgetaucht.«

»Was du sagst! Das arme Wesen! Wie schrecklich für sie! Und zu gleicher Zeit wie interessant! Setze dich doch und erzähle mir alles ausführlich!«

Claud setzte sich nicht, sondern erzählte ihr stehend so gedrängt wie möglich die Umstände, infolge deren er seine Schwester zu ihrem Vater gebracht hatte. Er endigte mit den Worten: »Ich hätte dir geschrieben, daß ich kommen würde, aber es war keine Zeit dazu, und zu telegraphieren lohnte es sich nicht.«

»Natürlich nicht, warum auch? Also der kranke Glymno war der Graf Ponetzky! Wie verhängnisvoll der Mensch schon aussah! Schade, daß ich ihn nicht mehr beachtet habe; aber er war so häßlich, daß ich nicht gern mit ihm reden mochte. Ich merkte wohl, daß ein Geheimnis bei der Sache war, und daß er Geld von der Prinzessin erpreßte, das wußte ich. Aber die Wahrheit ist mir nie in den Sinn gekommen. Meine Ansicht war, daß er einmal sehr intim mit ihr gewesen sein mußte. Ich hatte oft Mitleid mit ihr.«

»Das kann ich mir leicht vorstellen,« bemerkte Claud bedeutsam.

Erwartungsvoll erhob sie die Augen zu ihm; doch über ihre Lippen kam die Frage: »Wie steht es denn mit deinem neuen Stück? Ich höre ja die rühmendsten Berichte darüber, und erst vor einigen Tagen habe ich in der Pariser Korrespondenz der ›Times‹ eine lange Abhandlung darüber gelesen. Ich habe das Blatt zurückbehalten, um es dir zu schicken.«

»Danke schön; ich habe den Artikel gelesen, und was das Stück anbelangt, so wirst du es bald selber sehen können, denn in achtundvierzig Stunden werden wir in Paris sein.«

»Wir?«

»Ja; du und ich. Uebermorgen reisen wir ab.«

»Mein lieber Claud, wo denkst du hin? Ich kann unmöglich in so kurzer Zeit reisefertig sein.«

»Das thut mir leid, in dem Fall wirst du das Unmögliche thun müssen.«

»Ich verstehe dich nicht,« sagte sie kalt. »Ich kann in einer Woche fertig sein, wenn es sein muß, oder, wenn du nicht so lange warten kannst, so kann ich dir nachkommen. Von einem ›übermorgen abreisen‹ kann aber gar nicht die Rede sein. Ich muß nach London fahren, um ein Kleid anzuprobieren, und außerdem habe ich hier noch verschiedenen Einladungen nachzukommen.«

»Du mußt die Einladungen ablehnen und dein Kleid dir nachschicken lassen. Ich gehe übermorgen nach Paris zurück und bin nicht willens, dich hier noch länger allein zu lassen. Ich weiß nicht, ob dir eine noch deutlichere Sprache erwünscht ist.«

»Die wäre mir wirklich erwünscht, du schlägst ja einen sehr ungewöhnlichen Ton an.«

»Ich denke, du verstehst, was ich meine. Warum zwingst du mich zu solchen Auseinandersetzungen? Seit meiner Rückkehr höre ich von allen Enden, daß du dich hier zum Stadtgespräch gemacht hast, und ich bin entschlossen, der Sache ein Ende zu machen.«

Nina kam keinen Augenblick aus der Fassung. Sie lachte sogar und sagte dann ganz ruhig: »Ich muß gestehen, man hat keine Zeit verloren. Haben dich die Klatschschwestern gleich auf der Esplanade festgehalten und ihrem Herzen Luft gemacht? Oder hast du ein Heer anonymer Briefe empfangen?«

»Weder das eine, noch das andere,« bemerkte Claud kurz. »Frau Knowles erzählte mir über dich Dinge, die, wie es scheint, keinem Menschen ein Geheimnis sind – über dich und auch noch über jemand anderes.«

»O, wir brauchen doch wohl den Namen der anderen Person nicht ungenannt zu lassen, als ob es der Teufel wäre. Der arme, kleine Freddy!«

»Auf mein Wort!« rief Claud aus. »Ich dächte, du könntest dein Mitleid für andere Leute aufsparen, die es mehr verdienen.«

»Für dich, meinst du? Ich will es dir nicht vorenthalten. Ich würde jedermann bemitleiden, der sich von der Klatschsucht eines boshaften alten Weibes, wie Frau Knowles, beunruhigen läßt.«

Das war mehr, als Claud geduldig mit anhören konnte.

»Ich höre auch nicht auf die Klatschsucht boshafter alter Weiber. Frau Knowles würde nichts gesagt haben, wenn mein Vater sie nicht darum gebeten hätte. Und vermutlich ist der einzige Grund, aus dem er mir's nicht selber gesagt hat, der, daß er nicht über mich triumphieren wollte – wozu er das vollste Recht hätte. Boshafte Klatschsucht! Es ist das Geschwätz der ganzen Gegend. Als ich hierher kam, hielt mich ein gewöhnlicher Fischer auf –«

»Thomas Burvill, setze ich voraus.«

»Es war Tom Burvill, wenn das einen Unterschied macht.«

»Ein notorischer Trunkenbold und Wilddieb, der einen Haß gegen uns hat, bloß weil wir ihn für mehrfache Vergehungen gegen unser Eigentum nicht bestrafen ließen. Nun, was für Neuigkeiten hat dir denn dieses vertrauenswerte Geschöpf zugetragen?«

»Nur etwas, wofür er den Beweis seiner eigenen Sinne anführen kann. Er sagte mir, daß er selbst gesehen habe, du habest dich von Freddy – küssen lassen.«

Bei Erwähnung dieser Mitteilung errötete nicht Nina, sondern Claud.

Sie lachte verächtlich.

»Und du glaubst das?«

»Ich wäre sehr froh, wenn ich es für eine Lüge halten könnte.«

»Es ist eine Lüge, und eine absichtliche Lüge, sollte ich denken. Möglich, daß dein Freund ein anderes Paar für uns angesehen hat … Aber du glaubst mir nicht, wie ich sehe.«

Claud zögerte. In seinem Herzen kam ihm der betrunkene Fischer vertrauenswürdiger vor als seine Frau. Kalt fragte er: »Warum sollte ich dir glauben? Du hast mich betrogen.«

»So? Das müßte doch erst bewiesen werden. Wenn du mich direkt gefragt hättest, hätte ich dir auch eine ehrliche Antwort gegeben. So viel müßtest du mich doch kennen, daß, was ich auch bin, ich keine Lügnerin bin.«

»Willst du behaupten, nichts gethan zu haben, dessen du dich schämen müßtest?«

»Ah, da fragst du mich zuviel. Du mußt Fragen stellen, die man beantworten kann. Wenn du mich zum Beispiel gefragt hättest, ob Freddy Croft mich je geküßt hat, so würde ich ›ja‹ gesagt haben. Er hat mich einmal geküßt – aber eben nur einmal.«

»Ah, du gibst doch einmal zu.«

»Das thue ich. Und da das sich im letzten Herbst ereignete und ich ihn seitdem fast täglich gesehen habe, ohne daß er je etwas Aehnliches wiederholt hätte, so wirst du mir zugeben, daß ich ihn nicht sehr ermutigt habe. Vielleicht meinst du, ich hätte dir mit der ersten Post darüber schreiben sollen.«

»Ich meine jedenfalls, daß es etwas seltsam ist, wenn du selbst eingestehen mußt, ihn jeden Tag gesehen zu haben.«

Dann trat eine Pause ein, nach der Claud widerwillig anfing: »Ich weiß kaum, was ich zu dir sagen soll – noch weniger, inwieweit ich dir glauben kann … Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich mache.«

Sie sah ihm voll ins Gesicht und ihre Manier war die mitleidiger Herablassung.

»Du meinst, wir befänden uns in einer schiefen Lage, aus der du gern heraus möchtest, wenn es irgendwie möglich wäre. Außer durch eine Ehescheidung sehe ich aber nicht, wie wir herauskommen sollten, und dafür, fürchte ich, liegen doch wohl keine Gründe vor.«

Claud machte eine ärgerliche Handbewegung.

»Du sprichst, als ob du nicht im geringsten zu tadeln wärest.«

»So sprach ich? Das wollte ich nicht. Ich glaube wohl, daß ich Tadel verdiene. Ich bin herzlos, leichtfertig, unnütz, übermütig – alles, was du willst! Aber ich warnte dich, du kannst nicht anders sagen, als daß ich dich gewarnt habe.«

»Wovor denn gewarnt – daß du mir untreu werden würdest?«

»Höre, Claud, ich will so offen reden, wie ich kann. Ich will dir nichts verbergen. Erinnerst du dich noch, wie ich eines Tages vor unserer Verheiratung dir sagte, daß ich niemals auf eine lange Verlobung eingehen würde?«

Claud nickte.

»Und ich sagte dir, warum. Ich versuchte, mich so zu schildern, wie ich bin, damit du mich nicht mit geschlossenen Augen heiratest. Du wolltest oder konntest mich bis auf diesen Tag nicht verstehen. Das kommt daher, daß du so gänzlich von mir verschieden bist. Du thust nie mit Absicht etwas Böses; du hast einen Willen oder ein Gewissen, wodurch du der Versuchung widerstehen kannst. Ich bin das direkte Gegenteil. Ich muß weder einen Willen noch ein Gewissen haben. Wenn ich unrecht thue, so weiß ich sehr wohl, daß es unrecht ist; aber ich thue es darum doch. Ich fasse nie mehr gute Entschlüsse, weil ich im voraus weiß, daß ich sie brechen werde. Ich kann weiter nichts thun, als die Menschen vor meiner Art und Weise warnen. Aber ich bin nun einmal, was ich bin; ich habe mich nicht selbst gemacht.«

»Das ist ein bequemer Weg, die Verantwortlichkeit von sich abzuschütteln. Demgemäß könnte ich einem sagen, wenn er mich reizte, würde ich ihn töten, und tötete ich ihn dann, so wäre er selber schuld daran.«

»Nun, er müßte doch ein Idiot sein, wenn er nach einer solchen Erklärung dich noch reizen würde. Mir scheint es, als wärest du nie auf den Gedanken gekommen, daß ich wohl auch etwas an dir auszusetzen hätte.«

Claud seufzte.

»Frau Knowles sagte, ich hätte dich nicht allein nach England schicken dürfen; aber du wirst dies Argument schwerlich gegen mich ins Feld führen wollen.«

»O nein, nach England bin ich aus freien Stücken gegangen und auch freiwillig hier geblieben. Das ist es nicht.«

»Was denn sonst?«

»Du liebst mich nicht mehr! Wenn du fortgefahren hättest, mich zu lieben, so wäre alles anders gekommen. Eine Zeitlang hast du mich geliebt, aber nicht lange. Ich sagte dir das auch im voraus, und ich bin die letzte Person in der Welt, die dich deswegen tadeln würde, denn ich weiß, daß du nicht dafür kannst. Aber Thatsache ist doch, daß du mich nicht mehr liebst.«

Claud zuckte innerlich zusammen; ihr Pfeil hatte getroffen. Er hätte die halbe Welt dafür gegeben, wenn er ihr seine unveränderte Liebe hätte beteuern können; aber er konnte es nicht. So griff er zu seiner alten Klage zurück.

»Warum bist du gegangen und hast mich allein gelassen?«

»Warum? Eben aus diesem Grunde, den ich dir jetzt genannt.«

»Nina,« sagte Claud jetzt sanft, »ich denke, es thut dir leid, daß du solche Verwirrung angerichtet hast. Wenn du vorher überlegt hättest, was du thatest, so hättest du es gewiß nicht gethan.«

Ihre Antwort war schwerlich die, die er erwartet hatte. Nachdenklich sagte sie: »Ich glaube nicht, daß es mir leid thut. Mir thut nur leid, daß davon so viel Wesen gemacht wird, im übrigen kann ich nicht sagen, daß ich der Sache Bedeutung beilege.«

Claud tappte ungeduldig mit dem Fuß und runzelte die Stirn.

»Ich kann mir gar nicht vorstellen, was du unter diesen Redensarten eigentlich suchst. Es kann ja kein Mensch so herzlos und selbstsüchtig sein, wie du dich machen möchtest.«

Ein Lächeln der Verwunderung glitt über Ninas Gesicht.

»Es ist keine Verstellung. Ich meine, was ich sage. Was habe ich denn gethan, wofür ich in Sack und Asche Buße thun müßte? Ich habe mich auf meine Weise amüsiert, und das werde ich thun bis ans Ende meines Lebens. Untreu werde ich dir niemals werden, und ich lasse dich ja auch deine eigenen Wege gehen. Manche Frauen wären zum Beispiel nicht wenig beunruhigt, wenn ihre Männer alle Tage allein im Theater wären und mit hübschen Schauspielerinnen verkehren könnten.«

»Ah, ich sehe, es ist hoffnungslos,« sagte Claud.

Nach einer Pause verzweiflungsvollen Zornes fuhr er fort: »Wir haben ja sehr heitere Aussichten vor uns; aber wir müssen so gut wie möglich damit fertig werden. Nur auf einem muß ich bestehen, übermorgen mußt du mit mir nach Paris kommen.«

»Das werde ich auf keinen Fall thun,« gab Nina ganz ruhig zur Antwort.

»Sehr wohl. Dann werde ich dich dazu zwingen.«

»O, das ist unmöglich. Wie willst du das machen? Willst du einen Wagen vor die Thür bringen und mich an den Haaren hineinschleppen?«

»Ich hoffe, du wirst es nicht so weit treiben; aber mitkommen mußt du. Du läßt mir nichts weiter übrig, als daß ich mit deinem Vater sprechen muß.«

»Der arme, alte Mann! Der wird viel ausrichten! Meinst du, er könnte mich zwingen, wenn du es nicht kannst? Wirklich, Claud, du solltest nachgeben; unser Streit fängt an, gräßlich gewöhnlich zu werden.«

»Nina, du hast mir gezeigt, daß es eine Verschwendung von Zeit und Kraft ist, wenn man dich an deine Pflicht und den dir selbst schuldigen Respekt erinnert. Ich will dich beschwören bei dem, was du immer zu besitzen zugegeben hast – bei deinem guten Herzen. Wenn du dir zu Gemüte führst, was du hier anrichtest, so kannst du mir den Wunsch nicht abschlagen, dich übermorgen nach Paris mitzunehmen. Denke doch, um was es sich handelt – eine Woche der Befriedigung deiner Laune oder Eitelkeit gegen ein Leben des Jammers für andere!«

»Ein Leben des Jammers! Bildest du dir ein, Freddy Croft könnte sich sein Leben hindurch unglücklich fühlen?«

»Ich spreche nicht von Freddy Croft! Ich spreche von meiner Schwester.«

»Ach was, der schadet's nicht; sie kommt darüber weg,« erwiderte Nina hart.

Als sie diese Worte sprach, da war es Claud, als sähe er seine Frau zum erstenmal, wie sie wirklich war. Zwischen ihm und ihr schien sich ein Abgrund aufzuthun, über den hinweg sie sich nie wieder die Hand reichen könnten. Ziemlich ruhig gab er ihr zurück: »Du meinst, ihr wird es nichts schaden; natürlich – du beurteilst sie nach dir selber. Aber sie ist nicht wie du – Gott sei Dank!«

»Wem man auch dafür Dank schuldig ist, so viel steht fest, sie ist nicht wie ich. Es ist jammerschade, daß sie gerade deine Schwester ist. Wäre sie das nicht, so hättest du sie heiraten können und ich Freddy Croft; da wären passendere Partieen zustande gekommen. Wenn ich wirklich dazu beitragen könnte, daß ihre Verlobung auseinander ginge, so hätte ich sie von einem Leben des Jammers errettet. Wer weiß, vielleicht dankt sie mir noch einmal.«

»Sie wird dir nicht danken, sondern dir fluchen, wie ich es thue!« rief Claud heftig.

Nina erhob sich.

»Wenn du dich in dieser Weise vergessen willst, so ist es besser, ich gehe,« sagte sie.

Aber ihr Mann sprang an die Thür und stellte sich mit dem Rücken dagegen. Seine Augen blitzten, seine Wangen waren totenblaß, seine Stimme zitterte.

»Du wirst dieses Zimmer verlassen, wenn ich dich hinauslasse, keine Minute eher!« rief er rauh.

Nina sah ihn an und erschrak. Sie fiel auf ihren Stuhl zurück, hob flehentlich die Arme in die Höhe und schluchzte: »Claud, Claud!«

Er blickte in ihr Gesicht – und dann riß er die Thür auf und stürzte aus dem Zimmer und aus dem Hause wie ein Flüchtiger – vor wem er floh, wußte er selber nicht.

In der kühlen Luft und dem Zwielicht kam ihm die Vernunft bald zurück; der Gedanke aber kam ihm nicht, wieder zu seiner Frau zurückzukehren. Er wanderte über den feuchten Rasenplatz dahin nach der weitästigen Ceder, in deren Schatten er so viele glückliche Stunden verlebt hatte. Dort lehnte er sich an einen Baumstumpf und dachte nach – dachte nach über alles, was sich in einem so kurzen Zeitraum ereignet hatte.

Mit der Dunkelheit zugleich schlich ein kalter Nebel das Thal herauf, als Claud langsam davonging, das Haupt gebeugt, die Hände auf dem Rücken. Die Trostlosigkeit der landschaftlichen Umgebung bildete die passendste Begleitung zu seinen melancholischen Betrachtungen.

»Ich werde mich in Paris mit dem einrichten müssen, was ich verdiene,« dachte er, »und werde mein festes Einkommen ihr überlassen. Mit ihr zusammen zu leben, werde ich doch nicht mehr imstande sein. Der arme alte Vater! Er hatte mehr als zu recht! Zum Teufel mit allen Weibern! Sie sollen bis ans Ende meiner Tage nicht mehr viel von mir zu sehen bekommen. Und das Schlimmste ist, daß sie mich nun doch besiegt hat! Was soll man aber mit einer Frau anfangen, wenn sie einen so weit treibt, daß Worte einem nicht mehr ausreichen? Ja, wenn sie ein Mann wäre!«

Unwillkürlich ballte er die Faust. Genau in diesem Augenblick tauchte plötzlich dicht vor ihm auf der anderen Seite des Grabens eine männliche Gestalt auf und mit frischen, lebhaften Schritten, munter pfeifend, überschritt jemand die Zugbrücke. Der lustige Fußgänger war nicht schwer zu erkennen. Clauds Herz hüpfte vor Freuden – sah er hier nicht seinen geheimen Wunsch erfüllt? Er blieb regungslos, bis der andere seinen Fuß auf den Kies des Gartens gesetzt hatte. Dann machte er zwei Schritte vorwärts und stand ihm gegenüber. Freddy trat entsetzt einen Schritt zurück. Der Ausruf, den er auf den Lippen hatte, erstarb, als er Clauds Gesicht erkannte. Claud rüstete sich, ihm einen fühlbaren Faustschlag zu versetzen.

Der Schlag wurde nie ausgeführt. Kein Mensch hat je Freddy Croft der Mutlosigkeit angeklagt: aber wir alle kennen den Einfluß eines bösen Gewissens, und höchst wahrscheinlich beraubte die Plötzlichkeit der Begegnung den jungen Baron aller Geistesgegenwart. Wie dem auch sei, er that noch einen hastigen Schritt zurück, verlor den Halt unter den Füßen und stürzte rücklings in den Graben.

Claud brach in ein Lachen aus.

»Du hast mir die Mühe erspart, dich niederzuschlagen,« rief er, »aber ich kann dir nur raten, daß du mir die nächsten Tage nicht in den Weg kommst, wenn dir dein Leben lieb ist.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, überschritt er die Brücke und ging mit großen Schritten davon, im Herzen eine förmliche Erleichterung verspürend.

Erst als er schon die Hälfte der Allee zurückgelegt hatte, erinnerte er sich der Tiefe des Grabens, und daß sein Gegner sich vielleicht gefährlich verletzt haben möchte. Er blieb stehen und lauschte: es war kein Ton zu hören. Halb widerwillig wandte er sich um. Wer weiß, am Ende hat er sich gar das Genick gebrochen! dachte er. Indem er sich dem Rande des Grabens näherte, rief er laut: »He, Croft, liegst du da unten?«

Ein schwaches Stöhnen war die einzige Erwiderung.

Claud kletterte hinunter, fühlte mit den Händen in der Dunkelheit umher und fand Freddy noch auf demselben Fleck liegend, wohin er gefallen war.

»Was ist denn, Freddy? Was hast du dir denn gethan?« fragte Claud besorgt.

»Ich habe mir das Kreuz gebrochen,« antwortete der junge Baron mit erloschener Stimme.

»Unsinn, Mensch! steh doch auf!« gab Claud zurück, mochte aber nicht einmal sich selber seine Sorge eingestehen.

»Ich kann nicht! Ich habe keine Empfindung in den Beinen. Sei doch so gut und laufe nach den Ställen, damit sie einen Tragkorb oder so etwas herschaffen. Ich –«

Die Stimme des Sprechenden verschwamm in einem langen Seufzer, und sein Kopf sank wieder zurück.

»Barmherziger Gott, er ist tot.«

In einem Augenblick ging die ganze entsetzliche Lage vor den Augen des jungen Mannes vorüber. Er sah Genovevas zerrissene Brautschaft; er sah Lady Crofts Verzweiflung; er sah Croft Manor in die Hände irgend eines entfernten Verwandten übergehen; er sah sich als Mörder gebrandmarkt, wenn nicht vor dem Gesetz, so doch vor der Welt. Und als er so überlegte, einen wieviel größeren Riß der Tod dieses Mannes verursachte, als sein eigener, da packte ihn ein wildes Verlangen, er möchte an Freddys Stelle da unten liegen. Das alles schoß durch sein Gehirn, während er Freddys Hemd und Weste aufriß und nach dem Schlage seines Herzens fühlte, der noch leise zu vernehmen war.

Die Ereignisse der nächsten Stunden sind so gräßlich erschütternd in Clauds Erinnerung, daß er niemals dabei verweilen, sie aber ebensowenig jemals vergessen kann. Er erinnert sich, wie er nach dem Hause zurückstürzte und gedankenschnell wieder am Graben war mit einer kleinen Schar Dienstboten, Kutscher und Stalljungen, die eine Tragbahre und Laternen herbeischafften. Auch Nina war da, bleich und entsetzt, und Flemyng, der zum erstenmal in seinem Leben sprachlos war. Claud erinnerte sich, wie er den armen Menschen in das Haus tragen half, und wie sie ihn dort ins Bewußtsein zurückriefen. Sobald er aber in ein Bett gebracht werden sollte, bat Freddy so dringend und flehentlich, nach Hause geschafft zu werden, daß man es für das beste hielt, ihm seinen Willen zu thun, um ihn nicht aufzuregen. Er wurde auf eine Matratze gelegt und nach Croft Manor getragen. Einer der Männer sollte ein Pferd satteln und den Arzt herbeirufen. Claud aber gab es nicht zu.

»Ich kann schneller hinlaufen als ihr das Pferd sattelt und hinreitet,« sagte er und ehe ihm einer antworten konnte, war er schon auf und davon.

Claud war ein tüchtiger Läufer, und da er das Haus genau im Gedächtnis hatte, so kam er nach einer halben Stunde, die er in Angst und Schrecken zurücklegte, endlich an seinem Ziele an, aber nur, um den Bescheid zu erhalten, der Doktor sei von seinem täglichen Rundgange noch nicht heimgekehrt.

In Todesangst wanderte Claud noch über eine Stunde in dem Vorgärtchen auf und ab, ehe der Wagen des Arztes sich dem Hause näherte.

Der gelehrte Mann war herzensgut, wenn auch nicht von sehr gewinnendem Wesen, und seine eigene Bequemlichkeit trat ihm weit hinter das Wohl seiner Patienten zurück. Sobald er das Vorgefallene erfahren, wandte er sein müdes Pferd um, sagte kurz: »Steigen Sie nur ein!« und befand sich sogleich wieder auf dem Wege nach Croft Manor.

Gesprochen wurde nicht viel unterwegs. Einige Zeit darauf saß Claud in der Halle des Herrenhauses und erwartete gleichsam sein Todesurteil. Wie lange er wartete, davon hatte er keine Ahnung. Er merkte nur, daß eine unterdrückte Erregung durch das ganze Haus ging, daß Thüren auf- und zugemacht wurden, Diener treppauf, treppab liefen und geheimnisvoll miteinander flüsterten. Dazwischen kamen allerlei Leute in Gesellschaftstoilette, stellten sich in Gruppen zusammen, sahen seltsam nach Claud hinüber, redeten ihn aber nicht einmal an.

Endlich, endlich kam der Arzt herunter und eilte hastig der Thür zu. Claud sprang auf und folgte ihm. Sobald sie draußen waren, fragte er begierig: »Nun, wie steht's?«

Der Arzt hatte bereits die Zügel ergriffen und stand mit einem Fuß auf dem Trittbrett.

»Ich will nach London telegraphieren,« sagte er. »Es wird Ihnen ein Trost sein, den zuverlässigsten Rat zu hören.«

»Wird sein Leben gerettet werden?«

»Wer weiß. Ich glaube es nicht. Aber hoffen wir das Beste. Im besten Falle aber auch – der arme Teufel wird nie wieder gehen können.«

Claud verstand den Doktor kaum. Seine ganze Seele war von einer Sorge eingenommen: »Wird er am Leben bleiben?«

»Wir müssen das Beste hoffen.« Damit fuhr der Doktor davon.

Claud schwankte ziellos hinaus in die Nacht.



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