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Zweiunddreißigstes Kapitel.
Die Geschichte des Grafen Ponetzky

»Die Geschichte meines Lebens ist eine so wechselvolle und dadurch lehrreiche, daß ich schon oft bedauert habe, kein Tagebuch hinterlassen zu können, aus dem nach meinem Tode ein sehr interessanter Roman zusammengestellt werden könnte. Ich will Ihnen die Geschichte meiner Jugend ersparen bis dahin, wo ich mit der Prinzessin Uranow zusammentraf. Dies geschah in Dresden. Ich war politisch kompromittiert, hatte in meinem Vaterlande die Ehre mehrfacher polizeilicher Haussuchungen gehabt und hielt es für das Geratenste, mich über die westliche Grenze zurückzuziehen, um nicht auf Staatskosten eine langwierige Reise nach dem fernen Osten unternehmen zu müssen. Ich hatte beinahe den letzten Rubel meines Erbteils ausgegeben und sah ein, wie vollständig unfähig ich für jede Beschäftigung war, mit der sonst ein Mann seinen Lebensunterhalt gewinnt. Schon stand ich im Begriff, Straßenräuber zu werden, als die Prinzessin auf der Bühne erschien und mich von allen meinen Sorgen befreite. Ich heiratete sie einzig und allein um ihres Geldes willen, durchaus nicht aus Liebe – so ungalant das klingen mag. Nur die bitterste Not konnte mich bewegen, daß ich einer Russin die Hand reichte – ich, ein Pole, ein politischer Flüchtling! Ah, wenn Sie gesehen hätten, was ich gesehen habe – wie die Männer ihren Familien, die Kinder ihren Eltern entrissen, wie in einem Jahre achtzigtausend Polen nach Sibirien geschickt wurden! Das sind Dinge, die man nicht wieder vergessen kann. Ach mein armes, armes Vaterland, was hast du leiden müssen!«

Die erschlafften Züge des kranken Lebemannes verklärten sich für einen Augenblick; seine sonst so heisere Stimme klang hell durch das Gemach; er hielt inne und rang zitternd nach Atem. Ein fürchterlicher Hustenanfall packte ihn, und als dieser überstanden war, sank er wie leblos zurück und der kalte Schweiß stand auf seiner Stirn. Eine Flasche mit Limonade stand auf dem Tische, Claud füllte hastig ein Glas damit und reichte es dem Grafen, er trank und verfiel dann wieder mit geschlossenen Augen in einen Zustand der Erschöpfung, der dem Tode so ähnlich war, daß die Prinzessin in die Höhe fuhr und ihren Mann (das war er doch trotz alledem und alledem) entsetzt anstarrte. Bald aber erholte er sich wieder, zündete sich mit zitternden Händen eine neue Cigarette an und fuhr in seinem Vortrag fort: »Zu der Zeit, von der ich rede, gehörte ich einer Gesellschaft an, über die ich Ihnen nichts weiter sagen kann, als daß ihre Statuten nicht dazu angethan waren, die Mitglieder ein ruhiges, bequemes Leben führen zu lassen. Es war nicht sobald bekannt, daß die Millionen der Prinzessin mir zugänglich waren, als ich auch schon Rechenschaft darüber geben mußte. Meine fortwährenden Geldforderungen und zeitweiligen Reisen, für die ich keinen Grund angeben konnte, hatten bald genug allen ehelichen Frieden zwischen mir und meiner Frau zerstört.

»Es war im Herbst 1858, als ich mich auf den Weg nach Warschau machte, um die ersten Vorbereitungen für den großen Aufstand zu treffen, der fünf Jahre später zum Ausbruch kommen sollte. Ich hatte alles mir Aufgetragene vollendet und war im Begriff, wieder über die Grenze zu entfliehen, als ich der Polizei in die Hände fiel. Das Weitere können Sie sich denken: ich wurde zur Verbannung nach Sibirien verurteilt. Sie haben von den melancholischen Gefangenentransporten durch die Dörfer im Osten Rußlands gehört. Ich kann Ihnen sagen, daß ich vor Ablauf einer Woche fünfzigmal beschlossen hatte, einen Fluchtversuch zu machen, bloß um niedergeschossen und von meiner Qual erlöst zu werden. Meine Füße schmerzten derartig, daß jeder Schritt mir Todespein verursachte, und die einzige Ermutigung, die mir wurde, war ein Peitschenhieb oder ein Stoß mit der Lanze eines der uns begleitenden Kosaken. Das Schicksal wollte es, daß in einer Nacht die Kälte so scharf wurde, daß ich auf dem Fußboden des hölzernen Stationshauses, wo ich mit einigen hundert Leidensgefährten die Nacht zubringen sollte, nicht schlafen konnte, so todesmüde ich mich auch niedergelegt hatte. Da lag ich nun und malte mir aus, wie köstlich es sein müßte, dem im Thorweg ausgestreckten schlafenden Offizier den Hirnschädel einzuschlagen. An der kahlen Mauer hing eine Nachtlampe, bei deren elendem Schein ich eine Pistole entdeckte, die neben dem schnarchenden Lieutenant lag und die wildesten Gedanken in mir erweckte. Zuletzt konnte ich dem Verlangen nicht widerstehen. Ich kroch wie ein Dieb auf Knieen und Händen nach der Thür und bemächtigte mich der Pistole. Dann belauschte ich knieend den schweren Atem des Schlafenden, der, wie es scheint, kein anderer als der liebenswürdige Karakow war, nur daß ich seinen Namen nicht eher als heute abend in Paris erfuhr.

»Wenn ich aus der Thür gelangte und draußen die Schildwache totschoß, so ließ sich hundert gegen eins wetten, daß ich mich hätte retten können. Die Schwelle zu überschreiten, ohne diesen plumpen Körper zu bewegen, war jedoch eine pure Unmöglichkeit. Ein Ausweg fiel mir ein. Ich beugte mich über meinen Kosaken und rührte seinen Arm an. Als er die Augen öffnete, sah er mich neben sich kauern, den Finger an die Lippen und die Pistole einen Zoll weit von seiner Stirn haltend.

»Jedes intelligente Wesen an seiner Stelle würde unter den obwaltenden Umständen geschwiegen und mich als Herrn der Lage anerkannt haben. Dieser russische Lieutenant kann aber nie das leiseste savoir-vivre besessen haben. Er fuhr auf mich zu und brüllte, als ob der Tag des Gerichtes erschienen wäre. Ich gestehe, daß sein Benehmen mich so unvorbereitet traf, daß ich zurücksprang, ohne den Hahn zu ziehen. Als indessen die Schildwache hereinstürzte, faßte ich mich. Ich feuerte auf Karakow, sah ihn hinstürzen, brachte den Kolben meiner Pistole mit dem Ohr des einen Soldaten in sehr nahe Berührung und floh hinaus in die Nacht – die anderen Kosaken, die der Schuß erweckt hatte, wie ein Rudel Wölfe hinter mir her.

»Das Stationshaus stand am Ausgang des Dorfes, und ich war besonnen genug, nicht in das offene Feld hinauszueilen, wo man mich unfehlbar eingefangen hätte, sondern die Dorfstraße hinunterzustürzen. Mit Hilfe der Dunkelheit und mannigfacher Kunstgriffe gelang es mir, meine Verfolger irre zu führen. Ich wandte mich nun nach der Richtung des Stationshauses zu und kroch über den Fahrweg nach einem alleinstehenden Gebäude, an dem die Lehmmauer, die das Dorf umgab, vorüberführte. Ich stahl mich in einen Schuppen und verbarg mich hinter einer Schicht Holz. Dort blieb ich mehr als halb erstarrt bis zum Morgen. Die Kosaken kamen nicht an mein Versteck. Ich hörte sie die Straße hinunter und außen um die Mauer herumgaloppieren; aber in den Hof kamen sie nicht, und endlich wurde alles still.

»Ich schäme mich nicht zu gestehen, daß unter dem Eindruck der schrecklichen Kälte vor dem Grauen des Morgens jedes Restchen Mut in mir erstorben war. Soviel war mir gewiß: der Zug würde den Ort nicht verlassen, ehe man nicht jeden Winkel darin untersucht hatte. Das Feld erreichen zu wollen, wäre gewisser Tod gewesen, und von menschlicher Barmherzigkeit zu hoffen, daß sie die Gefahr auf sich nehme, mich zu verbergen, schien verlorene Hoffnung zu sein. Allein mit dem ersten Anbruch des Tages kam eine Frau aus dem Hause, um Holz zu holen; der entdeckte ich mich und war gefaßt darauf, daß sie sogleich nach dem Stationshause eilen und Alarm schlagen würde. Sie aber erwies sich als eines der wenigen menschlichen Geschöpfe, die Herz und Kopf auf dem rechten Flecke haben. Kein Wort kam über ihre Lippen, sie winkte mir nur, ihr in das Haus zu folgen, zog dort im Fußboden eine Fallthür in die Höhe und zeigte nach unten.

»Sie werden mir glauben, daß ich keine zweite Aufforderung brauchte, um die Leiter hinunterzuklimmen, die in den Keller führte. Dann brachte mir meine Retterin einen Laib Brot und eine Flasche mit Wutki und flüsterte mir zu: ›Haken Sie die Leiter ab und ziehen Sie sie ganz beiseite.‹ Das that ich und sofort ließ sie die Fallthür herab und mich in vollständiger Finsternis zurück.

»Das Brot und der gute Wutki erfrischten meine Lebensgeister. Ich mußte einige Stunden in dem Keller zugebracht haben, als ich über meinem Haupte das Trampeln der Kosaken hörte, die ich längst erwartet hatte. Sie hatten sich's in den Kopf gesetzt, daß ich mich irgendwo im Hause aufhalten müßte, und die Bestürzung meiner Wohlthäterin bei dem Gedanken, ein Mann könne sich in ihrem Gehöfte verborgen haben, war entzückend mit anzuhören. Und wie groß war ihr Mut und ihre Schlauheit! Nachdem sie die Männer in jedes Zimmer geführt und ihnen jeden Schrank geöffnet hatte, hielt sie plötzlich bei der verhängnisvollen Fallthür an, zog sie auf und ließ einen Streifen grauen Lichtes hineinfallen mit den Worten: ›Sollte er nicht am Ende hier hinein gesprungen sein?‹

»›Wie können Sie denken, daß ein Mann in ein solches Loch hinunterspringen könnte, ohne sich Arme und Beine zu brechen?‹ fragte eine Stimme, die ich für die des Anführers der Truppe erkannte.

»›Es ist wahr, wir benutzen den Raum niemals; aber mir ist, als wäre früher hier eine Leiter gewesen. Jean, war hier nicht früher eine Leiter?‹

»›Du weißt doch recht gut‹ knurrte eine männliche Stimme, ›daß unsere kürzeste Leiter zwanzig Fuß lang ist und daß die draußen in der Scheune steht.‹

»Mit einem Knall wurde die Fallthür heruntergelassen und meine Kosaken marschierten weiter und überließen es mir, mir die Hände zu reiben und die Verschlagenheit dieses würdigen Paares zu preisen!

»Das einzige, was ich an den biederen Leuten zu tadeln hatte, war ein Uebermaß an Vorsicht. Vier Tage und Nächte hindurch hielten sie mich da unten im Finsteren, nur von Zeit zu Zeit wurden mir Gefäße mit heißem Wasser heruntergelassen, damit ich nicht zu Tode erstarrte. Alle meine Bitten um Befreiung blieben aber durchaus unberücksichtigt. ›Alles zu seiner Zeit,‹ sagten sie, und allerdings bewiesen sie ja durch die Beherbergung eines entlaufenen Sträflings eine Uneigennützigkeit, deren nicht viele Bauern fähig sind. Als ich endlich dem unterirdischen Kerker entstieg, war meinen Wirten weit weniger daran gelegen, meinem feurigen Dank zu lauschen, als mich so bald wie möglich los zu werden.

»Wenn ich Ihnen sage, daß alles, was ich besaß, fünfundsiebzig Kopeken waren, mit denen ich mich auf den wirrsten Kreuz- und Querzügen nach der Türkei, den Donaufürstentümern und Oesterreich hindurchbettelte, so werden Sie einsehen, daß dies nur unter Abenteuern geschehen konnte, die allein einen ganzen Band füllen würden. Ich habe schon in meinem früheren Leben keine überpeinlichen Skrupel gehabt; in dieser Periode von zwei Jahren wurde ich, ohne mir zu schmeicheln, ein so vollendeter Lump, wie nur in ganz Europa einer zu finden ist. Sie werden sich wundern, daß ich nie an meine Frau schrieb; aber ich muß gestehen, daß ich dazu zu feige war. Ich glaubte, den Offizier getötet zu haben, und hatte keine Lust, den Russen noch einmal in die Hände zu fallen. Außerdem glaubte ich, mit der Vergangenheit ein für allemal gebrochen zu haben. Die Verhältnisse hatten mich an Leib und Seele so degradiert, daß ich mich gar nicht mehr für identisch hielt mit dem früheren Grafen Ponetzky. Ich legte mir deshalb den Namen Glymno bei.

»Es war Schicksal oder Zufall, nicht meine Absicht, die mich schließlich dazu führte, meine ehelichen Rechte wieder aufzufrischen. Eine Reihe von Glücksumständen führte mich im Jahre 1860 nach Wiesbaden, und zwar in einem anständigen Rock und mit barem Geld genug, mich beim Trente-et-quarante zu amüsieren. Ehe ich mich eine Woche lang dort aufhielt, hatte ich das Vergnügen, meine Frau am Arme eines vornehm aussehenden Herrn den Kursaal betreten zu sehen. Sie sahen so glücklich aus, daß ich mich ganz darauf gefaßt machte, zu hören, was ich bei einer Nachfrage in ihrem Gasthofe wirklich hörte, daß sie ein seit kurzem verheiratetes Paar waren. Ich hätte allerdings jetzt augenblicklich verschwinden sollen; ich that es aber nicht, sondern lauerte der Prinzessin am nächsten Morgen auf ihrem Rückwege vom Brunnen auf und entdeckte mich ihr. Auf mein Wort, sie that mir leid. Ich hörte von ihr, daß ein ausführlicher Bericht über mich in Petersburg eingereicht worden war, aus dem hervorging, daß ich bei einem verzweifelten Fluchtversuch erschossen worden sei. Sie machte mir die höchsten Anerbietungen, wenn ich nur gehen und mich nicht wieder zeigen wollte; natürlich hatte ich gegen ein solches Arrangement nichts einzuwenden. Als wir uns aber in die Details vertieften, konnten wir über die Geldfrage nicht einig werden und hatten mehrere Zusammenkünfte nötig, was unklug und unglücklich war. Leider nämlich überraschte uns Ihr Herr Vater, Herr Gervis, der damalige Gatte der Prinzessin, bei einer Unterredung und zog den Schluß daraus, den jedenfalls die meisten Gatten in seiner Stelle gezogen hätten. Ich bedauerte es außerordentlich. Ihr Vater kann, wie es scheint, nicht leicht vergeben. Sie wissen, wie er und die Prinzessin alle diese Jahre hindurch gelebt haben. Jetzt wissen Sie auch die Ursache ihres Bruches. Was für Ursachen seitdem noch hinzugekommen sind, kann ich nicht sagen.«

»Es sind keine Ursachen hinzugekommen,« warf die Prinzessin entrüstet dazwischen; »aber Sie glauben ja immer das Schlechteste von jedem Menschen. Claud, du siehst, was dieser Mann für mich gewesen ist – er hat mein ganzes Lebensglück vernichtet. Aber er hat noch nicht alles gestanden. Seit jenem Tage in Wiesbaden bis heute ist er mir eine beständige Last gewesen – und was für eine Last – mon Dieu! was für eine Last! Wenn er alle die Summen zusammengehalten hätte, die er mir abgepreßt hat, so könnte er jetzt wie ein Prinz leben. Oft konnte ich ihm nicht geben, was er forderte – ich war gezwungen, mich an deinen Vater zu wenden: du kannst dir vorstellen, was das für mich war. Der arme Gervis! ich habe ihm zuweilen harte Namen gegeben, weil er mich gereizt hatte; aber er hat mir nie Geld verweigert und hat mich nie gefragt, wozu ich es brauchte. Er verabscheut mich, und das ist kein Wunder; aber trotzdem werde ich ihn immer als meinen Gatten betrachten. Dieser hier sagt dir ja selbst, daß er nicht mehr derselbe ist, den ich vor so langer Zeit geheiratet habe. O, wenn du wüßtest, welche Furcht er mir eingeflößt hat, wie oft er mir gesagt hat, er brauche nur diesmal noch hunderttausend Franken, um sein Glück zu machen, nachher werde er mich nicht mehr plagen. Und ganze Goldminen behauptete er in Peru zu kaufen. Eine drollige Art Goldminen! Statt Gold zu liefern, verschlangen sie Gold, und ich mußte es herbeischaffen! Und alles, alles umsonst! Habe ich nicht recht, wenn ich mir jetzt das Leben nehme?«

Varinka brach in ein verzweiflungsvolles Schluchzen aus und Ponetzky, der während ihrer ganzen Rede vollkommen unbewegt die Rauchwölkchen seiner Cigarette verfolgt hatte, fuhr fort: »Die Prinzessin hat die Geschichte der letzten fünfzehn Jahre mit bewunderungswürdiger Genauigkeit zusammengefaßt und hat mir wenig zu sagen übrig gelassen. Ich habe es schmerzlich bedauert, ihr so oft zur Last fallen zu müssen; aber Not kennt kein Gebot. Wer kann gegen das Schicksal ankämpfen? Ich hätte aber entschieden mein Versprechen gehalten und wäre nicht nach Europa zurückgekehrt, wenn die Prinzessin nicht vor zwei Jahren die Unklugheit begangen hätte, alle Verbindung mit mir abzubrechen und mir jede weitere Hilfe zu versagen.«

»Ich hatte Ihnen das Jahr vorher ein ganzes Vermögen hinübergeschickt, eine halbe Million Franken, die ich unter tausend Vorwänden von Gervis nacheinander zusammengebettelt hatte, und Sie hatten mir feierlich versprochen, daß Sie Ihr Leben lang nichts weiter von mir fordern würden.«

»So war's. Ich erzähle auch nur, was ich that, will es nicht rechtfertigen. Nun traf es sich, daß ich mich zu der Zeit in tödlicher Verlegenheit befand. Ich brachte nur gerade so viel zusammen, um die Ueberfahrt nach Southampton zu bezahlen und landete in England beinahe ohne einen Pfennig. Zu Fuße schleppte ich mich bis nach Southlands. Nach allem, was ich gehört hatte, bildete ich mir ein, die Prinzessin dort zu finden; als ich erfuhr, daß dies nicht der Fall war, stand ich vollkommen ratlos da. In meiner gräßlichen Klemme fiel mir weiter kein Ausweg ein, als zu versuchen, ob sich nicht vielleicht Gervis bereit finden ließe, seine Freiheit zu erkaufen. Ich teilte ihm also mit, daß ich im Besitz eines wichtigen Geheimnisses sei, und daß ich ihn auf der Stelle von seiner Frau befreien könne, wenn er es sich eine gewisse Summe kosten ließe –«

»Das thaten Sie?« rief Varinka aus. »So etwas erdreisteten Sie sich zu thun? Ist es denn möglich, daß es so gottlose Menschen geben kann?«

»Herr Gervis aber zahlte nichts, sondern lachte mich aus, gab mir ein Almosen – ein sehr reiches Almosen muß ich zugeben – und warf mich vor die Thür. Nun, jetzt hat er seine Freiheit erlangt, ohne dafür bezahlen zu müssen.«

Ein langes Schweigen trat ein, während dessen Claud seine Gedanken zu ordnen suchte. Der Cynismus des polnischen Grafen setzte ihn nicht besonders in Erstaunen; Varinkas unverdient hartes Geschick flößte ihm aber aufrichtiges Mitgefühl ein.

»Ich bedauere die Lage der Dinge tiefer, als ich es ausdrücken kann,« sagte er endlich. »Es fragt sich nur, was jetzt zu thun ist?«

»Zu thun ist nur noch eins,« rief Varinka und sprang auf. »Ich muß sofort nach Petersburg reisen. Der Kaiser kann mir eine Audienz nicht verweigern. General Karakow wird ganz gewiß nach der Gesandtschaft gehen und seine Geschichte erzählen. Was für ein Unglück, daß er gerade hier Geld verlieren mußte. Am Ende denken sie gar, die ganze Sache ist ein Komplott. Mich soll nur wundern, ob sie telegraphieren werden. Immerhin wird Seine Majestät sehen, daß ich keine Zeit verloren habe.«

Sie blieb vor einem Spiegel stehen und stieß einen Schrei des Entsetzens aus: »Himmel! wie gräßlich sehe ich aus! So sieht man aus, wenn man die Nächte durchwacht und solche Gemütsbewegungen erfährt. Soll mich doch wundern, ob Annette wach ist und wie lange sie dazu brauchen wird, meine Koffer zu packen.«

Schon hatte sie ihre Drohung, sich zu töten, vergessen. Die Farbe kehrte in ihre Wangen zurück und geschäftig rauschte sie umher und traf die Vorbereitungen für ihre sofortige Abreise.

»Ich werde Paris nie wiedersehen – nie!« rief sie plötzlich aus, und die Thränen stürzten ihr in die Augen. Sogleich aber wischte sie sie weg. »Ich habe jetzt keine Zeit zu weinen. Ich muß auf der Stelle abreisen. Claud, im Salon liegt ein Kursbuch, sieh doch einmal nach, wann der nächste Zug abgeht.«

»Und Sie?« wandte Claud sich an Ponetzky, der in aller Seelenruhe in seinem Armstuhl lag.

»Ich? O, ich werde höchst wahrscheinlich nach Nizza zurückkehren. General Karakow mag mich bei jeder Gesandtschaft der Welt anzeigen, wenn es ihm beliebt: mich können sie doch nicht mehr belästigen. Die russische Regierung wird nicht daran denken, meine Auslieferung zu verlangen, und wenn sie es thäte, so würde sie sicherlich abgewiesen werden. Mit der Prinzessin liegt die Sache anders. Sie hat große Güter, die man konfiszieren könnte, und es ist nur klug, wenn sie den Kaiser aufsucht und ihn davon überzeugt, daß sie an meinen verbrecherischen Umtrieben keinen Anteil hat und meine Existenz so aufrichtig bedauert, wie nur einer. Wir werden von nun an schwerlich noch einmal zusammentreffen, und ich will mich nun empfehlen. Wenn es nicht zu viel Anmaßung ist, so möchte ich Sie wohl bitten, mich auch Ihrer Schwester zu empfehlen und ihr den ehrerbietigen Dank eines Geächteten zu überbringen, den sie stets wie einen respektablen Menschen behandelt hat und der ihr deshalb wie ein Hund ergeben ist. Adieu, Herr Gervis. Ich wage es nicht, Ihnen meine Hand anzubieten.«

Claud zögerte einen Augenblick; dann schämte er sich seines Zögerns und drückte dem armen Flüchtling, ohne ein Wort zu sprechen, warm die Rechte. Als er noch nach einem passenden Wort des Lebewohls suchte, fragte Varinka vom anderen Ende des Zimmers: »Wie lange läßt du mich denn auf das Kursbuch warten? Nimm ein Licht und suche es im Salon.«

Ein Licht war jedoch nicht mehr nötig. Das graue Morgenlicht brach durch die Spalten der Jalousien. Im Salon waren schon die Diener mit Abstäuben beschäftigt. Als Claud nach dem Spielzimmer zurückkehrte, war Ponetzky verschwunden und Varinka schwamm in Thränen.

»Ich kann es nicht ertragen, so fortzugehen und Genoveva hier zu lassen, und es kann so lange dauern, ehe wir wieder zusammentreffen. Aber sie wird mich doch zuweilen besuchen dürfen, nicht wahr? Sie hat mir einmal versprochen, daß sie sich durch nichts von mir wolle losreißen lassen.«

Claud äußerte, daß gewiß niemand gegen solche Besuche etwas einzuwenden habe. »Aber,« fügte er hinzu, »sollte ich sie nicht jetzt lieber nach Southlands hinüberbringen?«,

»Freilich, das mußt du. Sie könnte nicht hier bleiben, nachdem ich abgereist bin. Wie schrecklich das alles ist! Hätte der boshafte Karakow mit dieser ganzen Scene nicht warten können, bis die anderen Geladenen fort waren? Mir ist, als könnte ich nie wieder jemandem ins Gesicht sehen. Meinst du, daß mich die Leute auslachen werden?«

»Ich denke nicht, warum sollten sie lachen?«

»Ob man wohl einen Schlafwagen wenigstens bis Berlin bekommen kann? Schicke doch jemanden nach dem Bahnhofe und laß dich erkundigen. O, und Genoveva muß die ganze Geschichte erfahren! Du mußt es ihr sagen, ich könnte es nicht.«

So plapperte die Prinzessin weiter, während sie ihren Fahrplan studierte, und Claud saß geduldig neben ihr, da stumme Teilnahme doch alles war, was er ihr bieten konnte. Schließlich aber schleuderte sie den Fahrplan ungeduldig auf den Fußboden.

»Diese Züge sind nicht zu entziffern! Geh doch bloß und schicke einen Menschen nach dem Bahnhof! Jetzt müssen doch die Leute schon auf dem Posten sein. Und wenn du das gethan hast, kannst du Genoveva zu mir bringen. Vorher aber mache sie mit allem bekannt; meine Nerven sind völlig zerschlagen.«

Genoveva und Fräulein Potts waren nicht wenig erstaunt, als sie zum Frühstück kamen und im Speisezimmer Claud fanden, der sie erwartete – vollständig angekleidet, aber ungewaschen, und verstört, wie nur einer sein kann, der die ganze Nacht über nicht ins Bett gekommen ist. Er erzählte ihnen seine Geschichte so kurz wie möglich und führte dann seine Schwester in das wüste Spielzimmer, wo inmitten der zerstreuten Karten, der ausgebrannten Lichter, der leeren Gläser und der umher geschütteten Cigarrenasche die arme Varinka in ihren Spitzen und Edelsteinen saß. Er schloß die Thür und ließ die beiden Damen allein zusammen.

An Fräulein Potts richtete er draußen die Bitte, alles vorzubereiten, um morgen mit dem frühesten abreisen zu können. Dann eilte er nach der Rue d'Amsterdam, wechselte seine Kleider und traf alle Vorkehrungen, die seine plötzliche Abreise nötig machte. Er sandte seinem Vater ein Telegramm, worin nur kurz gesagt wurde, daß ein Unglück geschehen sei, und daß er deshalb Genoveva nach Hause bringe. Danach mußte er nach seiner Redaktion, nach dem Theater und der Himmel weiß wohin gehen, so daß es Abend war, ehe er wieder im Boulevard Malesherbes eintraf.

Er fand den Wagen der Prinzessin und einen mit Koffern beladenen Omnibus vor der Thür wartend. Varinka war im Salon, nicht mehr in Thränen, aber bleich und still wie ein Kind, das sich ausgeweint hat. Die zartbesaitete Potts war von dem Anblick dieser Verlassenheit so gerührt, daß sie einmal über das andere beteuerte, sie brauche bloß den Hut aufzusetzen und sei ganz bereit, sie nach Peking zu begleiten, wenn es sein müsse. Die Prinzessin aber schüttelte den Kopf.

»Ich muß ja doch von nun an allein sein; da ist es besser, ich gewöhne mich jetzt gleich daran.«

Dann kam die schmerzliche Scene des Abschiednehmens. Die Prinzessin küßte alle der Reihe nach und bat, sie nicht zu vergessen, sondern ihr zuweilen zu schreiben und ihr alles zu verzeihen, was sie ihnen zuleide gethan, denn sie habe es ja nicht böse gemeint.

Dann ging sie hinunter, das Gesicht unter zwei dicken Schleiern verborgen. Vom Fenster aus sahen sie sie in die Kutsche steigen und sogleich davonfahren, gefolgt von dem Omnibus mit ihrem Gepäck und ein paar treuen Seelen aus der Dienerschaft.



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