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Sechsundzwanzigstes Kapitel.
Ein Schelmenstreich des Herrn Glymno

Der todessieche Glymno hatte sich im Hause der Prinzessin Uranow so sehr an Bescheidenheit und Wohlanständigkeit gewöhnt, er war so nachgiebig und schweigsam und zeigte sich so wenig geneigt, unedlen Vergnügungen außer dem Hause nachzugehen, daß seine alte Freundin offen erklärte, er müsse kurz vor seinem Ende angelangt sein. Nur Fräulein Potts gegenüber nahm er oft einen Ton an, der diese würdige Dame im höchsten Grade ärgerte, indem er ihr allerhand Geschichten aus seinem Leben erzählte, die den Heldenthaten des Reineke Fuchs nicht unähnlich lauteten. Zwischen Glymno und Genoveva hatte sich dagegen eine regelrechte Freundschaft entwickelt.

Wenn er mit ihr allein war und nicht ihrem Violinspiel zuhörte, so redete er mit ihr über einen Gegenstand, über den sie sonst mit niemandem plaudern konnte und der ihr doch über alles teuer war. Woher Glymno ihr Verhältnis zu Freddy Croft erfahren hatte, danach erkundigte sie sich nicht. Sie war nur entzückt, Freddys Namen aussprechen zu hören und von ihm reden zu dürfen. Uebrigens bewies er bei diesen Unterredungen einen Takt, den man ihm gar nicht zugetraut hätte, und beide hatten daher eine große Befriedigung in den Stunden, die sie so miteinander verbrachten.

An einem herrlichen, wolkenlosen Morgen im Monat Juni überraschte Glymno seine junge Freundin mit der Bitte, einen Spaziergang mit ihm zu machen. Sie zögerte einen Augenblick. Varinka nahm wohl für ihre eigene Handlungsweise unbegrenzte Freiheit in Anspruch, aber an das Benehmen eines jungen Mädchens stellte sie dafür um so strengere Forderungen, und es war sogar zweifelhaft, ob sie damit einverstanden gewesen wäre, daß ihre Stieftochter sich allein mit ihrem alten Freunde in den Straßen sehen ließ.

»Ich werde Fräulein Potts fragen, ob sie uns begleiten will,« sagte sie und schritt der Thür zu.

Aber Glymno hielt sie mit einer flehenden Gebärde zurück.

»Liebes Fräulein, ich beschwöre Sie! Diese ehrwürdige Potts hat eine Manier, ihre Worte hervorzubringen, die meine Nerven reizt und die schlechteste Seite meiner Natur herauskehrt. Verweigern Sie mir nicht eine Erholungsstunde in der Stille und dem Sonnenschein draußen. Es ist die Laune eines Kranken, der diesseits des Grabes sich nicht mehr viele Wünsche gestatten darf.«

Gegen diese Art der Bitte konnte Genoveva sich nicht verschließen. Bald nachher schritt sie an Glymnos Seite über den Boulevard Malesherbes, und beide begaben sich nach dem Park Monceaux, unter dessen rosigen Kindermädchen und spielenden Kindern der Leidende aufzuleben schien.

»Welch köstlicher Sonnenschein!« rief er aus. »Welch schöne Luft! Was für ein allerliebstes kleines Arkadien!« Dann schien ihm eine plötzliche Idee zu kommen. »Wie wäre es, wenn wir einen Wagen nähmen und nach dem Bois de Boulogne hinausführen?«

Diesem neuen Vorschlage widersetzte sich Genoveva entschieden.

»Was würde Varinka dazu sagen?« fragte sie.

»Liebes Fräulein, sie wird gar nichts sagen, aus dem einfachen Grunde, weil sie nichts erfahren wird. Haben Sie vergessen, daß sie den ganzen Tag bei ihren neuen Freunden verlebt, den Karakows zu Meudon? Sie fuhr fort, als ich in das Haus trat – sie und Frau Claud Gervis. Die beiden sind wie füreinander geschaffen. Ein entzückendes Paar für alle gesellschaftlichen Unternehmungen; aber eine von ihnen zur Frau zu haben – Puh,« und Glymno zuckte ausdrucksvoll mit den Schultern.

»Ich denke nicht, Herr Glymno, daß Sie jemals in großer Gefahr gewesen sind, dieses Schicksal zu erleiden,« sagte sie mit Würde, denn seine freimütige Kritik mißfiel ihr.

Er war über diesen deutlichen Verweis nicht im geringsten beleidigt. Im Gegenteil, ihr Unwille schien ihm Spaß zu machen, denn er lachte so herzlich, daß er sich einen starken Hustenanfall zuzog. Und darauf war er so erschöpft, daß sie ihm nicht verwehren konnte, sich in eines der zahlreich wartenden Fuhrwerke zu setzen, und jetzt mußte auch sie folgen.

So fuhren sie denn langsam durch die Straßen von Paris nach dem Bois de Boulogne, und wenn es nicht noch zu früh am Tage gewesen wäre, so hätte jeder etwa vorübergehende Bekannte der Prinzessin sie an der Seite eines der anrüchigsten Menschen in Paris sehen können. Sie hielt daher ihren Sonnenschirm in einem solchen Winkel, daß ihre Gesichtszüge bedeckt waren. Glymno billigte diese Vorsichtsmaßregel auch vollkommen und versicherte ihr, er erkenne das Opfer vollständig an, das sie ihm bringe. Als sie das Wäldchen erreicht hatten und ein tüchtiges Stück unter den Bäumen waren, rief er dem Kutscher ein Halt zu.

»Mit Ihrer Erlaubnis, Fräulein Gervis, wollen wir nun aussteigen und ein wenig spazieren gehen. Ah! wir haben es hier doch viel schöner als im Park Monceaux, finden Sie das nicht? Hier hört man nichts mehr vom Geräusch der Straßen; hier haben wir Schatten, grüne Bäume und die Vögel über unseren Häuptern! Erinnert es Sie nicht recht an Southlands, Ihre englische Heimat? Man könnte hier den ganzen Nachmittag spazieren gehen und nicht müde werden.«

Nichtsdestoweniger wurde er sehr bald müde und war froh, eine Bank zum Ausruhen benutzen zu können. Kaum aber saß er, als er einen Ausruf des Schreckens ausstieß.

» Sapristi! Welche Dummheit! Ich habe meine Börse mit zweitausend Franken im Wagen liegen lassen. Da muß ich nur schnell gehen und sie holen. Seien Sie so freundlich, ein paar Augenblicke hier zu warten. Ich werde sogleich wieder hier sein.«

Damit eilte Herr Glymno so schnell hinweg, als ihn seine Beine nur tragen wollten.

Genoveva hatte nichts dagegen, zu bleiben, wo sie war. Sie lehnte sich auf der Bank zurück und freute sich der Einsamkeit, des leisen Flüsterns in den Zweigen und des zwischen den Blättern tanzenden Sonnenlichts. In den ersten fünf Minuten vergaß sie Glymno vollständig; als er aber nach abermaligen fünf Minuten noch nicht zu sehen oder zu hören war, wurde sie unruhig, und nach Verlauf einer Viertelstunde fiel ihr zu einigem Schrecken ein, daß sie einen Wagen schnell hatte davonfahren hören, als Glymno sie soeben verlassen hatte. Was konnte geschehen sein? Hatte der Kutscher die zweitausend Franken entdeckt und sich damit aus dem Staube gemacht? Hatte ihr Gefährte sie gänzlich vergessen und sich auf die Verfolgung des Flüchtigen begeben? Sie ging mit sich zu Rate, was sie anfangen sollte. Da ließ sich im Kies des Weges ein leises Knistern vernehmen, und jetzt tauchte eine Gestalt auf … Genovevas Herz hüpfte hoch auf und stand dann still. Träumte sie, oder konnte das Freddy Croft sein, der da mit ausgebreiteten Armen auf sie zueilte?

Sie blieb nicht lange im Zweifel. Es war Freddy Croft, in einem sehr kleidsamen neuen Anzug, mit einer Rose im Knopfloch, und sein hübsches rundes Gesicht strahlte vor Entzücken.

»Ich bin es,« sagte er, als ob diese Erklärung durchaus unerläßlich wäre.

Die Beschreibung der jetzt folgenden Scene, der zärtlichen Worte, der liebevollen Blicke, der innigen Liebesschwüre, die gewechselt wurden, möge der Leser mir, einem Junggesellen, erlassen. Lüften wir den Schleier wieder bei folgender Erkundigung des jungen Mädchens: »Wie kommen Sie denn hierher? Was suchen Sie denn in Paris?«

»O, ich bin mit einem Freunde herübergekommen, zu den Wettrennen. Wenigstens,« verbesserte er sich, »nahm ich das zum Vorwande. Sie können sich denken, daß ich auch noch ein größeres Glück im Auge hatte als das, auf den Gewinner zu wetten. Ich dachte, nach einem Vorwand müßte ich mich schon umsehen, Sie wissen doch, wegen des Versprechens, daß wir uns die ganzen zwei Jahre nicht sehen wollten. Da ich nun aber einmal hier bin, so wäre ich natürlich nicht wieder weggegangen, ohne Sie gesehen zu haben. Wäre es gar nicht anders gegangen, so hätte ich geradeswegs die Prinzessin aufgesucht, obgleich Claud sagte, sie würde mich jedenfalls hinauswerfen.«

»Das würde sie wohl nicht gethan haben, aber allerdings hätten wir uns nicht allein sprechen dürfen. Und ich denke auch, ich dürfte jetzt nicht länger hier bleiben. Was das aber für ein außerordentlicher Glückszufall war, der uns heute beide nach diesem nämlichen Fleck führte – und im selben Augenblick! Von nun an werde ich immer eine kleine Hoffnung auf einen glücklichen Zufall haben.«

»Nun, es war eigentlich nicht der bloße Zufall,« gestand er mit einem Seitenblick, in dem sich Furcht und Freude mischte.

»Nicht Zufall? Was sonst sollte es denn sein? Sie konnten doch keine Ahnung davon haben, daß ich mich heute hier im Bois de Boulogne befinden würde. Ich selbst habe es noch nicht geahnt, als ich fortging.«

»Das kann ich mir denken,« sagte Freddy schelmisch. »Was das für ein alter Fuchs ist, wie?«

»Was wollen Sie damit sagen? Von wem sprechen Sie?« Ein Schimmer der Wahrheit fing an, ihr aufzudämmern.

»Nun, von unserm alten Freund Vagabundus, von wem sonst? Heutzutage verdient er allerdings seinen Namen nicht. Das feinste Tuch von oben bis unten und ein Stock mit einem dicken goldenen Knopf – ein wahrer Stutzer. Hat wahrscheinlich eine Bank geplündert oder so etwas. Schadet aber nichts, ist ein ganz prächtiger alter Kerl und wenn er je einen Freund braucht, kann er auf mich rechnen. Sehen Sie, gestern besuchte ich Claud – nebenbei gesagt, finden Sie nicht, daß Nina seit ihrer Verheiratung sich sehr zu ihrem Nachteil verändert hat?«

»Nein. Ich bemerke keine Veränderung an ihr. Ich denke, sie war so ziemlich immer – was sie jetzt ist.«

»Hm, sie war nicht allzu höflich zu mir. Gab sich kaum die Mühe, ein Wort mit mir zu reden. Nun, wie gesagt, ich hatte eine Unterredung mit Claud, und er war entschieden gegen mein Vorhaben, Ihnen einen Besuch abzustatten. Es würde nicht gehen, und die Prinzessin würde es nicht gerne sehen, und was er nicht alles sagte. Kurzum, ich ging ziemlich entmutigt von ihm weg und begab mich nach dem Boulevard Malesherbes. Wer weiß, dachte ich, ob Sie nicht gerade am Fenster stehen oder vielleicht zu einer Gesellschaft fahren würden und ich auf diese Weise einen Blick von Ihnen erhaschen könnte. So trieb ich mich unter den Bäumen vor Ihrem Hause herum, zum großen Aerger Ihres Concierge, der mich mit Blicken maß, als wenn er in mir einen Einbrecher vermutete. Es dauerte aber nicht lange, so schlich unser alter Freund heraus. Ich glaube nicht, daß ich ihn erkannt hätte, er aber hielt mich sofort an und ehe ich wußte, was mir geschah, hatte er mich in seinen Brougham gepackt und führte mich in sein Hotel zum Diner und zu einem sehr guten noch dazu. Nun, am Abend kamen wir in eine lange Unterhaltung und das Ende davon war, daß er mir sagte, ich solle ihn heute um zwölf Uhr im Pré Catelan erwarten, hoffentlich werde er mir dann angenehme Neuigkeiten bringen können. Damit ist denn mein augenblickliches Hiersein erklärt.«

Genoveva war tief entrüstet über die Doppelzüngigkeit ihres alten Freundes. Sie war, wie sie sagte, bitterböse über ihn und wollte ihm seinen Betrug niemals vergeben. Die Stimme indessen, in der diese beunruhigende Erklärung abgegeben wurde, schien doch nicht alle Hoffnung auszuschließen, daß Glymnos Vergehen wohl noch einmal Verzeihung erlangen möchte.

»Nun ist aber die Frage: wie soll ich nach Hause gelangen? Weder Sie noch Glymno scheinen daran gedacht zu haben. Ich glaube, das einzige, was mir zu thun übrig bleibt, ist, eiligst einen Fiaker aufzusuchen.«

»O, Sie denken doch nicht etwa daran, jetzt schon nach Hause zu gehen?« rief Freddy mit einem sehr langen Gesicht.

»Ich muß. Wissen Sie, wie spät es ist?«

»Beim Himmel! Nach zwei Uhr! Ich wunderte mich schon, daß ich so außerordentlich hungrig wurde,« bemerkte Freddy freimütig. »Aber es ist nicht der leiseste Grund, daß Sie jetzt schon nach Hause eilen sollten. Die Prinzessin befindet sich heute in Meudon, wie Sie wissen.«

»Hat Herr Glymno Ihnen das auch gesagt?«

»Natürlich. Man muß ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er weiß, was er will. Wissen Sie, was ich recht sehr von Ihnen wünschte?«

»Wahrscheinlich etwas absolut Unmögliches.«

»Nein, durchaus nicht. Wirklich, ich denke, es wäre sehr unrecht von Ihnen, wenn Sie meine Bitte abschlügen. Ich weiß nämlich, daß Sie heute morgen noch nicht das mindeste zu sich genommen haben, außer einer Tasse Kaffee und einem Milchbrötchen, und Sie müssen schon halb verhungert sein. Nun ist da auf einer Insel mitten im See ein kleines Restaurant, wo man gewiß sein kann, keine bekannte Seele anzutreffen. Da könnte man in ein paar Minuten einen Eierkuchen oder so etwas fertig bekommen. Meinen Sie nicht, daß man das thun sollte?«

»Ganz gewiß nicht.« Genoveva wollte nichts davon hören. Indessen ließ sie sich in eine Diskussion darüber ein, und das Resultat war das schon oft erlebte.

»Wann werden wir je wieder so ungestört sein können?« plaidirte Freddy unter vielem anderen. »Schwerlich noch einmal die langen achtzehn Monate hindurch.« Er schloß mit einem Argument, das selten seine Wirkung verfehlt: »Es wird ja niemand erfahren.«

Zuletzt wurde denn also Fräulein Gervis wirklich zu einer höchst »inkorrekten« Handlungsweise überredet, die sie leider bis auf diesen Tag nicht gebührend bereut hat; denn die zwei Stunden, die sie mit Freddy auf dem winzigen Inselchen zubrachte, gehörten zu den glücklichsten, die sie je verlebt. Das Restaurant war ihnen ganz allein überlassen, und sie wurden unter freiem Himmel bedient, noch dazu von einem Kellner, der zu Freddys größtem Entzücken Genoveva bei jedem zweiten Wort als »Madame« anredete. Der Eierkuchen, mit dem sie bewirtet wurden, war zwar angebrannt, die Koteletten zähe, der Wein ungenießbar; aber keines von ihnen achtete darauf. Sie nannten alles herrlich, bis hinab zu den Hühnern des Etablissements, die sich um ihren Tisch sammelten und sich um die hingestreuten Brotkrumen stritten. Als dann die Rechnung bezahlt und der Kellner durch ein freigebiges Trinkgeld belohnt worden war, wanderten sie hinaus in das Fichtenwäldchen. Dort setzte sich Freddy zu Genovevas Füßen und erzählte ihr seine Erfahrungen während der letzten sechs Monate. Er berichtete ihr, wie sie ihm jede Stunde des Tages gefehlt habe, wie er hundertmal an Claud geschrieben und nur eine gelegentliche Empfangsbescheinigung seiner Briefe zur Antwort erhalten habe, wie er sich die größte Mühe gegeben, sich zu ihrem beständigen Gefährten heranzubilden, wie er sich für die Wohlfahrt seiner Pächter und Untergebenen interessiert, mehrfache Verbesserungen bei der Bewirtschaftung seines Gutes eingeführt und einen bestimmten Teil seiner Zeit dem Studium der Hauptwerke der Litteratur gewidmet habe und noch hundert Einzelheiten derart.

Wie oft durchlebte Genoveva diesen sonnigen Nachmittag noch in der Erinnerung! Wie oft war es ihr, als fächle die warme Luft noch um ihre Wangen, als rieche sie noch den würzigen Duft der Fichten, als sähe sie noch die offenen blauen Augen und das glückselige, kindliche Gesicht, das sich ihr so voll zuwandte. Sie sagte nicht viel, es war genug zu ihrem Glück, dazusitzen und dem redseligen Jüngling zuzuhören, der nur sehr geringer Ermunterung bedurfte, um ihr alles mitzuteilen, was nur irgend seit ihrer Abreise in Lynshire geschehen war. Er war auch in der Lage, ihr Nachricht von ihrem Vater zu bringen, mit dem sie, wie er zu seinem Erstaunen hörte, in gar keiner direkten Verbindung stand. Herr Gervis war zweimal während des Winters auf ein paar Tage in Southlands gewesen und hatte sich in der letzten Zeit in London aufgehalten.

»Er sieht niedergedrückt genug aus,« bemerkte Freddy. »Ich glaube nicht, daß er es sehr anziehend findet, ganz für sich allein zu leben. Wenn wir erst verheiratet sind, wollen wir ihn oft nach Croft Manor bitten und wollen ihm da einen ganzen Haufen solcher vorsündflutlicher Bursche wie er zur Gesellschaft zusammenbringen. Das wird ihn schon aufheitern.«

Wenn wir verheiratet sind! Man kann sich vorstellen, ein wie weites Feld für Träume und Projekte durch die bloße Erwähnung dieser glückseligen Zeit aufgeschlossen wurde und wie wenig jeder von ihnen auf die so flüchtigen Momente der Gegenwart achtete. Erst als die Schatten sich erheblich verlängert hatten, erwachte Fräulein Gervis zu der vollen Erkenntnis ihrer Lage. Sie sah nach ihrer Uhr und stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Es war nur noch gerade Zeit genug für sie, vor Tische nach Hause zu gelangen. Etwas ernüchtert winkte Freddy das kleine Boot herbei, welches sie vor einigen Stunden nach der Insel geführt hatte, und als sie glücklich wieder auf der anderen Seite des Wassers waren, eilten sie, so schnell ihre Füße sie nur tragen konnten, auf dem Wege nach Paris entlang, bis sie zum Glück einen leeren Wagen fanden. Genoveva sprang hinein und fuhr nach einem kurzen Abschied davon. Jetzt erst fielen ihr hundert Dinge ein, die sie noch hätte sagen, hundert Dinge, nach denen sie noch hätte fragen können, und sie war mit ihren Erinnerungen noch zu sehr beschäftigt, um sich vor der Scene, die bevorstand, sehr zu ängstigen.

Im Salon fand sie Glymno an seinem gewohnten Platze mit der Abendzeitung beschäftigt. Er sah nicht auf, als sie sich ihm näherte; Fräulein Potts, die in diesem Augenblick durch die entgegengesetzte Thür in das Zimmer trat, trug den gewichtigsten Ernst zur Schau und richtete nicht eine Frage an sie. Dieses bedeutungsvolle Schweigen bereitete das junge Mädchen schon auf die kommenden Dinge vor, und sie war nicht überrascht, als Varinka wie eine kleine Dampfmaschine hereinstürmte und ihre lange seidene Schleppe hinter sich herzog.

»Genoveva! unseliges Mädchen, wo bist du gewesen? Sage mir die Wahrheit, ich bestehe darauf!«

Es war gar keine Ursache, darauf zu, bestehen. Die Angeklagte sagte ohne Zögern die volle Wahrheit und mit einer Kühle, die ihre Zuhörer in Verwunderung setzte.

»Ich bin mit Frederick Croft im Bois de Boulogne gewesen,« sagte sie, nicht mehr und nicht weniger.

Die Prinzessin hob die Augen zum Himmel empor, schlug die Hände zusammen und ließ sie mit tragischer Geste sinken, während ihre zitternden Lippen eine ganze Reihe unzusammenhängender Sätze hervorsprudelten.

»Wie kommt es nur, daß solche Unglücksschläge nur immer mich treffen, nie einen anderen? … Wer hätte es je geglaubt! … Als Nina mir sagte, daß der Mann hier sei, und mich vor ihm warnte, lachte ich sie nicht aus? … Sagte ich nicht, für Genoveva wolle ich einstehen wie für mich selber? … Ah! das ist mir eine Lehre, eine grausame Lehre! … Es ist denn also meine Bestimmung, daß ich mich nie auf jemanden verlassen darf!«

Jetzt aber wandte sich der Strom dieser kläglichen Ausrufe und schlug in die bittersten Vorwürfe gegen Genoveva um. Wie konnte sie die Stirn haben, dazustehen, als ob sie wirklich stolz wäre über die Schmach, die sie auf sich geladen hatte? Wenn die schreckliche Geschichte bekannt würde, so könne sie sich ihr Leben lang nicht wieder in der Gesellschaft sehen lassen! Und die Hinterlist, die darin läge, das wäre das Schlimmste von allem!

Bei dieser Wendung richtete Glymno sich ein wenig in seinem Stuhle auf und erhob die Hand wie Schweigen gebietend.

»Teure Prinzessin,« sagte er in honigsüßem Tone, »wir alle können der Lebhaftigkeit Ihrer Natur große Zugeständnisse machen, und es ist leicht zu verstehen, daß Sie, die Sie selbst keines Betruges fähig sind, auch durch den Betrug anderer am tiefsten verletzt werden müssen. Nur wäre es vielleicht gut, ehe Sie noch weiter fortfahren, sich zu überzeugen, wer derjenige ist, der Sie betrogen hat. Der einzige Schuldige, Prinzessin, ist das unwürdige Individuum, das Ihnen hier gegenüber sitzt. Ich war es, der dieses unselige Komplott geschmiedet hat, ganz allein, ohne daß ein anderer auch nur darum wußte. Ich war es, der Sir Frederick Croft ein Rendezvous im Bois gab und der Fräulein Gervis überlistete, mit mir dorthin zu fahren. Ich bin es auch, der sich zu seinem Erfolg unterthänigst gratuliert und die ganze Wucht Ihres Zornes gern ertragen will. Schelten Sie, meine teure Frau, schelten Sie nach Herzenslust. Schonen Sie mich nicht! Sie wissen, ich bin so dickfellig wie ein Rhinozeros.«

Wenn irgend etwas noch unverschämter sein konnte als diese Rede, so war es die Art und Weise, in der sie gehalten wurde. Glymnos kleine Augen blinkten vor Bosheit, er sprach mit vorgestrecktem Kinn und grinsenden Lippen, so daß seine Wangen sich in unzählige Falten zogen. Er zeigte vollkommen das Aussehen eines Mannes, der unter allen Umständen einen Streit hervorrufen wollte. Varinka jedoch nahm die Herausforderung nicht an. Mit einem kurzen Lachen sagte sie: »Es ist Zeitverschwendung, Leute wie Sie zu schelten. Sie richten Schaden an aus purer Freude am Schadenthun. Wenn Ihre Absicht war, mich zu ärgern, so können Sie die Genugthuung mit sich fortnehmen, daß es Ihnen gelungen ist. Selbstverständlich haben Sie nie überlegt, einen wieviel größeren Schimpf Sie Genoveva damit angethan haben als mir.«

Dabei wandte sie ihm den Rücken zu und verfiel in einen Paroxismus der Zärtlichkeit. Sie schloß Genoveva in ihre Arme, küßte sie unter vielen Thränen und erklärte ihr, daß, wenn sie unfreundliche Worte gebraucht habe, es nur geschehen sei, um ihrem teuersten Kinde die Gefahr zu Gemüte zu führen, in die es sich begeben habe.

»Nie, nie darfst du mich wieder täuschen, mein Herzblatt!« rief sie unter strömenden Thränen. »Alles, nur das nicht: Verwunde mich, enttäusche mich in jeder Weise, nur Heimlichkeiten laß nicht zwischen uns sein! Und in einem ähnlichen Falle laß dich nicht wieder zu einer unbesonnenen Handlung verleiten, ohne dich mit mir zu bereden, die dich mehr liebt, als sonst jemand in der Welt!«

Das junge Mädchen, das wirklich tief beschämt war, gab denn auch gern das geforderte Versprechen.

Unter dem Schutz dieser rührenden Versöhnung nahm Glymno stillschweigend Abschied, und bald nachher rauschte Varinka, die zum Diner eingeladen war und ihren Wagen schon zwanzig Minuten hatte warten lassen, in ihr Zimmer zurück, um die Spuren der Thränen aus ihren Augen zu entfernen und ihre glühenden Wangen zu pudern.

Als sie verschwunden war, fühlte Fräulein Potts sich gedrungen, dem jungen Mädchen die Ungehörigkeit ihres Betragens vorzuhalten. Fräulein Potts' Strafreden waren indessen nie besonders furchtbar und peinigten das arme Kind nicht über Gebühr.



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