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Neunzehntes Kapitel.
Widerwärtigkeiten

Claud befand sich diesen Abend bei Tische in einem peinlich verlegenen Zustande. Bis jetzt war er den ganzen Sommer über in seinen Gedanken ausschließlich mit Nina Flemyng beschäftigt gewesen und hatte sich um keinen anderen Menschen gekümmert. Jetzt auf einmal drängte sich ihm die wenig wohlthuende Ueberzeugung auf, daß einer der Tischgenossen sich im Herzen über ihn lustig mache, und daß außerdem die Ereignisse des Tages weder für seine Schwester, noch für Fräulein Potts ein Geheimnis seien. Es brauchte sie niemand darin eingeweiht zu haben; solche Familienereignisse haben die geheimnisvolle Eigentümlichkeit, daß sie sich fühlbar machen und dadurch selber mitteilen. Er konnte sich der Einbildung nicht entschlagen, daß selbst die Dienstboten ihn mit der Miene humoristischen Bedauerns ansahen.

Als die beiden Damen sich zurückgezogen und Claud sich seinem Vater allein gegenüber sah, wußte er kaum, was er sagen oder thun sollte. Sollte er auf das Thema anspielen, das doch ihrer beider Gedanken in Anspruch nahm? Oder wäre es weiser, den Anfang ihm zu überlassen? Die »Pall Mall Gazette«, die in diesem Augenblick mit dem Kaffee hereingebracht wurde, überhob ihn dieser Verlegenheit. Herr Gervis nahm das Blatt, zündete eine Cigarette an und begann die neuesten Nachrichten aus dem Orient vorzulesen und mit seinen eigenen Ideen zu würzen, so daß eine förmliche politische Unterhaltung zustande kam. Nach einiger Zeit wandte er sich dem Leitartikel zu, versank in Schweigen und eröffnete dadurch Claud die Möglichkeit, sich aus dem Staube zu machen.

Der junge Mann begab sich nach einem jetzt wenig oder gar nicht benutzten Zimmer, in dem sich Bücherschränke befanden, und nahm aus einem derselben einen Band von Goethe, um seine Schmerzen in der Lektüre von »Werthers Leiden« zu ersticken. Es gelang ihm aber nicht, und er fragte sich, wo denn die Damen geblieben wären.

Er machte sich denn daran, die beiden aufzusuchen, und ein Echo von fern herschallender Musik gab ihm Aufschluß über ihren augenblicklichen Aufenthaltsort. Er folgte dem Schall und kam in einen langen, mit Gemälden behängten Korridor, an dessen äußerstem Ende sich ein durch einen schweren Vorhang abgetrenntes, achteckiges Gemach befand, dem Genoveva so viel Geschmack abgewonnen, daß sie es zu ihrem Musikzimmer erwählt hatte.

Claud tastete sich durch die dunkle Galerie hindurch bis dorthin, wo der untere Rand des Vorhangs einen schmalen Lichtschein hindurchließ. Ein wunderbares Gemisch von Tönen hallte ihm entgegen, als er vorwärtsschritt – schnell dahinrollende Läufe, die durch scharfe Dissonanzen gleichsam abgelöst, hie und da ein paar Takte aus einer wohlbekannten Komposition aufnahmen, wie wenn auf einem Strom etwa Strohhalme auftauchten, um bald wieder zu verschwinden. Es war eine jubelnde, triumphierende Melodie, unbezwinglich wie das Lied der Lerche, frei und wild wie der Sturmwind, sanft und zart wie der unergründliche blaue Himmel.

Der Lauscher im Dunkeln hörte es mit wohlgefälligem Erstaunen.

Es muß etwas Genoveva sehr glücklich gemacht haben, daß sie so spielen kann, war die Betrachtung, die in ihm aufstieg.

Er hatte mehrere Minuten lang dicht vor dem Vorhang gestanden; jetzt schob er ihn leise ein Stückchen zurück und sah in das Gemach hinein. Dasselbe war nur durch die Leuchter am Notenpult erhellt. Genoveva stand aufrecht da; von ihren Schultern fiel ein langer Mantel; sie drehte dem Neugierigen den Rücken zu. Fräulein Potts saß auf einem niedrigen Feldstuhl neben ihr, gleichfalls mit dem Rücken nach der Thür, und gab mit Kopf, Locken, Händen und Füßen geräuschlos den Takt an, natürlich ohne eine Ahnung zu haben von dem grotesken Eindruck, den sie damit auf ihren unerwarteten Beschauer machte.

»Weiter, weiter, mein Kind!« bat sie, als endlich die Töne sanfter wurden und dahinstarben. »Sie entzücken mich in den dritten Himmel!«

Darauf ließ Genoveva ohne ein Wort der Erwiderung ihren Bogen von neuem über die Saiten gleiten.

Wieder erhob sich der seltsame harmonische Wirrwarr von Fragmenten aus Walzern und Symphonieen und Tonmassen ohne Form und Namen, während Fräulein Potts sich vergeblich bemühte, zu einer so taktlosen Musik den Takt anzugeben.

Claud beobachtete beide mit wachsendem Interesse. In diesem Augenblick fühlte er sich leicht am Arme berührt und fuhr erschrocken zusammen. Es war sein Vater, der neben ihm stand und den Finger auf die Lippen legte. Claud trat schweigend zur Seite und der ältere Gervis schaute durch die Oeffnung im Vorhang. So ertönte das phantastische Solo einige Minuten lang vor einem vergrößerten Auditorium. Endlich aber ließ Genoveva ihre Geige sinken und rief aus: »So, nun ist es genug! Wir wollen jetzt wieder nach der Bibliothek zurückgehen, Fräulein Potts. Sie müssen zu Tode erfroren sein.«

»O nein, durchaus nicht! Mir ist ganz heiß. Sie werden uns nicht vermissen, und es ist bald Zeit, zu Bett zu gehen. Bitte, hören Sie nicht auf!«

Herr Gervis ließ den Vorhang fallen und schlich sich fort, indem er seinem Sohn einen Wink gab, ihm zu folgen. Er schritt dem Billardzimmer zu und Claud folgte ihm dorthin.

»Fühlst du dich zu einem Spiel aufgelegt?« fragte der Vater.

»O ja, wenn du es bist.«

»Zünde dir eine Cigarre an, und ich will es mit dir versuchen.«

Er machte keine Anspielung auf die soeben erlebte Scene, bis er mehreremal gewonnen hatte. Mitten im Spiel hielt er dann plötzlich inne und sagte: »Nun, was entnimmst du dir aus dem allem?«

»Genovevas Spiel, meinst du? Ich weiß es wirklich nicht. Ich habe sie noch nie so spielen hören. Es zeigt, daß sie mehr geübt haben muß, als wir es wissen.«

»Also das entnimmst du daraus? Ich entdecke mehr darin. Vor allen Dingen hat das Mädchen, was dir – wenn du es nicht übel nimmst – fehlt: Genie nämlich.«

»Freut mich, daß du ihr das zugestehst,« sagte Claud großmütig. »Ich für meine Person habe mir noch niemals eingebildet, Genie zu besitzen.«

»O, du bist ja auch recht begabt, du hast ein hübsches Talent, es kann wohl sein, daß die Welt eines Tages von dir hört. Aber dieses Mädchen würde berühmt werden, wenn sie darauf angewiesen wäre, von ihrer Kunst zu leben. Außerdem aber wirst du schon ohne musikalische Hilfe entdeckt haben, daß deine Schwester ihren Kopf gewaltig für sich hat.«

»Vater,« wandte Claud das Gespräch plötzlich in eine andere Bahn, »wie bist du denn dazu gekommen, heute zu dem alten Flemyng hinüberzufahren und ihn gegen mich aufzureizen?«

»Mein lieber Junge, was für eine lächerliche Frage! Sagte ich dir nicht, daß ich jedes vernünftige Mittel anwenden würde, um dich an dieser Heirat zu hindern? Ich rechne ja auf den verständigen Sinn der jungen Dame; aber ich wollte mich der Sache doppelt versichern, indem ich dem Vater bange machte. Du hättest mir nur zuvorkommen sollen. Warum hast du das nicht gethan?«

»Es kam mir nicht in den Sinn. Aber in Nina hast du dich denn doch getäuscht. Sie lachte über die Idee, daß wir zu arm wären, um uns zu heiraten.«

»Wirklich? In dem Falle habe ich doch den Trost, daß du mir eines Tages noch Dank wissen wirst für die Unannehmlichkeit, die ich um deinetwillen auf mich genommen habe.« – –

Am nächsten Morgen begab sich Claud wiederum nach dem Hause mit dem Graben, zu der letzten ihm bewilligten Unterredung mit Nina.

Nina war weit entfernt davon, durch die unvorhergesehene Strenge ihres Vaters eingeschüchtert zu sein, befand sich vielmehr in ihrer strahlendsten Laune. Sie traute sich zu, allen Widerstand ihrer vereinigten Feinde aus dem Felde zu schlagen und sagte lächelnd: »Herrn Gervis können wir schon als beseitigt ansehen, vorausgesetzt, daß du ganz sicher darüber bist, die dir bewilligten siebenhundert Pfund unbedingt zu erhalten.«

»Ja, darüber bin ich ganz sicher.«

»Nun wohl, er kann also unsere Verheiratung nicht hindern. Papa freilich kann es – wenigstens kann er es uns unmöglich machen, uns hier auf die gewöhnliche Weise und mit den gebräuchlichen Ceremonien zu verheiraten. Aber damit hat seine Gewalt auch ein Ende. Wir müssen uns nur treu bleiben und uns nicht vor einem überraschenden Schritt scheuen. Scheust du dich davor?«

Clauds Antwort brauchen wir nicht erst hierher zu setzen.

»Nun ja, schlimmer wird die Sache auch nicht sein. Ich habe alles wohl überlegt und bin zu dem Schluß gekommen, daß wir durchaus energisch zu Werke gehen und unseren verehrlichen Eltern mit einer vollendeten Thatsache gegenübertreten müssen.«

»Was? Eine Entführung?« rief Claud, den die Kühnheit des Vorschlages überraschte.

Nina warf sich in ihren Stuhl zurück und lachte von ganzem Herzen.

»Wie unzart du bist!« rief sie. »War es nicht genug, daß du es mir überläßt, einen Vorschlag zu machen, der doch von dir hätte kommen sollen? Oder willst du mich so heruntersetzen, daß du gegen meinen Plan Einwände erhebst?«

»Wie kannst du so etwas sagen? Du brachtest mich nur ein wenig außer Fassung. Ich erwartete –«

»Daß ich dir raten würde, fünf Jahre auf Reisen zu gehen und dich zu gedulden? Ich würde es keinen Monat aushalten, das kann ich dir sagen. Was ich dir gestern nachmittag anvertraute, ist nur zu wahr: es ist keine Beständigkeit in mir. O Claud, ich bin lange nicht gut genug für dich, und wenn du nicht verliebt wärest, so würdest du es sehen. So wie ich aber nun einmal bin, muß ich genommen werden – jetzt oder nie. Eine Entführung oder ewige Trennung – was willst du wählen? Ich weiß, was du wählst, wenn du weise bist: du läßt mich laufen.«

Ob nun weise oder nicht, Clauds Wahl war bald getroffen. Er war voll Glück und Dankbarkeit und ging auf alles ein, was Nina vorschlug. Nur ein Bedenken hatte er noch.

»Wäre es denn aber nicht besser, noch einen Versuch zu wagen, ob wir nicht deinen Vater überreden können?«

Nina schüttelte den Kopf.

»Ich habe mich schon den ganzen Morgen mit ihm herumgezankt und es war verlorene Mühe. Dein Vater muß ihn mit sehr gewichtigen Gründen bestochen haben, so daß er keine Vernunft annehmen will. Und weißt du, so eine Heirat mit Entführung ist eigentlich ein ganz hübscher Spaß. Was ich dabei zu beklagen habe, ist nur, daß ich keine Ausstattung bekomme. Aber das beste wird sein, die paar Fähnchen zu bestellen, die ich brauchen werde. Wenn Papa einen Funken richtiges Gefühl hat, so wird er sich's nicht nehmen lassen, die Rechnungen zu bezahlen.«

Claud war zu glücklich, um sich nach diesem Wink Sorgen zu machen. Ninas Bereitwilligkeit, die den Frauen sonst so teuren Hochzeitsfeierlichkeiten fahren zu lassen, bewies ihm, wie hoch sie über ihrem Geschlecht stand und wie uneigennützig sie ihn liebte. »Nie könne er ihr genügend dankbar sein,« sagte er, »noch auch aufhören, sein außerordentliches Glück zu bewundern.«

So verfloß beinahe eine Stunde mit Versicherungen ihrer gegenseitigen Liebe, ehe er an die Vorbereitungen für ihre beabsichtigte Flucht dachte. Dann erst fiel ihm zu seinem Schrecken ein, daß die Tage von Gretna Green vorüber waren und daß im freien England zu einer rechtsgültigen Ehe allerlei kirchliche und standesamtliche Vorbereitungen nötig sind.

»Gütiger Himmel!« rief er aus, »was sollen wir beginnen? Ich bin so gut wie sicher, daß wir nirgends getraut werden können, wenn wir nicht in der Kirche aufgeboten worden und mindestens einige Wochen im Kirchspiel ansässig gewesen sind. Hast du schon daran gedacht?«

Nina gestand, daß sie an diese lästige Notwendigkeit nicht gedacht habe. Vielleicht ließe sich aber eine obrigkeitliche oder bischöfliche Licenz erlangen. Oder aber ein fremdes Land böte bessere Aussichten dar. Plötzlich rief sie: »O, da fällt mir etwas ein! Du mußt in der Jacht nach Port St. Marie hinüberfahren und den englischen Konsul aufsuchen. Von ihm kannst du alles Erforderliche hören, ohne daß jemand etwas davon erfährt, und sollte es unerläßlich sein, daß unsere Namen etwa eine Woche lang in seinem Bureau aushängen müssen, so würde das nicht viel auf sich haben. Es wäre doch ein besonderes Mißgeschick, wenn einer unserer Bekannten dorthin käme und es sähe. Ja, ja, das ist das Beste; mich wundert, daß ich nicht eher daran gedacht habe. Ich weiß auch, daß in Port St. Marie ein englischer Geistlicher wohnt, und in Frankreich getraut zu werden, müßte doch ein Hauptspaß sein, findest du nicht? Wir können dann direkt nach Paris gehen und uns eine Wohnung suchen. Was das für ein Spaß sein wird!«

Der letzte Ausruf schien die in ihr vorherrschende Empfindung am besten auszudrücken. Sie lehnte in ihrem niedrigen Stuhl, fächelte sich mit einem Lichtschirm Kühlung zu und verabredete eine Flucht aus ihres Vaters Hause mit so viel Kaltblütigkeit, als ob sie einen kleinen Spaziergang arrangierte. Claud konnte nicht umhin, zu wünschen, daß sie die Sache etwas ernster nehme; er war nicht klar darüber, ob sie wohl die Bedeutung des von ihr vorgeschlagenen Schrittes recht verstehe. Sie ließ seinen unausgesprochenen Gedanken nicht unbeantwortet.

»Um des Himmels willen, setze doch nicht so ein ernstes Gesicht auf! Du wirst noch Zeit genug haben, ernste Gesichter zu machen und diese Stunde zu bereuen. Wir sind nur einmal jung. Ich will alles genießen, den Spaß und alles übrige. Verstehst du mich nicht?«

Claud verstand sie allerdings nicht. Indes erklärte er ihr, daß ihre Freude jetzt und immer sein Glück sei. Ihre Hoffnungen würden sich ja wohl durch Vermittlung des Konsuls in Port St. Marie am sichersten verwirklichen lassen.

»Das Geheimnisvolle an der Geschichte ist das einzige, was mir nicht gefällt,« gestand er endlich ein. »Mein Vater ist immer offen gegen mich gewesen, und wenn es dahin käme, daß ich ihm eine Lüge sagen müßte –«

»Dann, mein geliebter, unbeholfener Junge, wirst du sie ihm sagen. Es ist eine unangenehme Notwendigkeit – nicht mehr und nicht weniger. Und nun höre meinen Schlachtplan. In den nächsten Wochen wirst du dann und wann hierherkommen und so gottjämmerlich betrübt aussehen, wie du nur kannst. Um dich zu zerstreuen, mußt du häufig kurze Reisen unternehmen. Dann mußt du gelegentlich Winke fallen lassen, daß du den Winter hier wohl nicht zubringen wirst, damit dein Vater nicht auf den Gedanken kommt, dich seinerseits von mir zu entfernen. Wie und wann ich mich mit dir vereinigen kann, das mußt du mir überlassen. Aber nun ist es wirklich Zeit, daß wir einen ewigen Abschied nehmen. Wenn du Papa begegnest, so mache ein Gesicht, als wenn du in Thränen aufgelöst wärest.«

Die Wirkung dieser Ermahnung war, daß Claud trotz seiner inneren Glückseligkeit bei Tische mit einer solchen Leichenbittermiene erschien, daß die letzten Reste von Besorgnis bei Herrn Gervis gewiß zerstreut wurden, während die weichherzige Potts in so hohem Grade gerührt wurde, daß sie kaum einen Bissen hinunterbringen konnte.



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