David Christie Murray
Ein gefährliches Werkzeug
David Christie Murray

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Erstes Kapitel.

Am letzten Tage der Schwurgerichtssession stand Reuben Gale, ein hochangesehener, in Holborn wohnhafter Werkzeugfabrikant, unter der Anklage schweren Diebstahles und Raubes, verbunden mit vorsätzlicher schwerer Körperverletzung vor den Schranken des Gerichtes. Der Fall hatte großes Aufsehen erregt und der Gerichtssaal war gedrängt voll. Die Luft war von Staub und Oelgeruch erfüllt und wurde gleich drückend empfunden von dem Richter, den Advokaten, den Geschwornen und den Gerichtsdienern, die sämtlich zwar müde und abgespannt waren, aber durch das undurchdringliche Geheimnis, das diesen Fall umgab, in Spannung erhalten und aufgeregt wurden.

Jedenfalls sah der Angeklagte nicht aus wie ein Einbrecher. Man konnte sich ihn unschwer vorstellen, wie er hinter seinem Ladentisch stand und die Hände reibend fragte: »Womit kann ich dienen?« oder wie er einer Pfarrgemeinderatssitzung anwohnte oder im Schoße seiner Familie ausruhte; allein ganz unmöglich konnte man sich diesen Mann bei einem verbrecherischen, mitternächtlichen Unternehmen beteiligt denken. Er war ein Mann von mittlerer Größe, von magerem, sehnigem Körperbau und trug einen schwarzen, nur etwas allzu völlig zugeschnittenen Anzug und tadellose Wäsche. Sein kurzgeschorenes dunkles Haar begann sich grau zu färben und der sorgfältig gestutzte kleine Backenbart war schon ganz weiß. Er hatte etwas große braune Augen mit dem Ausdruck milder, beobachtender Lebhaftigkeit. Um den Hals hatte er einen Zwicker, den er indessen nicht zu benützen schien, und in der rechten Hand hielt er ein zu einer kleinen Kugel zusammengeballtes Taschentuch, mit dem er sich von Zeit zu Zeit das Gesicht abwischte; ein andres Zeichen von Unruhe und Verwirrung war nicht an ihm wahrzunehmen. Uebrigens wischten sich in dieser erstickenden Hitze auch andre Leute das Gesicht, als stünde ihr Leben auf dem Spiel.

Herr Wyncott Esden, der Verteidiger, wandte sich in äußerst klarer und überzeugender Rede an die Geschwornen; er sprach ruhig, beweiskräftig, als ob er seiner Sache ganz sicher wäre, und faßte sozusagen jeden einzelnen Geschwornen am Rockknopf und legte ihm mit tiefer Ueberzeugung die Sache klar. Sein Ton und sein Wesen waren so verbindlich und so einschmeichelnd, daß die Geschwornen nicht umhin konnten zu glauben, sie seien dadurch viel klüger und besser geworden. Seine Beweisführung war so durchsichtig und klar, daß ein Kind ihre Richtigkeit hätte begreifen müssen. Außerdem wurde der Redner auch durch sein einnehmendes Aeußere unterstützt. Seine offenen, feingeschnittenen grauen Augen blickten ungemein klug und freundlich um sich. Man konnte sich nichts Verbindlicheres und Vertrauenerweckenderes denken, als seine Art sich zu geben.

Er war so sicher, jedermann zu seiner Auffassung zu bekehren, er war so überzeugt, daß er recht hatte, und sein Benehmen drückte eine so hohe Meinung von dem Verstand seiner Zuhörer aus, daß diese geglaubt hätten, sich selbst ein Unrecht zuzufügen, wenn sie seine Ansicht bezweifelten. Er wußte wohl – kein Mensch konnte es besser wissen – so schien sein herzliches, überzeugendes Wesen zu sagen –, daß jeder Versuch, Männer von so hervorragendem Verstand wie die Herrn Geschwornen, hinter das Licht zu führen, vergeblich gewesen wäre. »Nein, wir wollen mit offenen Karten spielen und die Sache einmal näher betrachten. Hier haben wir die bekannten Thatsachen, aus denen Ihr logisch geschulter Verstand bereits diese und jene Schlußfolgerungen gezogen hat. Es ist nahezu abgeschmackt, auf diese Weise zu Ihnen zu reden, denn Sie können all die Thatsachen so gut oder gar besser wissen als ich, allein aus Rücksicht für fernerstehende und dümmere Leute müssen sie festgestellt werden. Wir dreizehn gescheite Leute wissen schon längst, daß der unschuldige Mann dort auf der Anklagebank das Opfer merkwürdiger feindlicher Umstände geworden ist, und werden ihm die Freundeshand reichen und durchhelfen.«

Der Gerichtssaal war so überfüllt, daß sich eine Anzahl Personen selbst auf die Tribüne der Richter drängte; sie wurden wohl zurückgewiesen, kehrten aber so unverscheuchbar wie Fliegen immer wieder dahin zurück.

Einem aufmerksamen Beobachter mußte unter dieser Gruppe besonders ein Gesicht auffallen. Es war das äußerst ruhige, kluge, entschlossene Gesicht eines Mannes in den besten Jahren. Obgleich dieser Mann heiter und alltäglich aussah, so zeigte er doch eine Miene, als ob ihn nichts überraschen könnte. Er trug eine höchst geschmacklose Halsbinde und ebensolche Busennadel und hielt einen spiegelglatten Seidenhut in der Hand. Es war dies Joseph Prickett, Mitglied der hauptstädtischen Geheimpolizei; und er war es, der den angesehenen Bürger hier auf die Anklagebank gebracht hatte, und der nun die jedem Sportsman natürliche Begierde fühlte, seine Beute in Sicherheit zu sehen.

Als die gemütliche und überzeugende Rede Herrn Wyncott Esdens zu Ende war, ergriff der Richter das Wort. Er zeigte sich äußerst verbindlich gegen den Verteidiger und sagte mancherlei, was den Ohren und dem Verstand dieses Herrn recht wohl gefiel, allein seine zusammenfassende Darstellung, so unparteiisch sie auch klang, fiel völlig gegen den Angeklagten aus. Prickett, der schon etwas zweifelhaft geworden war, atmete wieder auf. Die Haltung des Angeklagten veränderte sich kaum, nur wischte er nicht mehr sein Gesicht mit dem zusammengeballten Taschentuch ab, sondern drückte es fest in beide Hände, stützte seine Arme auf die Lehne der Anklagebank und betrachtete forschend die Gesichter der Geschwornen. Durch den einförmigen Ton der Stimme des Richters wurde die einschläfernde Wirkung der Stickluft und der Hitze noch vermehrt, und als sich die Geschwornen zur Beratung zurückzogen, legte sich eine dumpfe Mattigkeit über alle Anwesenden. Auch der Richter begab sich in sein Privatzimmer und der Angeklagte ließ sich, halb verdeckt von dem Geländer der Anklagebank, auf seinen Platz nieder. Von der Straße und den anstoßenden Gängen her drang fernes Geräusch in den Gerichtssaal. Die Dämmerung begann den Saal zu erfüllen. Ein- oder zweimal traf einer dieser Töne das Ohr des Angeklagten und veranlaßte ihn zu lauschen. Dort von der Galerie her klang das unterdrückte Gemurmel vieler Stimmen und eine davon sagte mit überzeugender Kürze: »Fünfzehn Jahre.« Der Angeklagte wandte sich nach dem Sprecher um und wischte sich, trotz der Hitze, kalten Schweiß von der Stirne und den Händen.

Ein alter Habitus des Gerichtssaales, ein Mann in abgeschabten schwarzen Kleidern, mit einem weißen Wisch um den Hals und einem gewissen Rumgeruch um sich her, stand neben Prickett. Er war in aller Bescheidenheit seiner eignen Meinung, aber er bedurfte einer Autorität zu deren Bestätigung.

»Er wird mindestens zehn Jahre bekommen, glauben Sie nicht auch? Wissen Sie, es ist Einbruch mit Körperverletzung – es fehlte nicht viel zu einem Mord. Ist ja das reine Wunder, daß der Mann davongekommen ist.«

»Das wird die nächste halbe Stunde lehren,« erwiderte Prickett. »Man kann nie wissen, was ein kluger Rechtsbeistand für einen Kerl thun kann. Dieser Bursche,« damit wies er auf Herr Wyncott Esden, »ist so schlau wie Garrick. Mit seiner Zungenfertigkeit könnte er einen Vogel von seinem Zweig herunter schmeicheln.«

Er hatte noch kaum ausgesprochen, als eine allgemeine Bewegung die Rückkehr der Geschwornen verkündigte. Ein Gerichtsdiener öffnete die Thür zu dem Zimmer des Richters und eine Minute später hatten dieser und die Geschwornen ihre Plätze wieder eingenommen, während der Angeklagte aufgestanden war und durch die wachsende Dunkelheit hindurch in den Gesichtern zu lesen suchte. Ob die Geschwornen ihr Urteil gefällt hätten? fragte der Gerichtsschreiber. Ja. War der Angeklagte schuldig oder nicht schuldig? Nicht schuldig. Einen Augenblick lang war der Gerichtssaal von Gemurmel und Geräusch erfüllt, und der Angeklagte faltete das dicht zusammengeballte Taschentuch auseinander, rieb seine Hände energisch damit ab und steckte es dann entschlossen n seine Brusttasche.

Der Richter redete den Angeklagten an und empfahl ihm ziemlich eindringlich, lieber nicht mehr hierher zurückzukehren; er habe einen besonders geschickten Verteidiger gehabt, die Geschwornen seien nachsichtig gewesen und es stehe ihm nun frei, zu gehen, wohin er wolle.

Wyncott Esden bildete gleich danach den Mittelpunkt einer gratulierenden kleinen Menschenmenge und einige der älteren Anwälte sprachen sich geradezu begeistert gegen ihn aus. Er nahm ihre Glückwünsche mit dem denkbar größten Anstand in Empfang, indem er weder Schüchternheit noch Aufgeblasenheit, sondern nur verbindliche Freundlichkeit an den Tag legte.

»Ja, ja, mein Junge,« sagte einer von ihnen, »Sie sind für Ihr Lebtag versorgt, denn alle Diebe, die Ihre Gebühren aufbringen können, werden sich künftig auf Ihre Beredsamkeit verlassen.«

Mit dieser Verhandlung gingen die Gerichtssitzungen zu Ende und die großen Ferien begannen. Man unterhielt sich noch eine Weile lebhaft über Ferien und Ferienreisen und dann schlenderte einer der Herren nach dem andern weg. Als Wyncott Esden auf die Straße trat, traf er mit Herrn Prickett zusammen. Der Detectiv berührte den Rand seines spiegelblanken Hutes mit seinem tadellos bekleideten Zeigefinger und spendete dem Anwalt ein bewunderndes, aber doch etwas vorwurfsvolles Lächeln.

»Sie haben ihn herausgerissen, Herr Esden,« sagte Prickett mit leichtem Bedauern in seinem Ton. »Das gehört zum Handwerk und es ist etwas, womit man in unserm Beruf rechnen muß.« Esden lachte, legte ihm vertraulich die Hand auf die Schulter und schien vorübergehen zu wollen, allein Herr Prickett drehte sich um und begleitete ihn ehrerbietig, »Ich hatte auf seine Aussichten nicht zwei Pence gegen hundert Pfund gewettet, Herr Esden.«

»Nun wissen Sie, Prickett,« erwiderte der Anwalt und richtete seinen klugen, freundlichen Blick auf ihn, »es war nicht meine Sache, diese hundert Pfund für Sie zu verdienen, sonst –«

»Ja sonst –!!« sagte Prickett. Er machte zwei oder drei Schritte weiter, immer achtungsvoll gegen seinen Gefährten geneigt, und fuhr dann fort: »Ein ›Nichtschuldig‹ befestigt das Ansehen eines Mannes. Indessen gehört es nicht zu meinem Geschäfte, Verleumdungen zu verbreiten und gar etwa dafür vor Gericht gezogen zu werden. Merken Sie wohl, Herr Esden, ich sage nicht, daß Reuben nicht so unschuldig sei als ein neugeborenes Kind, allein ich würde keinen einen Narren schelten, der an seine Schuld glaubt, und meiner Ansicht nach gibt es in diesem Augenblick keinen glücklicheren Mann als ihn. Wenn Sie mir die Bemerkung nicht verübeln wollen, Herr Esden, so möchte ich behaupten, daß er Ihnen viel, sehr viel Dank schuldig ist.«

»Wir müssen alle suchen, unsere Pflicht zu thun, Prickett,« erwiderte Esden, voll innerer Zufriedenheit ihm zublinzelnd. »Wir müssen alle suchen, unsere Pflicht zu erfüllen in den verschiedenen Stellungen, die uns die Vorsehung beschieden hat.«

Der Polizeibeamte lächelte traurig und bewundernd, blieb einen Schritt zurück, griff wieder an den Rand seines Hutes und sagte: »Guten Abend, Herr Esden.«

Gemächlich schlenderte Esden an dem prachtvollen Augustabend, der einen erquickenden Gegensatz zu dem düstern, schwülen Gerichtssaal bildete, nach seiner Wohnung im Temple. Strahlend, lächelnd, triumphierend hatte er sich auf den Weg gemacht, allein seine Stimmung sank immer mehr, und völlig niedergeschlagen stieg er bis in den höchsten Stock eines der neuen hohen Häuser von Elmcourt, wo er, nachdem er sie geöffnet, die Thüre hastig hinter sich zuwarf. Hinter der schmalen Glasscheibe seines Briefkästchens bemerkte er ein halbes Dutzend Zuschriften, die seiner harrten, und die er nun – den Hut auf den Hinterkopf geschoben, den Stock unter dem Arm – in seinem Wohnzimmer öffnete und mit einem Blick überflog und dann auf den Tisch warf. Jeder Brief enthielt eine schon öfters eingesandte Rechnung und ohne Ausnahme drückten seine Korrespondenten ihre Verwunderung aus, daß er seinen alten Verpflichtungen noch nicht nachgekommen sei. Nachdem er sie alle durchgesehen, schichtete er sie im Kamin aufeinander und zündete sie an. Voll Widerwillen und Ueberdruß holte er dann aus seinem Schlafzimmer einen Geldkasten, in dem sich bei näherer Untersuchung ein Checkbuch mit nur noch zwei Blättern darin und eine einsame Fünfpfundnote fand. Er leerte seine Taschen und ließ ihren Inhalt auf seinen Ankleidetisch fallen.

»Fünfunddreißig auf der Bank,« sagte er laut, »und elf in der Hand – eine höllisch angenehme Aussicht für die großen Ferien!«

Er warf das Checkbuch in den Geldkasten zurück, zerknitterte die Note und steckte sie in die Tasche. Dann raffte er das Gold- und Silbergeld zusammen, verließ seine Wohnung und stieg mit einer Art wildem Galgenhumor die endlose Treppenflucht hinab. Unten angelangt, ging er nach kurzem Zögern quer über die Straße und trat in die Wirtschaft »Zum Hahnen«. Hier zog er sich hinter einen unbesetzten Verschlag zurück und bestellte sich ein Rippchen und einen Schoppen Bearner. Als sein bescheidenes Mahl gebracht wurde, sprach er ihm nur lässig zu und faltete eine Zeitung, in deren Spalten irgend etwas seine Aufmerksamkeit fesselte, bequem zusammen, lehnte sie gegen das Essig- und Oelgestell und begann gleichzeitig zu lesen und zu essen.

Bald darauf trat ein andrer Gast in den Verschlag und ließ sich ihm gegenüber nieder; diese Persönlichkeit war aufs sorgfältigste in einen schwarzen, etwas zu weiten Anzug gekleidet und trug untadelhafte Wäsche. In der Hand hielt er ein zur Größe einer Apfelsine zusammengeballtes Taschentuch, mit dem er von Zeit zu Zeit seine Stirn betupfte. Als der Kellner erschien, um sich nach seinen Befehlen zu erkundigen, äußerte der neue Gast seinen Wunsch nach einem blutigen Steak und einem Schoppen bitteren Ales in einem halb zögernden, halb vertraulichen Ton, wie wenn er ihm ein Geheimnis anvertraut hätte. Nachdem sich der Kellner wieder entfernt hatte, betrachtete sich der Mann in Schwarz zum erstenmal sein Gegenüber, wobei er den Kopf hin und her drehte, als wolle er neue Gesichtspunkte gewinnen. Offenbar war er überrascht, unsicher über die Identität seines Nachbars und wünschte sehnlichst diese festzustellen. Seine Ungewißheit dauerte, bis ihm der Kellner sein Steak gebracht hatte und wieder verschwunden war. Dann streckte der Mann in Schwarz seine Hand nach dem Essig- und Oelgestell aus und sagte: »Sie gestatten, mein Herr.«

Esden sah auf, erkannte ihn auf den ersten Blick und wurde nun seinerseits ebenfalls erkannt. Ueber das gegenseitige Erkennen konnte kein Zweifel obwalten, allein nach einem kalten, gleichgültigen Blick auf den Mann ihm gegenüber, nahm der Anwalt seine Zeitung, lehnte sie gegen seine Weinflasche und fuhr fort zu essen und zu lesen. Die Persönlichkeit, deren Charakter soeben erst von einem Dutzend seiner Mitbürger gereinigt worden war, rollte sein Taschentuch zwischen seinen Händen und schien sich etwas unbehaglich zu fühlen. Doch bald faßte er sich wieder und nahm mit ebensoviel Kraft als Freudigkeit sein Steak in Angriff, so daß er sein Mahl noch vor dem früheren Gast beendet und bezahlt hatte.

Als dann der Anwalt bezahlte und sich zum Fortgehen anschickte, ohne ein Zeichen des Erkennens zu geben, erhob sich auch Reuben Gale. Esden nahm seinen Hut und schlenderte auf die Straße hinaus. Der Mann folgte ihm in einer Entfernung von etwa zehn Meter. Nach einigem Zögern beschleunigte Gale seine Schritte und trat, den Hut in der Hand, an Esden heran.

»Ich glaube,« begann er mit demütiger Schüchternheit, »daß ich die Ehre habe, mit Herrn Wyncott Esden zu sprechen.«

Kühl blickte der größere Esden auf ihn herab.

»Nun?« fragte er in kurzem, verächtlichem Ton.

»Ich war überzeugt, daß ich mich nicht täusche,« sagte Gale, noch immer den Hut in der Hand, mit ihm Schritt haltend. In seiner Stimme lag etwas Einschmeichelndes, aber durchaus nichts Zudringliches; jedenfalls sah der Mann keineswegs wie ein verzweifelter Verbrecher aus und sprach auch nicht wie ein solcher. »Ich weiß wirklich nicht, mein Herr, wie ich Ihnen für die bewunderungswürdige Art und Weise danken soll, mit der –«

Er unterbrach sich, bis ein zufällig Vorübergehender außer Hörweite war, und fuhr dann fort: »Für die wirklich bewunderungswürdige Weise, in der Sie meine Verteidigung geführt haben.«

»Schon gut,« erwiderte Esden, mit demselben gleichgültigen Blick auf ihn herabsehend und in demselben verächtlichen Tone sprechend.

»Ich bin überzeugt,« fuhr der Mann fort, »daß kein andrer Anwalt für mich hätte leisten können, was Sie heute nachmittag fertig gebracht haben. Die Sache stand sehr schlimm für mich, mein Herr; ich glaube nicht, daß sich je zuvor ein unschuldiger Mann in einer solchen Klemme befunden hat.«

»Sehr gut,« bemerkte Esden und beschleunigte seinen Schritt.

Der Mann wich nicht von seiner Seite.

»Wenn es in meiner Macht läge,« fuhr er in seinem entschuldigenden, einschmeichelnden Tone fort, »Ihnen dies irgendwie zu vergelten, so wäre mir damit eine große Last vom Herzen genommen.«

»Sie werden begreifen,« sagte Esden, plötzlich stehen bleibend, »daß es etwas anderes ist, einen Herrn Ihrer Profession zu verteidigen, oder mit ihm in den Straßen spazieren gehend gesehen zu werden. Ich bin genötigt, Ihnen einen guten Abend zu wünschen, Herr Gale.«

»Das ist ganz in der Ordnung, Herr Esden,« erwiderte Gale, nicht von der Stelle weichend, »und ich erkenne sehr wohl die Kluft zwischen uns, aber ein Mann muß auch dem Zug seines Herzens folgen. Sie haben mir heute nachmittag einen Dienst geleistet, wie noch nie jemand zuvor.«

»Mein guter Freund,« erwiderte Esden etwas besänftigt durch die schmeichelhafte Dankbarkeit des Mannes, aber noch immer in verächtlichem Ton, »ich habe meine Pflicht erfüllt und bin dafür bezahlt worden.«

»Ach, Herr Esden,« sagte der andre wieder, der mit Begierde dies erste Zeichen von Entgegenkommen erfaßte, »wie viele der Herren hätten denn mit dem besten Willen das thun können, was Sie fertig gebracht haben? Natürlich, ganz natürlicherweise wünscht ein Gentleman seine Pflicht zu erfüllen, denn davon, wie er dies thut, hängt sein Name, sein Ruf und sein Glück ab. Allein man muß auch wissen, wie man sie erfüllen kann – daran hängt's. Vielleicht möchten Sie wissen, warum ich meinen Sachwalter veranlaßt habe, Sie zu wählen? Ich habe Sie vor etwa einem Jahr, als ich zufällig einmal in Old Bailey war, einen Menschen verteidigen hören, der wegen eines Juwelendiebstahles angeklagt war. Sie haben ihn nicht freibekommen, aber wenn dies irgend einem Sterblichen möglich gewesen wäre, so hätten Sie es fertig gebracht. Herr Esden, sagte ich zu meinem Sachwalter, hat eine so ruhige, sichere Art; er hat die Geschwornen anderthalb Stunden lang im Zweifel gehalten, während sie auf die Beweise hin bei jedem andern sofort auf ›Schuldig‹ erkannt hätten.«

Nun war Esden zwar ein sehr kluger Mann, aber wie andre kluge Männer vor ihm war er ausnehmend empfänglich für Lob. Wohl war er in seinem Innersten überzeugt, daß Herr Gale ein abgefeimter Schurke sei, allein selbst ein Advokat kann sich nicht für einen Nebenmenschen bemühen, ohne ein gewisses parteiisches Interesse an ihm zu nehmen, und Herrn Esden ging es wie Milch und Honig ein, daß Gale sich zur Wahl seines Verteidigers so sehr beglückwünschte.

Es war Nacht geworden und es schien gänzlich unwahrscheinlich, daß er von irgend einem Freund oder Bekannten im Gespräch mit seinem Klienten gesehen würde, und selbst dann wäre es nicht unangenehm gewesen, zu erzählen, wie sich der Mann in seiner überfließenden Dankbarkeit durchaus nicht habe abschütteln lassen.

»So, so,« antwortete Esden, der anfing, ein humoristisches Interesse an dem Mann zu nehmen, »dann dachten Sie also bei sich, wenn ich einmal in der Patsche sitze, ist dies der richtige Mann für mein Geld?«

»Ja, aber damals hatte ich mir nie träumen lassen, daß mir so etwas geschehen könnte.«

»Natürlich nicht,« bestätigte Esden; »aber immerhin ist es kurios, daß Herr Prickett seinen ungerechten Verdacht schon fünf Jahre lang genährt hat.«

»Kurios, Herr Esden!« rief Gale traurig. »Entschuldigen Sie gütigst, aber blutdürstig ist das richtige Wort dafür!«

Esden hatte seine Schritte immer mehr verlangsamt, seit er sich entschlossen hatte, den Mann anzuhören; nun waren sie in die Nähe von Holborn gelangt und er blieb stehen.

»Ich bin Ihnen über die Maßen verbunden, Herr Gale,« sagte er mit gelinder Ironie, »für den Ausdruck Ihrer Zufriedenheit mit meinen Leistungen in einer, wie ich Ihnen gern zugebe, schwierigen und heiklen Sache. Es ist mir nicht unwahrscheinlich, daß Ihnen meine Dienste, obgleich sie Ihnen stets zur Verfügung stehen, bei der nächsten Gelegenheit von geringerem Nutzen sein werden. Wir stehen jetzt am Beginn der langen Ferien und in den nächsten drei Monaten darf ich Sie wohl kaum zu sehen hoffen. Nochmals guten Abend!«

»Bitte vielmals um Entschuldigung,« antwortete Gale. »Ein Mann in meiner Stellung versteht es nicht recht, mit einem Gentleman zu reden – er kann nicht gut ausdrücken, was er sagen will; aber wenn Sie mir die Ehre erweisen wollten, in mein Geschäftslokal zu treten – es ist hier ganz in der Nähe –, so würde ich Ihnen gerne einen geschäftlichen Vorschlag machen.«

Schon vor einer Weile hatte er seinen Hut wieder aufgesetzt und nun stand er da und rieb sich in größter Verlegenheit die Hände.

»Sie möchten mir gerne einen geschäftlichen Vorschlag machen?« wiederholte Esden im Ton äußerster Ueberraschung.

»Ich würde es als eine große Gunst betrachten, wenn Sie mich anhören wollten. Erweisen Sie mir die Ehre, in mein Geschäft zu treten –«

»Dit l'araignée à la mouche,« sagte Esden mit einem heitern Blick auf seine eigenen und seines Gefährten Körperverhältnisse. »Das wäre eine neue Art, seine Dankbarkeit auszudrücken,« setzte er innerlich hinzu.

»Bitte um Entschuldigung,« sagte Gale, »ich habe Ihre Bemerkung nicht ganz verstanden. Wenn Sie mir die Ehre erzeigen wollen, einzutreten, so werde ich es als eine große Gunst betrachten.«

»Mein guter Mann,« erwidert der Anwalt, »Sie können mir hier alles sagen, was Sie zu sagen haben.«

»Nein, offen gestanden, das kann ich gerade nicht,« gab Gale zurück, »aber wenn Sie nur die Freundlichkeit haben wollten, ein paar Schritte mit um die Ecke zu gehen, so würde ich Sie nicht eine Minute aufhalten, und es würde sich, glaube ich, auch lohnen.«

Esden starrte ihn immer verwunderter an.

»In meinem ganzen Leben bin ich noch nicht so neugierig gewesen,« sprach er zu sich selbst. »Zeigen Sie mir den Weg!« sagte er dann laut.

»Danke,« antwortete Gale, »ich bin Ihnen sehr verbunden.«

Esden folgte ihm, faßte seinen Spazierstock in der Mitte und wog ihn vorsichtig in der Hand. Sein Gefährte schritt rasch voran, zog einen Bund Schlüssel aus der Tasche und klimperte im Gehen damit. Nach etwa hundert Schritten hielt er vor einem kleinen, niederen Laden an, den er wie gewohnheitsgemäß rasch aufschloß. Der Raum gähnte schwarz hinter der Thüröffnung, der Kaufmann trat zur Seite und forderte seinen Gefährten durch eine Handbewegung auf, näher zu treten.

»Nach Ihnen,« sagte Esden, noch immer den Stock in der rechten Hand wiegend.

»Sehr wohl, Herr Esden,« erwiderte Gale, trat ein und zündete einen Gasarm an, der pfiff und zischte, als er das Streichholz daran hielt. Esden folgte ihm und befand sich plötzlich in einer nach Packpapier, Oel und moderigem Holz riechenden Atmosphäre, An drei Seiten waren vom Boden bis zur Decke Fächer angebracht, die mit gleichmäßig in Packpapier gewickelten, sorgfältig zugebundenen, schwer aussehenden Paketen angefüllt waren. Auf einer großen Wage auf dem Ladentisch lagen fünf oder sechs Pfund schwere Nägel, die die eine Schale herabgedrückt hatten, während die leere Schale sich in ihre Kette verwickelt hatte. Auf dem Fußboden und dem Ladentisch lagen pünktlich geordnet Eisenstangen in den verschiedensten Größen, Meißel, Hämmer, Sägen, Bohrer – kurz all das Zubehör einer Eisenhandlung. In einer Ecke hinter dem Ladentisch stand ein grün angestrichener Kassenschrank in die Mauer eingelassen.

Gale schloß die Thüre und der Anwalt beobachtete ihn, an den Ladentisch gelehnt, mit ruhigem, klugem Blick, da er nicht wußte, was kommen sollte, und einigermaßen erstaunt war, sich allein in solcher Gesellschaft zu befinden. Ohne auch nur einen Blick auf ihn zu werfen, schritt sein Gefährte um den Ladentisch herum, nahm seinen Schlüsselbund wieder zur Hand und schloß den Kassenschrank auf, aus dem er einen Geldkasten nahm, den er auf den Ladentisch setzte. Mit wachsender Aengstlichkeit und Verlegenheit öffnete er nun auch die Kassette und entnahm ihr fünf schmutzige Zehnpfundnoten.

»Ich weiß nicht, wie ich es vorbringen soll, Herr Esden,« sagte er aufblickend, »aber die Dankbarkeit eines gewöhnlichen Mannes darf sich vielleicht in dieser Form ausdrücken –« und er hielt ihm die Scheine mit seiner harten, schwieligen Hand entgegen.

»Nun, wahrhaftig, Sie sind in Ihrer Art gar kein so übler Bursche, Gale,« erwiderte Esden.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, denn wissen Sie, ich habe Angst gehabt, Sie könnten es für beleidigend halten, wenn ich so spreche,« sagte Gale, der ihm die Noten noch immer hinhielt.

Der Anwalt wischte eine dicke Schicht Staub weg, um für seine Ellbogen Platz zu machen, stützte diese auf den Ladentisch und sagte dann: »Na, wissen Sie, es ist beleidigend und ist es auch wieder nicht. Legen Sie die Noten weg, bitte. Legen Sie sie sofort weg,« wiederholte er scharf, als er sah, daß ihn Gale mit einem Ausdruck plötzlicher Enttäuschung anstarrte und ihm die Scheine noch immer entgegenhielt.

»Ich dachte, Sie würden sie nehmen, Herr Esden,« sagte Gale.

»So, dachten Sie dies?« fragte Esden zornig. Er hätte, wie er selbst am besten wußte, nicht nötig gehabt, ärgerlich zu sein, wäre es nicht um der Versuchung willen gewesen, die auf ihn einstürmte. Es war natürlich ganz unmöglich, das Geld anzunehmen, aber niemand hätte es je erfahren und er befand sich in so drückender Bedrängnis.

»Bitte um Vergebung,« entschuldigte sich Gale, die Noten sofort zurückziehend, »aber ich wußte nicht, wie ein Gentleman darüber denken würde.«

Mit einem Gefühl des Widerstrebens verfolgten Esdens Blicke die Scheine auf ihrem Rückweg in den Kassenschrank. Es reute ihn halb und halb, so entschieden gesprochen zu haben. Warum war er nur so ein Esel gewesen und hatte fünfzig Pfund weggeworfen?

Gale that, als ob er auf dem Ladentisch aufräumte, schraubte die lautsummende Gasflamme etwas niederer und blickte Esden an, der, noch immer die Arme auf den Ladentisch gestützt, zu zögern schien.

»Ich muß Sie dringend bitten,« begann der Werkzeugfabrikant aufs neue, »nicht zu glauben, ich habe Sie hierher genötigt, um Sie zu beleidigen. Ich habe gehört, daß dies schon oft vorgekommen sei, und habe die Sache ganz anders angesehen.«

»Das mag wohl sein,« erwiderte Esden, »unser Herrgott hat ja Kostgänger aller Art,« Gale fühlte sich durch die Anwesenheit dieses edlen Gentleman bedrückt und machte sich immer wieder mit einer Handvoll Werkzeuge auf dem Ladentisch zu schaffen. »Sie sind besser, als ich gedacht habe,« erklärte der Advokat in wohlwollendem Ton; »ich gebe zu, daß ich mich zuerst etwas unangenehm berührt fühlte, aber ich sehe ein, daß Sie es gut gemeint haben und mir wirklich dankbar sind.«

»Das bin ich auch in der That,« sagte Gale in unterwürfigem Ton.

»Gut also,« fuhr Esden mit plötzlicher Lebhaftigkeit fort, »so lassen Sie mich Ihre Dankbarkeit auf die Probe stellen.«

»Von Herzen gern, Herr Esden.«

»Schön,« sagte Esden und zeigte wieder sein kluges, überredendes Lächeln; »Sie verstehen ja wohl ein bißchen was von diesem Geschäft, nicht wahr? Wissen ist Macht! Nun bin ich Advokat und zwar Kriminalist und es könnte mir eines schönen Tages ganz geschickt sein, wenn ich wüßte, was Sie mir sagen können.«

Der Werkzeugfabrikant nahm eine etwas zu bewußt biedere Miene an.

»Selbst der allerrechtlichste Kaufmann meiner Branche läuft Gefahr, mit schlechten Leuten Geschäfte machen zu müssen.«

»Natürlich,« stimmte ihm Esden noch immer lächelnd zu, »aber nun sagen Sie mir das, was der allerrechtlichste Geschäftsmann in Ihrer Branche wissen darf.« Gale zögerte. »Ueber Einbruchswerkzeuge zum Beispiel,« setzte der Advokat ermunternd hinzu.

»Eigentlich,« erwiderte der ehrliche Geschäftsmann, »gibt es gar keine besonderen Einbruchsinstrumente, aber es befindet sich auch nicht ein Werkzeug im Laden, das ein Einbrecher nicht zu seiner Arbeit verwenden könnte. Hier sehen Sie den Drillbohrer und den Schrotmeißel und Brecheisen jeder Art, vom Lord Manor bis herab zum Jaköbchen.Lord Mayor ist ein langes Brecheisen zum Aufbrechen eiserner Geldschränke und das Jaköbchen ein kleines Taschenbrecheisen. Anm. d. Uebers. All diese Werkzeuge werden tagtäglich zu ehrlicher Arbeit verwendet: ist einer aber ein Einbrecher und kann es erschwingen, so hat er sie ein wenig feiner als der gewöhnliche Arbeiter.«

»Aus Berufsstolz?« fragte der Anwalt.

»Das mag bisweilen wohl auch mit unterlaufen, aber im allgemeinen aus praktischen Gründen, denn es kommt bei einem Einbruch natürlich mehr darauf an, als bei gewöhnlicher Arbeit. Es muß rasch und geräuschlos gemacht werden. So kommt zum Beispiel ein Mann und kauft sich einen Hammer – sagen wir einmal mit kurzem Griff und schwerem Kopf – wie man ihn bei Dutzenden von Handwerken braucht. Will er ihn zu nächtlicher Arbeit verwenden, so läßt er ihn mit dickem Leder beziehen, ebenso das obere Ende seines Schrotmeißels und legt, ehe er ans Werk geht, das Leder zwei oder drei Stunden in Wasser, so daß sich kaum ein Ton vernehmen läßt, wenn er die Instrumente anwendet. Manchmal haben sie auch alle ihre Werkzeuge mit Leder überzogen, damit sie nicht klirren, und wenn die Brecheisen zu lang sind, um in einer mäßig großen Reisetasche untergebracht werden zu können, so lassen sie dieselben in einzelnen Teilen anfertigen, die mit langen Schrauben zusammengefügt werden und fast luftdicht aneinanderschließen. Ach,« rief er nach einer kleinen Pause, »da fällt mir eben ein, daß ich besagten Gegenstand in einer Minute hier habe, wenn Sie so lange allein hier warten wollen.«

Er verließ den Laden, kehrte aber alsbald wieder zurück und trug ein kleines, mit Leder überzogenes Brecheisen in der Hand. Die beiden unbedeckten Enden, von denen das eine wie der Nagelzieher an einem gewöhnlichen Hammer gespalten und gebogen und das andre flach und scharf wie ein Rasiermesser war, blitzten im Lichte der Gasflamme wie poliertes Silber.

»Es ist geradezu wunderbar, wie ich dazu komme, einen derartigen Gegenstand zu besitzen. Ich will es Ihnen erzählen. Vor etwa sechs oder sieben Monaten trat ein gut gekleideter, anständig aussehender Herr in den Laden und bestellte einen Satz Instrumente – Brecheisen von jeder Größe und zwei oder drei andre Gegenstände, die aus dem allerbesten Stahl und genau nach seinen Angaben hergestellt werden mußten. Er war sehr offen und gesprächig und erzählte mir, wie große Freude er an Drechsler- und Schreinerarbeiten habe. ›Ich habe drei Jahre gebraucht, bis mein Haus fertig war, aber jetzt enthält es auch vom Keller bis zum Dach nichts, was ich nicht selbst gemacht hätte.‹ Dies ist natürlich nichts Ungewöhnliches, denn es gibt viele Leute, die Langeweile haben und sich die Zeit auf diese Weise vertreiben, trotzdem wunderte ich mich, wozu er wohl alle die Brecheisen brauche und warum er sie alle mit Leder bedeckt haben wollte gleich diesem hier. Doch mich ging dies ja nichts an; ich nahm die Bestellung entgegen und er gab mir zwei Pfund als Vorschuß und ging, und seither habe ich nichts mehr von ihm gehört.«

»Er hat die Werkzeuge nie abgeholt?« fragte Esden.

»Nie, Herr Esden. Dies ist eines davon, und wenn in ganz London überhaupt ein Einbruchswerkzeug zu finden ist, so ist es dies. Und es ist vorzüglich gearbeitet! wäre nicht der Lederbezug, so machte ich jede Wette, daß niemand, selbst Sie nicht, Herr Esden, den Ansatz finden könnte – da, sehen Sie her!« Mit der sicheren Gewandtheit des geübten Mechanikers schraubte er die Brechstange so rasch auseinander, daß es aussah, als ob sie ihm in der Hand auseinanderfalle. »Sehen Sie her,« fuhr er fort und wies dem Advokaten die Schraube; »das greift ineinander wie ein Uhrwerk, und dünn wie es ist, gibt es doch in ganz London keine Thüre, die nicht auffahren würde, sobald Sie einen Spalt entdeckten, der groß genug wäre, um die Spitze dieses Hakens einführen zu können.«

Herr Gale hatte sich über der Bewunderung des Werkes seiner Hände etwas ins Feuer geredet und seine Finger, die für einen so mageren Mann außerordentlich schwielig und kräftig waren, schlossen sich unwillkürlich mit festem Griff um die Brechstange, während er deren Anwendung erläuterte. Fast im nämlichen Augenblick gewahrte er aber das verständnisinnige Lächeln, das um Esdens Lippen zuckte, und hielt inne.

»S' ist für einen des Einbruches verdächtigen Menschen eine häßliche Sache, etwas Derartiges im Hause zu haben, nicht wahr?« fragte Esden.

»Nun ja, Herr Esden,« sagte Gale mit etwas übermachter Aufrichtigkeit; »eine sehr häßliche Sache, aber das merkwürdigste dabei ist, daß die Polizei dies Werkzeug nicht gefunden hat, trotz der Haussuchungen, die sie bei meiner Verhaftung und später wiederholt angestellt hat. Guter Gott, wenn sie es gefunden hätten!«

Sein plötzliches Erschrecken bei dieser Vorstellung war echt genug und wieder wischte er seine Stirne mit dem Taschentuch ab. »Die Vorsehung steht dem Unschuldigen bei, Herr Esden. Dies Werkzeug lag unter den andern Vorräten und hätte leicht genug gefunden werden können, und doch ist es ihnen entgangen. Das war der Finger Gottes, Herr Esden, ja, ja, der Finger Gottes, sage ich Ihnen!«

Noch immer schmunzelnd, drehte Esden die beiden Hälften hin und her, untersuchte sie mit höchstem Interesse und schraubte sie dann zusammen.

»Ja,« meinte er, »das ist sehr hübsch gearbeitet.«

»Da kommt mir ein Gedanke, Herr Esden,« sagte Gale und beugte sich mit überzeugendem Lächeln über den Pult. »Sie haben das Geld nicht genommen – entschuldigen Sie, daß ich meine Ungeschicklichkeit überhaupt noch einmal erwähne – wollen Sie nicht dies Werkzeug zur Erinnerung an einen dankbaren Klienten annehmen?«

»Dies?« fragte Esden und hielt die Brechstange mit komischem Erstaunen in die Höhe.

»Warum nicht? Ich würde es nicht dem ersten Besten anbieten, aber in den Händen eines Gentleman wie Sie – und es hat gar keinen Wert, wenigstens keinen von Belang, so brauchen Sie sich also nicht zu schämen, es aus den Händen eines armen Mannes, der eine große Verpflichtung gegen Sie hat, anzunehmen.«

»Aber was soll ich denn damit thun?« fragte Esden.

»Natürlich nützt es Sie nichts, aber es ist doch interessant, interessant durch den Zusammenhang könnte man sagen. Und es ist gutes Material und ein wahres Meisterstück, wenn man dies von seiner eignen Arbeit sagen darf. Nehmen Sie es, Herr Esden, ich kann es zu nichts gebrauchen, ja, es ist sogar gefährlich für mich, und es können viele Jahre vergehen, bis ein Käufer kommt, der etwas Derartiges sucht. Sie können es ganz leicht in der Brusttasche tragen – so.« Er schraubte es auseinander und hielt dem Anwalt die beiden Stücke hin. »Bitte, bewahren Sie es zum Andenken.«

»Nun, warum auch nicht?« sagte Esden lachend.


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