David Christie Murray
Ein gefährliches Werkzeug
David Christie Murray

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neuntes Kapitel.

Die eine Seite des Weges entlang lief eine niedere Steinmauer und auf diese stützte sich Wyncott, als er die Neuigkeit erfuhr. Einen Augenblick starrte er ganz verwirrt seinen Vetter und den Detectiv an; dann schob er seinen Hut in den Nacken, fuhr sich mit der Hand über die Stirn und faßte sich nach und nach.

»Das ist eine sehr vermessene That,« sagte er. »Nicht wahr, Prickett? Sie haben natürlich mehr Erfahrung als ich, aber ich habe noch nie etwas derartiges gehört. Jedenfalls haben Sie keine Zeit verloren.«

»Nein,« erwiderte Prickett mild, »ich lasse das Gras nicht oft unter meinen Füßen wachsen.«

»Verfügen Sie in jeder Beziehung über mich, Prickett,« sagte der Advokat.

»Danke, Herr Esden, Ihr Beistand ist mir von großem Wert.«

In kurzen Worten teilte er mit, was er bereits erfahren hatte, und Wyncott hörte ihm aufmerksam zu. Dann sagte er: »Jetzt müssen wir unsere Kräfte teilen. Sie gehen und befragen Dadge, und ich gehe nach der Station zurück und ziehe dort Erkundigungen ein – oder noch besser, gehst du, Arnold, nach der hiesigen Station und ich gehe nach Hemsleigh hinüber, um dort Nachforschungen anzustellen. Es ist ein Jammer, daß dies alles nicht längst geschehen ist, denn unterdessen kann der Dieb bis Birmingham oder Dover gelangt sein. Sie haben das Kästchen ja nie gesehen, in dem die Steine aufbewahrt wurden – es hat die Größe eines großen Quartblattes und etwa fünf Zoll Tiefe. Ein Mann kann es unter seinem Ueberzieher tragen, ohne aufzufallen; er kann es aber auch als gewöhnliches Paket in Zeitungspapier und auf fünfzigerlei andre Weise unbemerkt in Sicherheit bringen. Wir haben also nach einem Unbekannten mit einem Paket zu fragen, der mit dem ersten Zug, den er nach fünf Uhr erreichen konnte, fortfuhr. Du kannst den Stationsvorsteher heißen, bei den nächsten zwei oder drei Stationen in jeder Richtung anzufragen. Ich werde dasselbe in Hemsleigh thun. Wo wollen wir uns wieder treffen?«

»Ich habe meine Reisetasche im Vorbeigehen in der ›Fischerruhe‹ abgegeben,« sagte Prickett. »Ein angenehm aussehendes kleines Haus – vielleicht wollen die Herren dort mit mir zusammentreffen, wenn sie ihre Erkundigungen eingezogen haben. Wenn Sie gestatten, Herr Esden, will ich Ihre Tasche auch dort abgeben.«

»Gut,« erwiderte Esden, ihm dieselbe übergebend, »in einer Stunde werde ich dort sein.«

Mit leichtem, festem Schritt entfernte er sich und Prickett sah ihm einen Augenblick nach.

»Genau das, was, wie ich Ihnen sagte, hätte geschehen müssen,« bemerkte er dann.

Ziemlich niedergeschlagen über diese Versäumnis begab sich der junge Geistliche zum Stationsvorstand. Weder er noch Prickett erfuhren irgend etwas von Belang, und als sich Wyncott bei ihnen einfand, hatte er ebensowenig eine Spur gefunden.

Die drei Herren aßen gemeinschaftlich und unterhielten sich über andre Gegenstände, bis Wyncott plötzlich seinen Teller zurückschob und im Zimmer auf und ab zu gehen begann.

»Prickett,« sagte er, »ich habe einen Gedanken. Ich denke, wir können die geraubte Sammlung wieder bekommen.«

»Das ist sehr zu wünschen,« erwiderte Prickett.

»Fräulein Pharrs eigener Schmuck,« fuhr Esden fort, »könnte vielleicht für ein paar hundert Pfund verpfändet werden. Ich verstehe zwar nicht viel von solchen Dingen, aber ich habe ihn gesehen und glaube nicht, daß er mehr als sechshundert Pfund gekostet hat, als er gekauft wurde. In dem Kasten befinden sich Münzen, die für Kenner beinahe unschätzbar sind, aber die ganze Sammlung enthält für keine fünfzig Pfund Metall. Jede einzelne Münze ist mehr oder weniger berühmt, aber für den Dieb haben sie alle nur den Wert von altem Gold. Die Edelsteine sind alle ungeschliffen, und es wäre ebenso gefährlich als kostspielig, sie einem Steinschneider zu übergeben, um sie nachher auf den Markt bringen zu können. Der Steinschneider würde einen Anteil verlangen, und Sie wissen ja, was Edelsteine wert sind, wenn sie beim Verkauf durch unehrliche Hände gehen.«

»Von diesem Standpunkt aus betrachte ich den Diebstahl überhaupt,« ließ sich Prickett vernehmen, der sich zurücklehnte und mit seinem Federmesser in den Zähnen stocherte. »Seine notwendige Folge ist die Herabsetzung des Wertes des gestohlenen Gegenstandes. Wenn ich ein Dieb wäre, würde ich nur Goldstücke stehlen. Alles andre ist für den Bestohlenen ein großer Verlust und für den Dieb ein möglichst geringer Verdienst. Ich bin der Ansicht, daß ein Mann schon nicht mehr recht im Kopf ist, der sich darauf einläßt.«

»Nun also,« fuhr Esden fort, der diese Unterbrechung hatte geduldig über sich ergehen lassen, »scheint es mir, daß wenn dieser Diebstahl auch nicht – wie es immerhin sein könnte – in Erwartung einer Belohnung begangen worden ist, doch eine solche Belohnung die beteiligten Leute zur Rückgabe des gestohlenen Gutes bestimmen könnte.«

»Das hieße mit einem Schurken paktieren, Herr Esden,« sagte Prickett.

»Nun ja – allerdings,« gab Esden zu, »es ist etwas daran. Wie hoch sagten Sie, daß Doktor Elphinstone die Sammlung geschätzt habe?«

»Zwischen dreißig- und vierzigtausend Pfund.«

»Sagen wir also dreißigtausend,« sagte Esden. »Glauben Sie, daß, falls Sie an Fräulein Pharrs Stelle stünden, Ihr Gefühl für öffentliche Moral stark genug wäre, um Sie davon abzuhalten, neunundzwanzigtausend Pfund zu retten? Wie?«

Prickett lächelte.

»Schwerlich. Ich glaube nicht zu viel zu behaupten, wenn ich sage, mein Gefühl für öffentliche Moral könnte leichtlich schon in die Brüche gehen, um den vierten Teil einer solchen Summe zu ersparen. Dies ist natürlich nicht der Standpunkt von Scotland Yard – ich spreche nur als armer Sterblicher.«

»Genau so,« erwiderte Esden. »Allein die Behörde könnte nichts dagegen einwenden, wenn eine Belohnung von tausend Pfund angeboten würde.«

»Natürlich nicht,« gab Prickett zur Antwort. »In einem Fall, wie der vorliegende, muß der Dieb eine Menge Menschen ins Vertrauen ziehen, und je größer die Belohnung ist, je wahrscheinlicher ist es auch, daß sich einer dadurch herumbringen läßt. Tausend ist indessen doch etwas zu hoch gegriffen. Fünfhundert thun's auch.«

»Fünfhundert können einen Mitschuldigen zum Verrat veranlassen,« wandte Esden ein, »aber tausend könnten den Dieb selbst verlocken. Fräulein Pharr wird in erster Linie die Juwelen zurückzuerhalten wünschen. Natürlich bleibt dies ganz unter uns, Prickett, wir besprechen die Sache als Männer von Welt und nicht als Diebesfänger von Profession. Ich habe Fräulein Pharr noch nicht gesprochen, aber ich glaube, daß dies ihr Wunsch ist, und wenn ich Sie wäre,« fügte er mit seinem alten schlauen Lächeln hinzu, »so würde ich mich der Höhe der Belohnung nicht widersetzen – Sie können vielleicht den Mann fassen, ehe er sich schlüssig gemacht hat.«

Prickett lächelte vor sich hin, als ob ihm diese Aussicht nicht übel gefiele.

»Wir müssen jetzt heimgehen, Wyncott,« sagte Arnold. »Die Damen werden heute abend gewiß etwas ängstlich sein.«

»Ich begleite Sie, meine Herren,« erklärte Prickett; »Fräulein Pharr hat einige Papiere für mich, mit denen ich den letzten Zug noch erreichen möchte.«

»Wollen Sie heute nacht noch nach London zurück?« fragte ihn Wyncott.

»Nein, Herr Esden,« erwiderte Prickett. »Es ist eine wunderbar schöne Nacht. In einer halben Stunde geht der Vollmond auf und dann wird es fast taghell werden. Ich werde einen Rundgang machen und mir die Lage des Gutes betrachten. Daß ja keiner der Herren aus einem Hinterhalt auf mich schießt.«

Als sie das Haus erreichten, hatte Fräulein Pharr die Beschreibung ihres Schmuckes viermal abgeschrieben. Nachdem Prickett die Papiere in Empfang genommen hatte, verabschiedete er sich für die Nacht und ging. Wyncott mußte eine Wiederholung der schon gehörten Erzählung über sich ergehen lassen und entwickelte seinen Plan mit dem Ausschreiben einer Belohnung. Alle waren mit ihm einverstanden und Arnold wollte sofort mit einer Anzeige für alle Londoner Tagesblätter nach der Stadt fahren, aber Wyncott sagte: »Laß Prickett einen oder zwei Tage Zeit; wir wollen sehen, ob er etwas machen kann. Es würde einen Mangel von Vertrauen in die Polizei vermuten lassen, wenn wir schon so schnell eine Belohnung ausschrieben. Wir wollen ein wenig zuwarten – ich halte viel von Prickett; man hätte uns kaum einen bessern Beamten schicken können.«

Unterdessen hatte Prickett seine Schriftstücke fortbefördert und war, im Genuß einer Cigarre schwelgend, über den Berg nach dem Haus zurückgeschlendert. Die Nacht hielt, was sie versprochen hatte, und als der Mond über den Wipfeln der Bäume stand, übergoß er die Landschaft mit beinahe tropischer Helle. Gemächlich umging der Detectiv das Gut, indem er die äußere Mauer entlang schritt und die verschiedenen Eingänge besichtigte. Zwei oder drei Minuten lang verweilte er vor einem nur durch eine Klinke befestigten Pförtchen, durch das man nach dem vordern Rasenplatz gelangen konnte, und bemerkte, daß der Weg dorthin durch eine Reihe hoher Rhododendronbüsche gedeckt wurde.

»Sie waren alle auf dem Rasenplatz hinten,« sagte er zu sich selbst, »und wenn außer diesem Mädchen irgend jemand drin war, so ist er von dieser Seite, wahrscheinlich durch dies Pförtchen gekommen. Sobald sie das Zeichen gab, daß die Luft rein sei, konnte er unter dem Schutz dieser Sträucher ins Haus und auf dem nämlichen Weg zurückschleichen. Dann hätte er aller Wahrscheinlichkeit nach seinen Weg diese Mauer entlang genommen. Wir wollen uns doch einmal die Gelegenheit betrachten.«

Ruhig schlenderte er weiter und blickte bald rechts, bald links mit einer Wachsamkeit, die ihm ganz zur andern Natur geworden war.

»Der alte Schotte,« überlegte er so vor sich hin, »sieht nicht aus, als ob er sich leicht über den Löffel barbieren ließe, besonders nicht in seinem eigenen Fach. Aphasie? Agraphie? Hätte ich ihn doch gefragt, wie man das schreibt – dann hätte ich ein paar Zeilen an den Polizeiarzt schreiben können.«

Aus dem Schutz der Mauer, die das Gut umschloß, heraus trat er nun ins freie Feld. Von dem erhöhten Punkt, auf dem er stand, bemerkte er eine Viertelmeile entfernt eine schwarze Oeffnung.

»Das ist ein Bahndurchstich,« sagte er, »höchst wahrscheinlich wird ein Dieb dorthin zu gelangen suchen. Wo hat er die meiste Deckung? Hier an der Ecke!«

Neben der Hecke zog sich ein Graben hin, und das Mondlicht, das voll hineinfiel, verriet, daß das üppige, feuchte Gras niedergetreten worden war.

»Joseph,« sagte Prickett mit innerlichem Frohlocken, »du bist etwas auf der Spur! Ich weiß aber doch nicht,« setzte er schon etwas kleinlauter hinzu, »das könnte auch irgend ein Balg aus dem Dorf gewesen sein. Kinder laufen gerne in Gräben und halten sich immer mit Vorliebe da auf, wo sie nichts zu thun haben. Einerlei, Joseph, wir gehen 'mal hier weiter und sehen, ob es zu etwas führt.«

Es führte schließlich zu einem Bohnenfeld. In der Hecke zeigte sich eine Oeffnung, und als Prickett über das Feld hinblickte, konnte er ganz deutlich eine etwas im Zickzack laufende Linie erkennen, die aussah, als ob sie durch das Durchgehen eines Menschen entstanden wäre.

»Ich glaube, es ist fahrlässige Schädigung fremden Eigentums, aber das ist einerlei. Hier geht's durch.«

Rasch eilte er, stets der Linie folgend, quer über das Feld und durch eine zweite Hecke, die schnurgerade auf den Durchstich zuführte. Auch hier fand sich ein Graben, aber die Hecke hüllte ihn in tiefen Schatten, Prickett zündete ein Reibwachskerzchen an, kniete auf dem Gras nieder und entdeckte wiederum Fußspuren.

»Das ist genau der Weg, den einer nehmen würde,« flüsterte er, – »bis auf das kleine Bohnenfeld ganz gedeckt.« Der Abhang war steil und von oben bis unten lief eine mit Ziegelsteinen ausgemauerte Abzugsröhre, die von dem Graben oben nach einer Erdvertiefung unten führte. Neben der Röhre war die Erde glatt und eingedrückt, als ob ein schwerer Gegenstand da hinuntergeglitten wäre. Bezweifelnd, daß er eine Fortsetzung der Spur finden werde, setzte der Detectiv vorsichtig einen Fuß auf den Abhang, glitt aber aus und rutschte viel schneller hinunter, als er beabsichtigt hatte. Im ersten Augenblick war er etwas verblüfft, allein er faßte sich rasch und rauchte seine Cigarre mit so gelassener Miene weiter, als hätte er sich nur zu diesem Zweck in solch absonderlicher Weise auf diesen Fleck Erde begeben.

Plötzlich fiel ihm ein Lichtschein ins Auge, der aber sofort wieder verschwand. Eben war er im Begriff gewesen, eine bequemere Stellung einzunehmen, und nun bewegte er den Kopf hin und her, um den Lichtschein wieder zu erhaschen, denn der unwahrscheinliche Gedanke, der Schimmer könne von einem der gestohlenen Edelsteine ausgehen, war in ihm aufgestiegen. Er bemerkte den Schimmer wieder und hob mit leisem Pfeifen den blitzenden Gegenstand auf. So voll und klar das Mondlicht auch war – es genügte ihm nicht, und er zündete ein halbes Dutzend Wachsstreichkerzchen auf einmal an und untersuchte den Gegenstand, bis er sich die Finger verbrannte.

»Reuben, alter Gauner,« sagte er ganz ruhig, »ich glaube, da hast du die Hand im Spiel. Halt einmal – es ist halb elf Uhr. In einem schlanken Trab kann ich in anderthalb Stunden nach London kommen. Wir wollen's 'mal im ›Weißen Roß‹ versuchen.«

Damit erklomm er die Böschung wieder und eilte durch das Dorf nach dem Wirtshaus, in dem er abgestiegen war.

»Wie ich höre, Mann,« sagte er zu dem Wirt, »haben Sie ein kleines, aber tüchtiges Stück Pferdefleisch im Stall. Ich muß sofort nach London! kann sein, daß ich heute nacht hierher zurück muß, kann sein auch nicht. Glauben Sie, daß das kleine Pferdchen dies zu leisten vermag?«

»Es kostet Sie einen Sovereign,« lautete die Antwort.

»Gut,« erwiderte Prickett, »das heiß' ich kurz und bündig. Lassen Sie so schnell als möglich anspannen, denn ich habe keine Minute zu verlieren.«

Drei Minuten später stand ein leichtes Jagdwägelchen mit einer stößig aussehenden Stute vor der Thür.

»Steigen Sie ein, Herr,« sagte der Rosselenker. »Wo wollen Sie hin?«

»Nach Holborn,« erwiderte Prickett und stieg ein.

Er hatte den gefundenen Gegenstand in seiner Brusttasche geborgen und diese sorgsam zugeknüpft. Während der Fahrt legte er wohl hundertmal die Hand darauf, um sich von seinem Vorhandensein zu überzeugen, und einmal zog er ihn sogar heraus, um ihn im Mondenschein von neuem zu untersuchen.

Auf unerklärte Weise war das Gerücht von dem Einbruch ins Dorf gedrungen und Herrn Pricketts Beruf bekannt geworden.

»Haben Sie etwas gefunden, Herr?« fragte der Kutscher ihn von der Seite betrachtend.

»Ja, mein Sohn,« erwiderte Prickett trocken, den Gegenstand wieder einschiebend, »ich habe gefunden, daß es nichts Dümmeres gibt, als über Dinge zu reden, deren man selbst nicht sicher ist.«

Schweigend fuhren sie auf der breiten, weißen Landstraße dahin, bis ein gelber Schein am Horizont die Lichter Londons verkündete, und als sie die Stadt thatsächlich erreicht hatten, schlug hie und da eine Uhr halb zwölf. Der Jagdwagen rasselte weiter bis Holborn, wo Prickett an einem gewissen Punkt seine Hand auf den Arm seines Führers legte.

»Halten Sie am ersten Hof rechts. Hier ist eine halbe Krone für Sie, aber verwenden Sie das Geld vorsichtig, denn Sie müssen allein zurückfahren – ich brauche Sie nicht mehr.«

Er stieg aus, ging über den Hof und trat in das Schenkstübchen eines altmodischen Wirtshauses, Er winkte dem Wirt mit den Augen und dieser kam sogleich herbei.

»Ist Herr Gale hier? Werkzeugfabrikant. Sie wissen.«

»Ja, er trinkt drinnen ein Glas Bier. Es wäre mir ebensolieb, wenn er es wo anders tränke, aber er ist seit zwanzig Jahren an dies Haus gewöhnt, und ich möchte ihm nicht gern die Thüre weisen.«

»Sagen Sie ihm, es möchte ihn jemand sprechen,« sagte Prickett.

Der Wirt schüttelte den Kopf, als ob ihm Böses ahne, und richtete seinen Auftrag aus, worauf Herr Gale sofort erschien. Als er Pricketts ansichtig wurde, verriet er weder Schrecken noch Ueberraschung, sondern kam mit ausgestreckter Hand auf ihn zu und fragte, ob er nicht etwas trinken wolle. Prickett bestellte sich etwas Limonade mit Cognac und nahm dies bescheidene Getränke stehend zu sich.

»Reuben,« sagte er, sein Glas gegen das Licht haltend und seinen Inhalt so aufmerksam betrachtend, als wäre es irgend ein seltener, kostbarer Wein, »wenn Sie fünf Minuten Zeit für mich hätten, möchte ich gern eine kleine Geschäftsangelegenheit mit Ihnen besprechen.«

»Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung, Herr Prickett,« antwortete Gale höflich, worauf der Detectiv sein Glas austrank, ihn scharf betrachtete und auf die Thüre zuging.

»Wenn Sie allein mit mir sprechen wollen, so können wir ja in meinen Laden gehen,« schlug Gale vor.

Als sie auf den Hof kamen, faßte der Detectiv den biedern Geschäftsmann in der freundlichsten, vertraulichsten Weise unter den Arm; Gale sah ihn fragend aber ruhig an und sagte nichts.

Am Laden angelangt, schloß Gale auf und trat ein.

Er zündete das Gas an und stellte sich dann hinter seinen Ladentisch.

Prickett schloß die Thüre hinter sich, zog seinen Fund aus der Tasche und hielt ihn leicht mit beiden Händen in die Höhe.

»Haben Sie dies schon früher gesehen, Reuben?« fragte er in liebenswürdigem Plauderton.

Mit leiser Ueberraschung streckte Gale seine schwielige Hand aus und untersuchte den Gegenstand, nachdem er ihn erhalten hatte, auf das genaueste.

»Es kann sein, Herr Prickett,« erwiderte er, »es kann aber auch nicht sein.«

Seine Züge verrieten einen Anflug von Zweifel und Ueberraschung.

»Kurz und gut,« sagte Prickett, »dies ist Ihre Arbeit, Reuben.«

»Kann sein, sie ist's,« entgegnete Gale, »ich möchte es nicht auf meinen Eid nehmen, daß sie es nicht ist. Es sieht aus, als ob es auf besondere Bestellung angefertigt worden wäre. Was ist damit, Herr Prickett?«

»Das ist die eine Hälfte des Werkzeugs,« sagte Prickett, sanft mit dem Fingernagel darauf klopfend, »mit dem heute nachmittag der Einbruch in Wootton Hill House ausgeführt wurde.«

Er beobachtete seinen Mann wie die Katze die Maus, aber Gale sah ihn mit einem Gesicht voll unschuldiger Ueberraschung an.

»Ich habe nichts davon gehört: es kommt nicht in den Abendblättern.«

»O, selbstverständlich haben Sie nichts davon gehört,« gab Prickett mit freundlichem Spott zurück, »deshalb bin ich gekommen, um es Ihnen zu erzählen, denn ich wußte, daß Sie ein gewisses Interesse daran nehmen würden, Reuben.«

»Nun, natürlich,« bestätigte Gale. »Also nachmittags, sagten Sie? Eine ungewöhnliche Zeit, nicht? Handelt es sich um eine bedeutende Sache?«

»Es sind Juwelen, Reuben, und zwar im Wert von dreißig- bis vierzigtausend Pfund.«

»Alle Wetter!« rief Gale mit sichtbarem Interesse. »Das ist der Mühe wert! Wo war's denn?«

»In Hill House, Wootton Hill, dem Wohnsitz von Frau Wyncott.«

Wieder fiel Gales Blick auf das auf dem Ladentisch liegende Werkzeug. Er nahm es in die Hand und betrachtete es noch einmal.

»Wyncott?« sagte er nachdenklich. Prickett glaubte ein leichtes Beben in seiner einschmeichelnden Stimme wahrzunehmen.

»Wyncott? Wo habe ich doch diesen Namen schon gehört?«

»Es ist eine kleine Möglichkeit vorhanden, Reuben,« sagte Prickett scherzend, »daß ein junger Herr, der Sie vorige Woche vor etwa zehn Jährchen rettete, Sie vor dem nächsten Schwurgericht ins Zuchthaus bringt.«

»O ja,« sagte Gale schleppend, »ich entsinne mich – Herr Wyncott Esden. Ist er vielleicht mit der Dame verwandt?«

»Er ist ihr Neffe, und ich erfreue mich in diesem Fall seiner Unterstützung. Er ist mit der Verfolgung der Sache beauftragt.«

»Nun, ich wünsche Ihnen beiden guten Erfolg,« entgegnete Gale, während er das Werkzeug in seltsam entschiedener Weise auf den Ladentisch niederlegte. »Was dies Stück Eisen da betrifft, so kann ich nichts darüber sagen, wenigstens nichts Besonderes. Ich möchte nicht beschwören, es sei nicht von mir, und kann ebensowenig behaupten, es sei von mir.«

»Schon gut,« sagte Prickett. »Sie gehen gutwillig mit mir, nicht wahr?«

»Natürlich gehe ich mit, wenn ich muß,« erwiderte Gale mit erfreulicher Fügsamkeit. »Es liegt aber keine Notwendigkeit dazu vor, wie Sie wissen, Herr Prickett.«

»Das wollen wir dahingestellt sein lassen,« entgegnete Prickett.

»Ich kann über die Verwendung meiner Zeit am heutigen Tag auf die Minute hin Rechenschaft geben;« erklärte Gale, »und ich weiß von dieser Sache so wenig als ein neugeborenes Kind. Lassen Sie sehen – um welche Zeit war es?«

»Kurz vor fünf Uhr, Reuben.«

»Dann bin ich sicher gerettet und gehe, wohin Sie wollen. Von dreiviertel auf fünf bis halb sechs stand ich mit Richards, dem Zollwächter, und Herrn George, dem Wirt von ›Becher und Krone‹ im Schenkstübchen dieses Wirtshauses, wo wir Ingwerbier tranken und das neue irische Gesetz besprachen, das den Patriotismus unterdrücken soll.«

»Wenn dies der Fall ist, Reuben,« erwiderte Prickett, während er das Werkzeug nahm und seinen Rock darüber zuknöpfte, »so sind Sie morgen früh um neun Uhr wieder ein freier Mann. Unterdessen wollen wir es Ihnen so behaglich als möglich machen. Sie haben doch keine Familie? Das ist recht, dann macht sich niemand Sorge um Sie. Männer, die ein abenteuerliches Leben führen, sollten grundsätzlich ledig bleiben aus Rücksicht für die Damen. Ihre häufige Abwesenheit hätte jedenfalls die Eifersucht einer Frau erregt.«

Herr Gale verbrachte eine leidlich angenehme Nacht auf der Polizeistation des Bezirkes und wurde am andern Morgen um neun Uhr von Prickett mit der Nachricht geweckt, daß sein Alibi befriedigend nachgewiesen und er somit frei sei.

»Aber wissen Sie, Reuben, es ist eitel Humbug, wenn Sie behaupten, dies Werkzeug nicht zu kennen,« sagte Prickett. »Es war gestern abend von einer Belohnung die Rede – man nannte sogar eine Summe von tausend Pfund – und jede Mitteilung, die Sie mir machen, wird gut bezahlt werden. Ueberlegen Sie sich's, Reuben.«

»Ich will mir's überlegen,« antwortete Gale mit seiner gewohnten Ruhe. Um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muß man sagen, daß er auch thatsächlich den ganzen Tag nichts andres that. Sein Ueberlegen hatte zur Folge, daß er nachmittags seinen Laden schloß und sich aufmachte, um auf eigne Faust Nachforschungen anzustellen.


 << zurück weiter >>