David Christie Murray
Ein gefährliches Werkzeug
David Christie Murray

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Fünftes Kapitel.

In der Regel stand Esden für das Land sehr spät auf, allein am andern Morgen sprang er aus dem Bett, sobald man ihm sein Bad und sein Rasierwasser gebracht hatte, denn am Abend vorher war eine photographische Exkursion verabredet worden, da Fräulein Pharr ihr neues Spielzeug kennen lernen wollte. Esden beabsichtigte, sich dabei nützlich zu machen, und war entschlossen, das tiefste Interesse für Photographie an den Tag zu legen.

Der zu seiner Aufwartung bestimmte Diener hatte seine Reisetasche ausgepackt und seine Sachen pünktlichst aufgeräumt, nur den Toilettekasten hatte er nicht geöffnet, weil er verschlossen war. Aergerlich über den Aufenthalt, suchte Esden den Schlüssel, fand ihn und öffnete den Kasten, und das erste, was ihm in die Augen fiel, waren die beiden auseinandergeschraubten Teile von Reuben Gales sonderbarem Geschenk.

»Was zum Kuckuck dachte die alte Närrin denn, daß ich damit machen würde?« fragte er halblaut. »Was in aller Welt denkt sie denn, daß dies sei?«

Nun entsann er sich, daß er es auf seinem Kissen gefunden, als er in der Nacht nach dem Versuch mit der Thür zu Bett gegangen; er hatte das Werkzeug auseinandergeschraubt und in eine Lade seiner Kommode geworfen, wo seine Aufwartefrau es offenbar gefunden hatte.

»Vermutlich hat sie gedacht, ich könne es gut brauchen,« sagte er lachend, während er sich das Kinn einseifte, »und das könnte ich auch, da ja Fräulein Pharrs Juwelen im Hause sind. Das gibt einen guten Spaß. Ich nehme es mit hinunter und erzähle die Geschichte.« Allein ehe er seinen Anzug ganz vollendet hatte, ertönte die Frühstücksglocke, und da er noch nicht ganz fertig war, kam ihm diese Absicht für den Augenblick aus dem Sinn; eilig schloß er seinen Toilettekasten zu, und erst als er sich am Fuß der Treppe befand, erinnerte er sich wieder daran.

»Einerlei,« sagte er zu sich selbst; »nach Tisch hat man besser Zeit zu einer Geschichte,« und so trat er in das Frühstückszimmer und begrüßte seine Wirtin und ihre übrigen Gäste so heiter, als er sie vor zehn Stunden verlassen hatte.

»Ein Brief für dich, Wyncott,« sagte die alte Dame. Esden nahm ihn aus ihrer Hand in Empfang und erkannte J. P.'s Handschrift. Mit dem Stil seines Eierlöffelchens öffnete er den Umschlag und riß den Brief heraus. J. P. teilte ihm mit, er habe Nachrichten erhalten, die ihn sehr beunruhigten; um darüber mit ihm zu reden, habe er in seiner Wohnung vorgesprochen und von der Aufwärterin seine Adresse erhalten. War die Sache mit dem Wechsel wirklich in Ordnung? J. P. mußte es wissen, denn für ihn war es eine Lebensfrage und die Mitteilungen, die er erhalten hatte, ließen ihm die Sache zweifelhaft erscheinen. Wollte Esden so freundlich sein, ihm zu telegraphieren?

Nur mit Mühe gelang es dem jungen Advokaten, seinen Verdruß zu verbergen. Nicht um alles Geld der Welt, versicherte er sich selbst, möchte er den unseligen J. P. in dieser Patsche lassen. Ganz abgesehen davon, daß es geradezu erbärmlich wäre, ein so hilfloses Menschenkind zu schädigen, war es auch gefährlich, einen Menschen von J. P.'s Temperament zu verletzen, denn er würde der ganzen Welt sein Leid klagen und die Sache an die große Glocke hängen. Wäre die andre Gesellschaft nicht so sehr in ihre Unterhaltung vertieft gewesen, so hätte Esdens plötzliche Niedergeschlagenheit und die gemachte Heiterkeit, mit der er sie zu bemänteln versuchte, nicht unbemerkt bleiben können. Zum Teufel mit J. P.! Was brauchte er denn jetzt zu heulen – jetzt schon! Er konnte ja heulen, wenn die Zeit gekommen war. Esden war wütend darüber, daß J. P. seiner wiederholten Versicherung keinen Glauben schenkte.

Kaum war das Frühstück vorüber, so wurde Kriegsrat gehalten, und nachdem jedem etwas zu tragen aufgehalst worden war, machte sich die Gesellschaft mit Fräulein Pharrs funkelnagelneuem Apparat auf die Suche nach landschaftlichen Schönheiten in Wootton Wood. Das Gabelfrühstück sollte an einem zuvor bestimmten Punkte eingenommen werden, und die drei Photographen wollten sich bis dahin die Gelegenheit möglichst zu nutze machen.

Sie waren eben an ihrem Bestimmungsort angelangt und emsig mit Aufnehmen oder Zuschauen beschäftigt, als der Gärtnerjunge vom Hause atemlos erschien und Esden ein Telegramm überbrachte. Auch dies kam von J. P., und Esden, der etwas beiseite getreten war, um es zu lesen, brach in Verwünschungen gegen den Absender aus, bis er des sonngebräunten Jungen neben sich ansichtig wurde, der ihn mit offenem Mund und Augen anglotzte. Am liebsten hätte er dem Jungen geschwind den Hals umgedreht, allein der Humor gewann bei ihm rasch die Oberhand und er fing an zu lachen. »Um Gotteswillen telegraphiere,« lautete J. P.'s Botschaft, und Esden riß ein Blatt Papier aus seinem Taschenbuch und kritzelte eine Antwort darauf. »Alles in Ordnung. Sei doch kein so alter Esel.« Dies übergab er dem Jungen mit einer halben Krone und hieß ihn sich schleunigst damit nach dem Postamt verfügen.

»Muß ich zurückbringen, was ich herausbekomme?« fragte der Junge.

»Nein,« erwiderte Esden, »du kannst es behalten.«

Der Junge strahlte vor Glück und entfernte sich. Sobald er sich unbeachtet wähnte, wirbelte er seinen Hut in die Luft und begann in seinen reichlich großen Stiefeln einen Freudentanz aufzuführen. Fräulein Pharr sowohl als Esden beobachteten ihn und brachen in fröhliches Gelächter aus.

»Sie haben heute doch schon ein Herz erfreut, Herr Esden,« sagte sie scherzend.

Dies gab Esden sein Gleichgewicht wenigstens zur Hälfte zurück; allein J. P. wollte sich nicht abschütteln lassen. Es gab Augenblicke, in denen er leibhaftig gegenwärtig erschien mit seiner halbmondförmigen Nase und seinem halboffenen kläglichen Mund, so daß er Esden förmlich verhaßt wurde und er ihn gerne geprügelt hätte, falls dies von irgend welchem Einfluß auf die Sache selbst gewesen wäre.

Bei all diesen Nebengedanken mußte er doch überaus lebendigen Anteil an Fräulein Pharrs Operationen nehmen, die von dem Arzt und Fräulein Wyncott mit allerlei Ratschlägen unterstützt wurden. Der Platz war aber auch ein kleines Paradies an landschaftlicher Schönheit, und fast bei jedem Schritt entfaltete sich ein neues Bild. Selbst als die Aufnahmen durch die Ankunft des Gabelfrühstückes unterbrochen wurden, war Fräulein Pharrs dilettantischer Kunstheißhunger noch lange nicht gestillt.

Das Tischtuch wurde auf einem kleinen Rasen am Ende des Waldes ausgebreitet und von diesem Punkt aus hatte man die Aussicht auf das Haus und den Pfad, der sich durch die Felder nach ihm hinschlängelte. Sie hatten ihr Mahl noch nicht halb beendet, als Esden mit einem ungeduldigen Ausruf aufsprang, denn J. P.'s hinfällige Gestalt war in Begleitung des Gärtnerjungen auf dem Fußpfad aufgetaucht.

»Was gibt's, Wyncott?« fragte der Arzt.

»Der langweiligste, unausstehlichste Mensch in ganz Europa,« lautete die Antwort; »er ist ein Klient von mir, dazu auch noch ein näherer Bekannter. Darauf fußt er und kommt, um seine Sache mit mir zu besprechen. Ich werde ihn aber schön abfertigen!«

Mit diesen Worten schritt er dem unwillkommenen Besucher entgegen, der ihm schon von weitem mit dem Stock winkte.

»Nun, lieber Junge, was willst du denn hier?« fragte Esden ungeduldig.

»Nun, siehst du,« stammelte der Gast hinter seiner Nase hervor, »du hättest telegraphieren sollen, Esden.«

»Zum Henker, ich habe telegraphiert!«

J. P. starrte ihn mit großen, runden Augen und etwas geöffnetem Mund an, als ob er im Begriff stünde, zu blöken.

»Ich habe kein Telegramm erhalten,« sagte er ängstlich, »wohin hast du es geschickt?«

»In meine Kanzlei und zwar sofort nach Empfang des deinigen!«

»O,« erwiderte J. P., »das erklärt alles! Ich bin heute morgen nicht dort gewesen, sondern habe zu Hause auf Antwort gewartet. Und was hast du telegraphiert?«

»Ich habe telegraphiert: ›Alles in Ordnung. Sei doch kein so alter Esel!'« Damit legte er beide Hände auf J. P.'s Schultern und schüttelte ihn freundschaftlich. »Mach, daß du heim kommst, alter Knabe,« sagte er mit seinem freundlichsten Lächeln, »und sei ohne Sorge.«

»Nun,« entgegnete J. P. in zweifelndem Ton, »wenn du das sagen kannst, so nimmst du mir eine Last vom Herzen, denn ich habe gestern in der City gehört, du setzest Himmel und Erde in Bewegung, um hundertundfünfzig Pfund aufzutreiben, und dies machte mich ängstlich. Denn siehst du, Esden,« stammelte er in entschuldigendem Ton, »es wäre schrecklich, wenn ich den Wechsel decken müßte. Sechs Mädchen, wie du weißt, und alle gesund und mit einem unglaublichen Appetit gesegnet. Dazu kommt, daß Frau P. –« wie es schien, mußte sich auch die arme Dame mit einem verkürzten Nachnamen begnügen – »sehr leidend und schwach ist. Wir haben noch ein weiteres Dienstmädchen für die Kinder nehmen müssen und die Doktorsrechnungen sind entsetzlich.«

»Ich weiß, alter Junge, ich weiß,« erwiderte Esden, eine Hand auf seine Schulter legend, während sein Herz voll Mitleid und Reue war. »Du sollst nicht darunter leiden müssen, J. P. Das müßte schon ein hartherziger Teufel sein, der dich schädigen wollte.«

»Also, ich kann mich auf dich verlassen?« sagte J. P.

»Du kannst dich ganz auf mich verlassen,« antwortete Esden.

Er begleitete J. P. nach der Bahnstation zurück und mußte auf dem ganzen Weg leichtherzig und vergnügt erscheinen. J. P. fuhr getröstet ab und Esden ging bitter unglücklich zurück. Er hatte eigentlich nur ein wahres Wort gesprochen: es wäre wirklich gemein, ein so harmloses Geschöpf zu schädigen. Allein wie er dies verhindern und der Schande, die auf ihn zu fallen drohte, entgehen sollte – das vermochte er nicht zu ergründen.


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