David Christie Murray
Ein gefährliches Werkzeug
David Christie Murray

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Siebzehntes Kapitel.

Als Prickett in der Dämmerung des Sommerabends in Wootton Hill House eintrat, fand er Elphinstone und Arnold allein in dem Zimmer des Arztes und hoffte, von den Damen unbemerkt dorthin gelangt zu sein. Allein kaum fünf oder sechs Minuten, nachdem er gekommen war, erfuhr es Janet, und neugierig zu hören, ob irgend eine neue Verwicklung eingetreten sei, eilte sie hinauf. Sie war der Ansicht, daß sie ein Recht darauf habe, alles zu wissen, denn die Juwelen gehörten ihr, und da sie, und sie allein den Musikanten bezahlte, durfte sie auch wohl dem Tanz zusehen.

Als sie vor dem Zimmer stand, hatte sie ein Gefühl, als ob sie jemand zurückhielte, – eine jener Ahnungen, die oft selbst den aufgeklärtesten Geist abergläubisch machen können. Wie, dachte sie, wenn nun Arnold und Elphinstone, deren verstörtes Wesen ihr schon bei Tisch aufgefallen war, ihr etwas Entsetzliches verbargen, das sie viel besser gar nicht zu wissen begehrte. Beinahe wäre sie wieder umgekehrt, da vernahm sie aber aus dem Zimmer ein undeutliches Murmeln, in dem sie Pricketts Stimme erkannte.

»Gestanden?« ertönte nun Arnolds Stimme. »Oh, Wyncott! Wyncott!«

Ohne weitere Ueberlegung riß sie nun die Thür auf und stand vor den dreien, die sie überrascht anblickten.

»Geliebtes Herz,« rief Arnold ihr entgegeneilend, »du darfst nicht hier bleiben!«

Erst lange nachher erinnerten sie sich beide der zärtlichen Worte, die er gerade jetzt unbewußt an sie richtete; für den Augenblick hatten sie andres zu denken.

Sie schloß die Thür hinter sich und lehnte sich daran an.

»Ich wollte nicht –« stammelte sie. »Ich wußte nicht –«

»Bitte, bitte, lassen Sie uns allein!« bat Arnold.

»Offenbar hat diese sonderbare Erregung eine Ursache,« erwiderte sie, mühsam Atem holend und am ganzen Körper zitternd. »Wenn ich ein Recht habe, es zu erfahren, so sagen Sie es mir. Habe ich dies Recht nicht, so will ich gehen.«

Sprachlos war Elphinstone in seinen Armsessel gesunken, Arnold war ganz außer sich und nur Prickett verlor seine Ruhe nicht.

»Sie werden es mir sagen, Herr Prickett,« wandte sie sich an diesen. »Wenn es etwas ist, was sich auf den Raub bezieht, so habe ich ein Recht, es zu wissen, und Sie müssen es mir sagen.«

Prickett führte sie zuerst zu einem Sitz; dann sagte er: »Diese Herren wollten Ihnen einen Schmerz ersparen.«

»Ich zweifle nicht, daß sie es gut gemeint haben,« antwortete sie atemlos und blickte mit blassem, entschlossenem Gesicht um sich. »Setzen Sie sich, Herr Arnold. Und nun erzählen Sie uns, bitte, alles, Herr Prickett!«

Arnold barg seine Stirn in den Händen und der Doktor saß da wie ein Mann, der eine schwere Erschütterung gehabt hat, aber nun entschlossen ist, allem ins Gesicht zu sehen.

Prickett kehrte an seinen alten Platz zurück, legte die Hände auf die schwarze Handtasche und begann die ganze traurige Geschichte zu berichten. Selbst Wyncott, wenn er einen andern in dieser Lage hätte verteidigen müssen, hätte es nicht besser machen können, denn Prickett empfand in Wahrheit all das, was die Advokaten nur zu heucheln pflegen. Scotland Yard hatte sich in den ersten Verteidiger des Angeklagten verwandelt.

»Er ist ganz niedergeschmettert,« schloß Prickett, »und es sollte mich nicht wunder nehmen, wenn er sich selbst ein Leid anthäte. Der Herr, der sich für ihn verbürgt hat, steht sehr schlecht. Sechs Kinder, eine kranke Frau und das denkbar schlechteste Geschäft in der City. Es ist eine sehr traurige, sehr peinliche Angelegenheit, aber sie spielt nur in der Familie und kann in der Stille erledigt werden. Doktor Elphinstone und Herr Arnold Esden waren der Ansicht, daß die Sache zu vertuschen sei. Sie, gnädiges Fräulein, werden wohl der nämlichen Meinung sein?«

Janet weinte, gab sich aber Mühe, ihre Thränen zu unterdrücken, um aufzumerken; ab und zu warf sie einen verstohlenen Blick auf Arnold, dessen beschämte, gebrochene Haltung ihr weh that – ihn schien es am härtesten getroffen zu haben. An Wyncott konnte sie weder mit Zorn noch mit Verachtung denken; sein Fall schmerzte sie, aber mehr für Arnold als für sie selbst. Wie weh mußte es diesem Mann mit seinem feinen Ehrgefühl thun, einen Mann, der ihm wie ein Bruder gewesen war, als Dieb kennen zu lernen.

»Hier, gnädiges Fräulein,« fuhr Prickett, auf die Reisetasche deutend, fort, »hier sind die achthundertundvierzig Pfund, die mir Herr Esden zurückgebracht hat – vielleicht haben die Herren die Güte nachzusehen, ob die Siegel in Ordnung sind.«

Arnold und Elphinstone betrachteten die Tasche und fanden die Siegel in Ordnung.

»Und nun kann ich wohl die Siegel abnehmen, gnädiges Fräulein, und Ihnen Ihr Eigentum ausfolgen!«

Er ließ seinen Worten sofort die That folgen und legte die Säckchen auf den Tisch.

»Herr Doktor!« rief Janet. »Arnold! Helft mir! Sagt mir, was ich thun soll!«

Auf diese Aufforderung traten beide an den Tisch; Arnold streckte eine Hand nach dem Gold aus, zog sie aber schaudernd wieder zurück.

»Es wäre am besten, er ginge fort,« sagte Janet. »Wir könnten seinen Anblick und er den unsern nicht mehr ertragen. Arnold, gehen Sie zu ihm! Sprechen Sie mit ihm! Nehmen Sie dies fürchterliche Geld mit; zwingen Sie ihn, es zu behalten und fortzugehen, und nehmen Sie ihm das Versprechen ab, niemals mehr von sich hören zu lassen!«

»Das ist der beste Ausweg,« stimmte ihr Elphinstone zu. »Sie sind ein gutes Geschöpf, Janet. Wir werden das später untereinander abmachen. Meine Tage sind gezählt, und das, was ich hinterlasse, habe ich Ihnen, Arnold, und diesem übelberatenen Thoren bestimmt. Sie müssen nun die ganze Last allein auf sich nehmen, aber soviel wollen wir jedenfalls für ihn erübrigen.«

Damit deutete er auf die Goldsäckchen auf dem Tisch und begann dann niedergeschlagen im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Sie werden gehen?« wandte sich Janet stehend an Arnold.

»Ja, ich danke Ihnen von Herzen und will gehen. Sind Sie bereit, Herr Prickett?«

Dieser antwortete nur mit einem Nicken, packte das Geld wieder ein, grüßte ehrerbietig und folgte Arnold hinunter.

»Es ist gut gemeint, Herr Esden,« sagte Prickett zu dem Geistlichen, als sie sich etwas vom Haus entfernt hatten, »aber Herr Wyncott Esden wird seinen Stolz herauskehren und es nicht annehmen.«

»Er wird es annehmen müssen,« entgegnete Arnold streng.

Schweigend legten sie den Weg nach der Bahn und die Fahrt nach der Stadt zurück. Dort angelangt fuhren sie nach Wyncotts Wohnung, der ihnen selbst die Thür öffnete und beim Anblick seines Vetters den Kopf senkte. Er wurde bald blaß, bald dunkelrot und sank in einen Armsessel, sobald er wieder ins Zimmer getreten war, was er vor seinen Gästen that.

»Es war unser Wunsch, die Wahrheit, die du gestanden hast, vor Fräulein Pharr geheim zu halten, aber sie hat unser Geheimnis entdeckt. Es wird von uns allen bewahrt werden. Sie sendet dir dies Geld zurück und hofft, du werdest gehen und uns nicht mehr belästigen.«

»Ich werde euch niemals mehr belästigen,« erwiderte Esden, »aber ich nehme dies Geld nicht – ein solcher Schurke bin ich doch noch nicht.«

»Du wirst jede Demütigung und Strafe annehmen, die dir auferlegt wird,« sprach Arnold mit kalter, fürchterlicher Verachtung, »Du wirst dies Geld nehmen und gehen. Höre gefälligst und verstehe recht. Wir, denen du über alles Maß, über jede Möglichkeit einer Vergebung hinaus Schande gemacht hast, sind nicht gesonnen, uns von dir noch weiter entehren zu lassen. Wir wollen die Schande, dich herumlungern zu sehen, die Schande deiner gesellschaftlichen Aechtung oder deiner Dürftigkeit in fernen Landen nicht ertragen. Dies Geld wird dir nicht in rachsüchtigem Sinn geboten – wir wollen uns nur gegen dich schützen, das ist alles!«

»Ihr könnt mich verhaften lassen, wenn ihr wollt; ich habe das selbst thun wollen.«

»Die Schande genügt dir also nicht, die du bereits über uns gebracht hast? Du bist noch nicht zufrieden?« gab Arnold zurück.

»Oh,« erwiderte Wyncott mit grimmigem Haß gegen sich selbst, »ich bin zufrieden, wenn ihr es seid!« Er stand auf und schritt in sein Schlafzimmer. Prickett sah ihm aufmerksam nach. Einen Augenblick blieb alles still, dann rief Wyncott mit vernehmlich zitternder Stimme: »Lebt wohl!« Fast gleichzeitig vernahm man ein Geräusch, wie beim Explodieren eines Zündhütchens – dann noch einmal und noch einmal.

Prickett stürzte in das Schlafzimmer und Arnold folgte ihm; ein heftiges Ringen entstand in dem Halbdunkel, und dann trugen die beiden Wyncott ans Licht zurück. Er blutete aus einer leichten Schramme im Gesicht.

»Das ist Ihr Werk; schrie er wütend, indem er sein verzweifeltes Gesicht Prickett zuwandte.

»Freilich ist das mein Werk,« ich habe das Pulver aus den Patronen nehmen lassen. Nun seien Sie vernünftig und fassen Sie es auf, wie es gemeint ist – es will Ihnen niemand wehthun.«

Wyncott machte einen verzweifelten Versuch, sich loszureißen, aber Prickett packte ihn mit Blitzesschnelle an den Füßen, und wenn ihn Arnold nicht gepackt hätte, wäre er der Länge nach hingestürzt, so aber verrenkte er sich nur den Arm und der heftige Schmerz beruhigte ihn.

»Nun bleiben Sie gefälligst sitzen, Herr Esden,« sagte Prickett, ihn auf das Sofa niederdrückend. »Wahrhaftig, ich schäme mich! So wenig Mut haben Sie? Da habe ich doch eine andre Meinung von Ihnen gehabt! Nehmen Sie denn gar keine Rücksicht auf Ihren eignen guten Namen? Haben Sie kein Mitleid mit Ihren Freunden? Es ist geradezu widerlich. Wenn dieser Herr noch mit Ihnen sprechen will, mag er's – ich habe keine Lust mehr dazu nach diesem unmännlichen Vorgehen.«

Er warf Arnold einen bedeutungsvollen Blick zu und flüsterte ihm im Vorbeigehen ins Ohr: »Ich will nach seinen Rasiermessern sehen – er ist reif für alles!«

Damit ging er in Wyncotts Schlafzimmer, zündete dort das Gas an, suchte das Rasierzeug und steckte es ein; dann ging er ins Wohnzimmer zurück, und als er dort Arnold neben seinem Vetter sitzen und dessen schlaffe rechte Hand in der seinen halten sah, nickte er ihm beifällig und ermutigend zu und zog sich wieder ins Schlafzimmer zurück.

»Nimm nun dies Geld, Wyncott,« sagte Arnold, nachdem sie geraume Zeit schweigend nebeneinander gesessen hatten. »Nimm diese Demütigung auf dich um derer willen, die du gekränkt und in Schande gebracht hast. Geh fort von hier und benütze nach Kräften die Talente, die dir Gott verliehen hat. Versuche die Vergangenheit zu sühnen, und wenn die Zeit kommt, in der du diese Last von deinen Schultern werfen kannst, so wird die Rückzahlung mit Stolz und Freude angenommen werden. Du aber nimm es jetzt als erstes Zeichen deiner wahren Reue. Durch Untersinken kannst du uns nicht für unsern Schmerz entschädigen – thue es dadurch, daß du dich über Wasser hältst.«

Arnold fühlte die Hand, die er hielt, zuckend nach der seinen greifen und Arnold erwiderte diese Bewegung mit einem kräftigen Druck. Einem jüngeren, weniger gebildeten Mann gegenüber würde er noch manches gesprochen haben, wozu ihn sein geistlicher Beruf berechtigt hätte; jedenfalls büßte er aber als Priester nichts ein, weil ihn in diesem Fall sein Zartgefühl davon abhielt.

Nach langem, schweigendem Sinnen fragte er wieder: »Du willst also auswandern und versuchen, neu anzufangen?« Ein Druck der Hand war die einzige Antwort. »Und thun, was wir wollen?« Darauf folgte eine Pause, und er mußte die Frage widerholen, aber endlich kam wieder der bejahende Händedruck. »Du gibst mir dein Ehrenwort auf all dies?«

»Ja,« erwiderte Wyncott mit kaum vernehmlicher Stimme: »ich werde dich nicht wiedersehen. Lebe wohl!«

»Lebe wohl, Wyncott. Gott sei mit dir! Gott helfe dir!«

So schieden sie voneinander. Arnold trat in das Schlafzimmer und flüsterte Prickett zu: »Bleiben Sie noch ein wenig bei ihm.« Der Detectiv nickte. »Sie haben ein gutes Herz, Prickett. Ihre Hand! Gute Nacht.«

Es mag dahingestellt bleiben, ob ein Geistlicher von einem Sünder besser denken sollte, weil dieser einen Selbstmordversuch gemacht hat, aber das steht fest, daß durch Wyncotts verzweifelten Entschluß die Gefühle seines Vetters gegen ihn andre geworden waren. Durch diese That hatte er wenigstens gezeigt, wie tief seine Verzweiflung war, und es ist etwas so Entsetzliches um die Verzweiflung, daß nur wenig Menschen ihr unbewegt ins Auge blicken können.


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