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Auf dem Bahnhof stieß ich gegen einen langen Herrn. Nein, gegen einen spitzen Stock, den er waagrecht unterm Arm trug. »Herr!« rief ich schmerzlich berührt, »wie kann man aber auch seinen Stock so –!«

»– so saudumm tragen, meinst du?« sagte der Herr und streckte mir die Hand entgegen. Da war es ein alter Schulkamerad, der seine Sommerreise machte.

»Nein, jetzt so was«, sagte ich besänftigt, »du mußt verzeihen, aber weißt du, diese Art, den Stock zu tragen, ist wirklich –«

»– saudumm, weiß schon. Aber es ging nicht anders. Ich blätterte gerade im Baedeker – ›Sehenswertes‹, weißt du.«

»Hm, woher kommst du?«

»Über Köln, Ulm –«

»Was hast du in Köln gesehen?«

»Den Dom natürlich –«

»Und in Ulm?«

»Das Münster selbstverständlich.«

»Dann wirst du wohl hier auch das Münster –«

»Das rätst du mir als Hiesiger?«

»Ich – ich hab' dir nichts geraten – aber dein Baedeker wird –«

»Ach, die Reisebücher können mir –«

»Na, na.«

»Ist's vielleicht nicht wahr? Immer Kirchen, immer Museen, immer Denkmäler – Denkmäler mit und ohne Pferd, nein, Denkmäler der Arbeit, der brausenden Arbeit um uns, will ich sehen in der Fremde – ich bin Ingenieur und –«

»Also Ingenieur bist du geworden? Und ich ein Mann der Feder – weißt du was, da gehen wir zusammen zu der Sechzigtausendpferdigen – wird morgen abgeliefert – läuft heute probeweise – wir Leute von der Feder sind eingeladen –«

Da ging er schon an meiner Seite und bestürmte mich mit Fragen, Tourenzahl, Dampfkilogramme, Ausnützungskoeffizient, Kohlenkonsum, Kapazität – ich verstand kein Wort davon und sagte, als er gar nicht nachließ, mit einem Hochblick auf die nächste Kirchenuhr: »Die Kapazität der Dampfkilogramme steht im reziproken Verhältnis zur Geschwindigkeit des Stundenzeigers – wir müssen eilen.«

Dennoch blieb er alle Augenblicke stehen: »Sechzigtausend Pferde in einer einzigen Maschine – weißt du, was das heißt, denk dir mal die Rosse einzeln hintereinander, an einem Stricke ziehend –«

»Das heißt«, übersetzte ich es geographisch, »ein Zugseil von Berlin nach Hamburg, lückenlos besetzt mit Pferdeleibern.«

»Und weißt du«, blieb er wieder stehen, »daß ich noch in meiner Jugend eine tausendpferdige Kolbendampfmaschine angestaunt mit hochgewölbten Augenbrauen –«

»Mal sechzig jetzt – dann müßten also deine Augenbrauen gleich bis an die Decke stoßen«, sagte ich und zog ihn weiter.

Aber er blieb wieder stehen, den einen Fuß erregt gehoben:

»Und weißt du, was deine Sechzigtausendpferdige, elektrisch umgerechnet, an Lampen speisen könnte?«

»Keine Ahnung.«

»Fast zwei Millionen Metallfadenlampen zu je sechzehn Kerzen …«

Auch ich blieb stehen, Lichtfluten brachen über mich herein. »Dreißig Millionen Kerzen«, murmelte ich, »aus einer einzigen Maschine brennend hochgeschleudert …« Die Lichtgarben schossen in den Weltenraum. Einer, der vom Mars sein Fernrohr abwärts richten würde, müßte wähnen, eine riesenhafte Feuersbrunst wüte nächtlich auf der Erde …

Wir sprachen nichts mehr. Die Großgedanken liefen, statt zur Zunge, in die ausgreifenden Beine.

Die Stadt lag hinter uns. Noch weiter hinten alles, was der Reiseführer als sehenswert bezeichnete, mit einem Sternchen oder zwei.

»Wir brauchen neue Reiseführer«, dachte ich »solche, die auf Kraftstationen weisen, auf Schächte und Maschinen, Reiseführer, welche ihre Sterne, die sie zu vergeben haben, hoch auf die Kamine heften und an den Fleiß von hunderttausend Händen. ›Durch dieses Tor‹, hieß es in den alten Führern, ›zog der General X. mit fünfzigtausend‹ … ›Durch dieses Vorstadttor‹, muß es in den neuen Führern heißen, ›zieht täglich ein Fabrikdirektor mit seinen fünfzigtausend Mann auf das Schlachtfeld einer Riesenarbeit.‹« Einen Baedeker der Arbeit brauchen wir, der an den Stadträndern beginnt, wo der andere aufhört. Freilich, nicht auf Kilowatt und Dampfverbrauch dürfte der neue Baedeker getauft sein – er müßte uns die Augen öffnen für die neue Schönheit der Arbeit, für den Sonnenaufgang am Stichloch des Hochofens, für die Mittagsglut des Walzwerks, für die zeitungsrauschenden Gefilde einer Rotationsmaschine, für die Gebirgsketten der getürmten Arbeitsstücke, für den Silbersee des Gußstahls, für die Katakomben unsrer Gruben, die Vesuve unsrer Essen –

Da tat sich ein Fabriktor auf und schluckte uns mit anderen ein – wir standen vor der Sechzigtausendpferdigen.

Etwas unbehilflich stand ich vor der Dampfturbine. War sie klein? War sie groß? Mir fehlte der Maßstab. Ich sah nur, meines Freundes Augen glänzten.

»Eigentlich«, sagte ich unsicher, »hatte ich mir das Ding doch etwas größer –«

»Das ist ja das Wundervolle«, sagte mein Freund, »die Dampfturbine braucht für gleiche Leistung nur ein Fünftel Bodenfläche unsrer alten Kolbenmaschinen.«

»Und dann geht mir das Schwungrad ab, das Gestänge, die Zylinder –«

»Herrlich, nicht wahr, diese auf alles Drum und Dran verzichtende Einfachheit.«

»Ja, aber ich kann nicht sehen, wie aus Dampf Elektrizität wird.«

»Dort, die gleiche Welle der Turbine erzeugt sie durch Dynamos, so geht keine Kraft verloren.«

»Ich bin begierig, wie das sein wird, wenn das Ganze läuft.«

»Das tut es schon.«

»Nicht möglich – ich sehe keine Bewegung, spüre kein Erschüttern –«

»Herrlich, nicht wahr – es ist dasselbe bei den Menschen und Maschinen – die ihre Arbeit mit verhaltener Kraft und ohne Lärm vollbringen, sind die besten – übrigens, wo die Welle aus den Rundgehäusen vorlugt, kannst du die Bewegung sehen.«

Ich blickte auf die Welle. Lautlos rotierte sie. Des Tages Lichter spielten still darüber. Kaum, daß ein leis und lustig zwinkernder Widerschein die Bewegung verriet.

»Tausend Umdrehungen in der Minute«, sagte mein Freund. Leicht lag seine Hand auf einer Schraubenmutter des Gehäuses. Ich tat desgleichen. Ein feines Summen und Erschüttern lief durch meine Fingerspitzen, nichts weiter.

Ich trat zurück. Eine Wolke vor dem Hallenfenster zog über die Sonne. Es ward düster in dem großen Saale. Gespenstisch lagerte es sich um die Maschine.

Wie eine beringte Riesenkatze lag das funkelnde Ding vor uns, unbeweglich, lauernd. Riesenkraft in den gespannten Sehnen. Gleich wird sie sich zum Sprunge ducken – wird springen – durchs Fabrikdach – hinüber über Mauern – hinaus ins Land mit den Eisentatzen auf die Fluren. –

Nein, nein, sie ist ja angeschmiedet, fest an die Erde angesaugt, aus der sie ihre Kohlenkraft bezieht. Gelöst von Mutter Erde wär' sie totes Eisen, mit ihr verbunden läßt sie Riesenkräfte in die Kabel rinnen, beleuchtet Städte, läßt weit im Kreis Maschinenheere surren, treibt Bahnen, läßt Leben aus den dünnen Kupfernerven springen, mit denen sie das Land umzieht.

Nein, keine wilde Katze auf dem Sprunge – ein braver Arbeitsriese, ein unermüdlicher.

»Augenblicklich der Erde größte Dampfmaschine«, ergänzt der Freund mein Denken.

Noch immer standen wir davor. Wir konnten uns nicht trennen. Mit ihr um die Wette wirbelten Gedanken.

Endlich gingen wir. Wie man aus einer Kirche geht. Aus keinem Gottesdienst bin ich andächtiger gekommen.

»Und die Maschine geht –?«

»Ins Herz der deutschen Industrie. Dort wird sie dicht an einem Kohlenschachte ruhen. Ein für allemal. Neben ihr sausen Förderwagen in die Tiefe und bringen ihr das Futter, täglich, stündlich, nächtlich, unaufhörlich.«

»Wieviel?«

»Wenn sie voll läuft, sechzig Doppelwagen Kohle täglich.«

»Das sind?«

»Sechsmalhunderttausend Kilogramm im Tag.«

Ich erschrecke vor den Zahlen. Sie geben mir kein Bild mehr. Sie zerfließen.

»Und was tut sie dort, die Sechzigtausendpferdige?«

»Sie erzeugt Elektrizität – läßt die Wagen in den Schächten elektrisch auf und nieder schnurren – zieht elektrisch die schlagenden Wetter aus den Flözen – treibt elektrisch frische Luft ins Innere der Erde – setzt elektrisch Sümpfungspumpen in Bewegung – speit Ströme Bergwerkswasser aus den Schächten – schiebt elektrisch unter Tage die Wagen – taucht die Nacht der Städte in die Weißglut ihrer Strahlen – spielt im Walzwerk mit den glühenden Blöcken, hebt sie, wendet sie elektrisch, schiebt sie unter Walzen – speist elektrisch Straßenbahnnetze – dreht die gröbste und die feinste der Maschinen – leuchtet dem Leiter des Stahltrustes ebensogut wie dem Volksschulbuben bei dem späten Einmaleins – heizt elektrisch Räume – läßt die Bügeleisen glühen – summt elektrisch in der Teemaschine – und wird nicht eher ruhen, bis sie eines Tages dem letzten Arbeiter die Suppe auf dem elektrischen Ofen kocht …«

Wir standen an der Haltestelle der Straßenbahn. Mit ganz anderen Augen sah ich jetzt die Röllchen an den Drähten laufen.

Der Lärm der Stadt schlug wieder an die Ohren. Es wimmelte in den Straßen. Scheinbar regellos. Aber – wie war mir denn – gingen die Menschen nicht an unsichtbaren Fäden – elektrischen Fäden, die zusammenliefen in den Arbeitshallen vor den Städten –?

Er stand wieder auf dem Trittbrett seines Zuges.

»Es ist etwas Wunderbares um diese geheimnisvolle elektrische Kraft«, sagte er.

»Ja, diese Riesenleistung –«

»Ihre Zwergenleistung ist nicht minder groß. Denk' an die Telephone, Telegraphen, an die zarten Ströme, welche unser Hirn umspielen und umspülen, wenn wir denken –«

»Also könnte auch das Leben ein elektrisches Wunder sein, meinst du?«

»Warum nicht – in jeder Zelle eines schaffenden Menschen summt und glitzert, richtig eingesetzt, eine Sechzigtausendpferdige.«

Mein Schulkamerad reichte mir die Hand: »Ich danke dir, daß du mir ein Stück des Angesichts deiner Stadt gezeigt hast.«

»Und ich dir, daß du, was mir dunkel war, erklärtest.«

»Nicht ich, mein Freund – dreißig Millionen Kerzen haben uns weit hinein ins Dunkle vorgeleuchtet – ins Dunkel unserer Lebensarbeit –«

Der Zug zog an. »Denk' mal nach«, winkte er mir schon im Fahren zu, »ihr Leute von der Feder solltet euch jetzt wirklich an die Arbeit machen – es wird Zeit dazu – und den neuen Baedeker schreiben – du weißt schon, den der Arbeit.«


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