Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Jahrtag

Immer im August schon machte man den Schlachtenplan fürs nächste Jahr.

Der Fabrikbesitzer stand im Zimmer seines alten Prokuristen. »Na, Frommel«, sagte er, »die Losung?« Der Weißkopf wiegte sich.

»Auf eins der Fabrikate wird man sich mit ganzer Kraft versteifen müssen.«

»Nicht übel. Indes, wir haben viele. Da sind Wasserschöpfer, Kaminaufsätze, Einkochapparate, Badewannen, Wärmflaschen, Waschwannen, Ölkannen –«

Der Alte lächelte: »Am besten wär's, die Fabrikate selber träfen die Entscheidung.«

»Auch nicht übel«, lachte der Besitzer, »nur: wie bringt man sie zum Reden?« – »Sie reden immer. Der Fehler liegt an uns. Wir hören schlecht. Am schlechtesten in der Betriebsamkeit des wachen Tages.«

Der Fabrikant schmunzelte: »Sie meinen also, Frommel, daß man schlafen müsse, um die Sprache unserer Fabrikate zu verstehen?« – »Es ist was Wahres dran. Die sogenannten toten Dinge haben ihre eigenen Gesetze. Zum Beispiel auch den Jahrtag.«

Der Fabrikherr schaute besorgt und unsicher: »Jaja, die Hitze, Frommel«, murmelte er. – Der Alte lächelte: »Die Hitze ist es nicht.«

»Dann – dann –«

»Sagen Sie es nur: Sie meinen, der Frommel werde alt.«

»Dann bleibt nur: Sie sind trotz Ihrer haarscharfen Preiskalkulationen ein verkappter Dichter, lieber Frommel.«

»Der ist jeder, wenn die Stunde über ihn kommt.«

»Welche Stunde?«

»Wo die toten Dinge reden. Im Traum. Am Jahrtag. – Verzeihung, ich muß rasch ins Lager.« Draußen war er.

Der Fabrikherr setzte sich. Sinnend stützte er den Arm auf. Hm, der Schreibtisch hatte da gerade eine Dülle. Ja, schon unter seinem Vater hatte hier der treue Frommel seinen Ellenbogen aufgestützt. Im Denken für die Firma. Er war schon recht, der Alte. Wenn er auch mal seine Schrullen hatte. Diesen Jahrtag da zum Beispiel, was war das nun wieder?

Die Sonne brannte. Es war schwül im Arbeitszimmer. Schwer sank der Kopf nach vorn, der Dülle zu …

Was war das? Aus der Dülle wurde ein Tor. Ein dunkles Tor. War das nicht das Tor beim Pförtner?

Jetzt von draußen ans geschlossene Tor ein Schlag. Noch einer. Ein dritter. Warum öffnete der Pförtner nicht? Wo war er denn?

Da – abermals drei Schläge.

»Wer ist draußen?«

»Wir.«

»Wer wir?« – »Kennst du deine Kinder nicht?« »Ich«, stotterte der Fabrikherr, »ich habe keine Kinder.«

Gekicher vor dem Tore: »Hunderttausend hast du doch in jedem Jahre.«

»Ach so, meine Fabrikate, meint ihr?« – »Die meinen wir nicht, die sind wir.« – »Seid ihr? Ganz unmöglich. Die unverkauften sind hier drinnen auf dem Lager. Und die verkauften sind in alle Welt zerstreut. Sie sind fehlerlos. Sie pflegen nicht zurückzukommen.«

»Doch. Einmal. Am Jahrtag. An unserm Jahrtag.«

»Schon wieder dieser Jahrtag. Ich kenne euren Jahrtag nicht.«

Gelächter draußen: »Er kennt unsern Jahrtag nicht! Erklär's ihm, Wanne – künd's ihm, Kanne.«

Ein Dröhnen in der Mondnacht, wie wenn Eisen schlägt an Eisen: »Einen Tag im Jahr haben die im letzten Jahr verkauften Waren frei. Den nützen sie zur Wiederkehr in ihre Heimat. Dort kommen sie zusammen. In der Nacht. Sie begrüßen sich. Sie erzählen –«

»Was denn?« – »Was sie draußen erlebten.« – »Hm, ein Kaffeeklatsch also, sozusagen – ist das alles?« – »Nein, es ist ein Wettbewerb. Wer das beste Erlebnis erzählt, wird gekrönt.« –

»Ei, gekrönt – womit denn, wenn man fragen darf?« – »Mit dem Bauprogramm des neuen Jahres.«

»Merkwürdig, nach diesem bin ich gerade auf der Suche. Kommt herein«, schob der Fabrikherr die mächtigen Riegel zurück, »seid willkommen.«

Da kamen sie herein, in langem Zug, die Fabrikate des vergangenen Jahres. Hübsch geordnet kamen sie in Bataillonen. Freilich nicht mehr alle ungebeugt und blitzblank, wie sie ausgezogen waren. Manches war verbeult vom Leben. Aber ausgehalten hatten sie es alle.

Ernst grüßend hatte der Fabrikherr die rechte Hand an der Schläfe. Wie sie da hereinmarschierten, nahm er die Parade ab. Es wollte nimmer enden, so viele kamen ihrer. Der ganze weite Fabrikhof war angefüllt. Das Tor fiel zu. Stumm lag Erwartung in der Runde.

»Beginnet.«

Eine Badewanne trat vor: »Ich komme vom Hotel. Vom ersten in der Stadt. Eine Menge Leute haben in mir gebadet.« – »Ist das alles?« fragte der Fabrikherr. – »Einmal, als der Gasthof überfüllt war, hat ein Lord in mir geschlafen«, berichtete die Wanne stolz und trat zurück.

»Der nächste«, sagte der Fabrikherr.

Eine zweite Wanne trat vor. »Nein«, schepperte sie vor Lachen, »es war zu drollig mit dem Russen!« – »Erzähle!« – »Er war irgendwo gefangen und bekam ein Bad, ein deutsches Bad. Als er mich erblickte, schrie er gottesjämmerlich, fiel auf die Knie und bat mit aufgehobenen Händen: Nicht ertränken, bitte, nicht ertränken!« – »Ganz nett, der nächste.«

Eine Waschwanne trat vor: »Ich stand im Garten. Es war großer Waschtag. Die Mutter hatte kochend Wasser in mich eingegossen. Sie wurde abgerufen. Übern Rasen krabbelte ein kleines Kind zu mir. Es kletterte spielend an mir hoch. Über meinen Rand beugte es sich. Ich schauderte. Ich blickte hilfesuchend in den Nachbarsgarten. Dort war ein Marder in den Hühnerstall geschlichen. Der Nachbar auf der andern Gartenseite hatte es gesehen. Das Gewehr riß er vom Nagel, zielte – zielte schlecht – whsst – wie habe ich die Kugel unterwegs gebeten: »Komm, o komm!«

»Kam sie?« – »Ja, sie war barmherzig. Sie schlug ein Loch in mich. Ich lief aus. Der Rasen trank das siedende Wasser.«

Der Fabrikhof atmete auf.

»Und die Mutter?« fragte der Fabrikherr.

»Kam zurück und – jammerte drei Tage über das Loch in der Wanne.«

Der Fabrikherr nickte: »Brav gemacht – der nächste!«

Ein Einkochapparat trat vor: »Ich bin besungen worden.«

Der Fabrikhof lächelte: »Du? Unsereins wird nicht besungen. Die Dichter halten uns für zu prosaisch.«

»Ja, ich weiß. Wir müssen sie ihnen vorsingen, unsere Poesie. Dann singen sie schon nach.«

»Erzähle!«

»Mein Herr war ein Dichter. Er besang den Sommer und war glücklich. Ein Schmerz quälte ihn. Daß es vier der Jahreszeiten gab. Über alles liebte er die Früchte. »Ach«, seufzte er, »daß es Obst und Kirschen übers ganze Jahr hin gäbe – wenn einer doch den Sommer ewig machen könnte!« – »Kann ich«, sagte ich. – »Du?« lachte er, wie eben ihr, »wieso denn?« – »Indem ich aller Früchte Süße, Lieblichkeit und Frische ewig mache.« – »Das wenn du mir zuliebe tätest«, rief der Dichter, »du dürftest irgendeinen Dank von mir verlangen.« – »Besinge mich.«

Der Einkochapparat schwieg.

»Und dann, wie ging es dann?« – »Wie ich es sagte. Ich wurde eingefüllt und angeheizt. Dann sang ich. Darauf besang er mich.«

»Das hast du gut gemacht, der nächste!«

Eine Wärmflasche schaukelte nach vorne: »Ich bin nicht poetisch. Aber ein Herz habe ich doch.«

»Erzähle!«

»Mein Herr war ein alter Starrkopf. Er war mit seinem Sohne zerfallen. Im Zorne waren sie geschieden. In seiner Sterbestunde aber wurde er weich: »Mein Sohn, mein Sohn!«

Man depeschierte. Auf dem gleichen Wege kam die Antwort, daß er am Morgen eintreffe. Aber der Arzt hatte sorgenvoll den alten starren Körper angesehen, an dem die Todeskälte schon heraufkroch. »Er wird die Nacht kaum mehr überleben«, sagte er auf der Treppe, »immerhin, versuchen Sie's.« – »Womit?« – »Mit dem, woran es ihm ein ganzes Leben lang gefehlt, mit Wärme.« – »Und du?« – »Ich? Ich rettete ihn in den Morgen und in die Arme seines Sohnes.« – »Ich bin mit dir zufrieden«, sagte der Fabrikherr, »der nächste!«

Eine Badewanne trat vor und räusperte sich.

Im Fabrikhof raunte es: »Gleich wird der Mond verschwinden. Wir müssen es mit ihm. Wir müssen zurück an unsere Arbeitsstelle. Die Jahrnacht ist zu Ende. Faß dich kurz!«

»Kurz?« sagte die Badewanne, »gut, es sei. Ich wurde in die Neue Welt geschickt. Nach Amerika. Was ich ihnen bringe, hat man mich gefragt. ›Respekt vor deutschen Fabrikaten‹, habe ich gesagt, ›was aber gebt ihr mir für drüben?‹ – ›Einen Paragraphen unseres Baugesetzes: Jede neuerbaute Wohnung, auch die ärmste, muß ein Badezimmer haben.‹«

Die Wanne schwieg.

»Ist das alles?« höhnte der sinkende Vollmond.

»Meiner Treu, es ist das beste Erlebnis dieses Jahrtags!« rief der Fabrikherr und schlug mit der Faust auf – die Dülle im Schreibtisch.

Der Prokurist stand vor ihm.

»Ich glaub' wahrhaftig, Frommel«, sagte der Fabrikherr, »ich war ein wenig eingenickt bei dieser Hitze. Sagten Sie nicht vorhin, daß man sich in diesem Jahr mit ganzer Kraft auf eine Losung konzentrieren müsse?«

»Ja.«

»Und daß die Fabrikate selbst entscheiden müßten?«

»Allerdings. Nur daß es schwer ist, sie zum Reden –«

»Sie haben geredet.«

»Was?«

»Badewannen – Badewannen – Badewannen.«


 << zurück weiter >>