Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Als Kribsch die Sonne sah

Das Grubenpferd war in der Grube geboren.

»Das sind die besten Pferde«, sagte der Inspektor. »Wenn sie in der Grube geboren sind, so kriegen sie wenigstens keinen Sonnenrappel.«

»Was ist das, Sonnenrappel?« sagte der Grubenbuchhalter.

»'raus wollen sie wieder, 'raus um jeden Preis.«

»Wer?«

»Die Pferde, die wir hineingeschafft haben in die Grube. Wenn wir sie hinunterbringen, sind sie ganz manierlich. Hübsch folgsam gehen sie aus dem hellen Tag in den dunklen Förderkorb hinein. Wahrscheinlich denken sie, 's ist 'n Stall, ein kleiner, oder so was ähnliches. Nur, wenn der Förderkorb hinunterschnurrt, die sechshundert Meter, wissen Sie, da zittern sie ein wenig.«

»Warum?«

»Weiß selbst nicht. Bin schon öfter neben einem solchen Pferde im Förderkorb gestanden, wenn wir's 'runterbrachten. Auf einmal, so bei der ersten Sohle ungefähr, da fängt's zu bibbern an. Unheimlich leuchten seine Augen, sag' ich Ihnen. Und wenn ich's unten in den Stall gebracht habe, so war's ganz naß.«

»Gewaschen?«

»Ach was, gewaschen! Naß vom Schweiß, mein Lieber, vom Angstschweiß oder so was.«

»Also doch 'n Hasenfuß, was?«

»Hasenfuß, Hasenfuß! Hat sich was mit Hasenfuß! Fahren Sie mal in die Grube auf … auf Lebenszeit, mein Lieber.«

»Aber erlauben Sie mal, Herr Inspektor, das weiß ja doch das Pferd nicht beim Hinunterfahren, daß es nicht mehr 'raufkommt.«

»Hm, woher wollen Sie das wissen, was so 'n Pferd alles denkt?«

»Denkt? Können Pferde denken?«

»Mehr als unsereiner … Wenn Sie mit Pferden umgingen, mein Lieber, würden Sie das wissen.«

»Na, na, Herr Inspektor … denken?«

»Aha, Sie meinen, weil ein Pferd nicht spricht, darum könnt' es auch nicht denken? Nun, ich hab' gefunden, je weniger einer spricht, desto mehr pflegt er zu denken.«

»Herr Inspektor, was wollen Sie damit sagen?«

»Nichts Besonderes. Seien Sie nur ruhig … wir reden ja zu zweien, sehen Sie …«

»Haha, Sie sind doch immer scherzhaft, Herr Inspektor.«

»Nicht immer. Wenn man zum Beispiel so 'n Tier betrachtet, wie es keinen Laut von sich gibt, wenn's Schmerzen hat – ganz im Gegenteil zum Menschen –, wenn man ferner sieht, wie still es stirbt in einer Ecke und keinem andern Tiere lästigfällt mit Sterben … ganz im Gegensatz zum …«

»Aber Herr Inspektor, man könnte meinen, Sie stellen die Menschen tiefer als die Pferde.«

»Können Sie leugnen, daß es Menschen gibt unter der Sonne, die …«

»Sonne, sagten Sie, Herr Inspektor; wir sind ganz abgekommen … Sie wollten mir vorhin erklären, was so ein Sonnen- … Sonnen- … na, wie sagten Sie doch gleich?«

»Ja so, der Sonnenrappel bei den Grubenpferden. Also, sehen Sie, das ist einfach genug. Ist so 'n Pferd zwei, drei Jahre drunten, und man denkt, es hat sich eingewöhnt … auf einmal kriegt's die Sehnsucht nach dem Tageslicht … es stampft, es wiehert, es ist ungebärdig, es will nicht ins Geschirr, es reißt sich los, es läuft zum Schacht und schaut hinauf und schnaubt … 'rauf will es wieder, verstehen Sie, das ist der Sonnenrappel bei den Grubenpferden.«

»Und dann, Herr Inspektor?«

»Na, das geht so einen Tag lang oder zwei, und wenn es dann einsieht, daß es doch nicht 'raufkommt an die Sonne, wird es wieder still und vernünftig …«

»Und wiederholt sich das?«

»Ja, noch einmal oder zweimal, später besonders dann, wenn nach einem scharfen Winter fast über Nacht ein warmer Frühlingstag kommt …«

»Das sollen die Tiere da unten spüren? Sechshundert Meter unter der Erde? Herr Inspektor, Sie wollen mir da irgendeinen Bären …«

»Ich habe Ihnen schon gesagt, ich bin nicht immer scherzhaft. Und dann – was wissen wir von den Kräften, die von der Oberfläche in die Tiefe gehen? Oder können Sie vielleicht erklären, warum im Blute eines ›dummen‹ Grubenpferdes urplötzlich noch nach Jahren die längst versunkene Sonne wieder lebendig wird?«

»Vielleicht ist es gar nicht die Sonne, Herr Inspektor? Vielleicht ist es der Fortpflanzungstrieb?«

»Das kann nicht sein. Auch bei den Pferden, die sich drunten paaren, kommt der Sonnenrappel vor.«

»Die sich drunten paaren? Lassen Sie das zu?«

»Manchmal doch. Wir kriegen dann grubengeborne Pferde.«

»Grubengeborne Pferde? Das sind also solche Pferde, die überhaupt nie die Erde auf der Oberfläche gesehen haben? Die keine Äcker sahen, keine Wiesen und keine … keine …«

»Keine Sonne, ganz richtig.«

»Hm, das ist aber merkwürdig, Herr Inspektor – die niemals eine Sonne gesehen haben? Die also niemals droben waren, auf der Erde und die auch niemals hinaufkommen werden?«

»Doch – hinauf kommen sie schon einmal.«

»Also doch. Was werden sie da für Augen machen, wenn sie die Sonne zum erstenmal sehen, wie?«

»Gar keine. Sie können die Sonne nicht mehr sehen.«

»Also blind …?«

»Nein, Sie verstehen nicht – die Grubenpferde schafft man erst wieder an das Tageslicht, wenn sie in der Grube gestorben sind.«

»Hm – und die grubengebornen Pferde sterben also, ohne die Sonne je gesehen zu haben. Also können diese auch keinen … keinen …«

»Sonnenrappel kriegen, meinen Sie? Nein, die kriegen keinen Sonnenrappel. Wenigstens haben wir keine Mühe mit ihnen. Freilich – was sie wirklich denken …«

»Aber Herr Inspektor, nun fangen Sie schon wieder mit den denkenden Pferden an …«


Als das junge Grubenpferdlein zur Welt kam, taufte es der polnische Pferdejunge »Kribsch«.

»Warum soll es denn gerade ›Kribsch‹ heißen?« fragte ihn ein anderer Pferdejunge.

»Ich weiß es nicht. Mir ist es nur so eingefallen.«

Die Wahrheit war, der Pferdejunge hatte an seine eigene Kindheit denken müssen. Als er damals so ein kleiner blanker Junge war, ein wenig unbeholfen, dünn, für seine Jahre schon hoch aufgeschossen – da war er einmal spielend am Straßenrand gesessen, irgendwo dahinten in Polen, und da war eine Dame vorübergekommen, eine richtige Dame, hatte ihm das Haar gekraut und freundlich »Kribsch« gesagt, nichts weiter als »Kribsch«. Was Kribsch bedeutete, wußte er nicht. Das wußte niemand. Das wußte vielleicht die feine Dame selber nicht. Frauen sagen zu kleinen Kindern oft ein Wort, das nirgends steht und scheinbar keinen Sinn hat.

Und dieses »Kribsch« war dem Pferdejungen jetzt, nach vielen Jahren, wieder eingefallen, als er das junge Grubenpferd so blank geleckt, so dünn und hochstelzig zum ersten Male sah im Grubenstall. Und weil es einmal »Kribsch« getauft war, hieß es bald Kribsch in der ganzen Grube.

Einer nach dem andern von den Bergleuten kam nach verfahrener Schicht in den Stall und schaute sich das grubengeborne Pferdlein an.

»Soso, Kribsch heißt es also«, sagten sie und streichelten es fast zärtlich, »also, Kribsch, laß dir's wohl sein in der Grube!« Und dann fuhren sie wieder auf einen halben Tag ans Sonnenlicht hinauf.

Auch der Inspektor war gekommen und hatte den neuen Grubenbürger freundlich angesehen. Der bekam es jetzt gut. Nicht nur, daß er eine Mutter hatte, die ihn betreute, die man seinetwegen vom Grubendienst entlastete, eine Zeitlang; nicht nur, daß die andern Pferde, wenn sie kamen oder gingen, ihre Köpfe vertraulich an ihm rieben, nein, auch die Menschen hatten ihn lieb, recht lieb.

Eine lange Zeit war keine Rede von der Arbeit für den Kribsch. Er wußte gar nicht, was die Arbeit war. Bis er einmal eine Unachtsamkeit des Pferdejungen benutzte, um aus dem Stalle zu laufen.

Er wußte keinen Weg. Aber da waren ja Lampen an der Decke. Denen ging er nach. Nicht lange, da hörte er ein Dröhnen. Eisen klang auf Eisen. Es rollte und es donnerte. Er hörte Menschen rufen.

Da setzte er sich in einen kleinen Trab. Komisch warf er seine langen Beine. Immer näher kam er jenem Lärmen. Dort, wenn er um die Ecke kam, wo es viel heller von den Lampen an der Decke strahlte, dort mußte eine neue Welt sein für den Kribsch.

Kribsch ging jetzt langsam. Jetzt stand er an der Wendung und schob neugierig seinen Kopf nach vorn. Was sah er?

Wagen sah er rollen. Ganze Züge kamen auf den Schienen aus einem langen, schnurgeraden Gange. Vor jedem Zuge ging ein Pferd. Das zog die Wagen. Und in den Wagen lagen lauter schwarze Steine, kleine und große. Manchmal, wenn das Licht der Deckenlampen auf die Steine fiel, erglänzten die Bruchflächen in einem dunklen Glanze.

Auf dem vordersten der Wagen saß ein Pferdejunge. Er hatte eine kleine Peitsche in der Hand und machte: »Hü! Hühü …« Dann ging der Gaul ein wenig schneller und zog und zog – Kribsch konnte sehen, wie sich die Stränge strafften, die den Gaul mit seinem Zuge verbanden.

Jetzt war der Zug am Förderplatz angekommen. Man spannte den Gaul aus. Wieder unter »Hü!« und »Ho!« Rußige Menschenhände schoben einen Wagen nach dem anderen in dunkle, schmale Kammern. Jetzt waren vier darin, zwei links, zwei rechts. Und nun spitzte Kribsch die Ohren: eine Glocke hatte scharf und schrill angeschlagen, und die zwei Kammern kamen aus der Tiefe. Wieder schob man neue Wagen in die neuen Kammern. Wieder schrillte eine Glocke. Zweimal diesmal.

Dann noch drei kurze Schläge … und auf fuhr die ganze große Last, höher, durch die Decke durch, ins Ungewisse …

Dies alles sah Kribsch, aber er verstand es nicht. Plötzlich tönten neue Glockenschläge. Es donnerte von oben. Ein gleicher Förderkorb kam aus der Höhe heruntergerauscht. Leere Wagen rollten heraus. Männer riefen wieder durcheinander. Der ausgespannte Gaul ward hergeholt. Vor einem Zug von leeren Wagen spannte man ihn an. Pfeifend saß der Pferdejunge auf, schwang seine kurze Peitsche, und zurück ratterte der Zug in den langen Gang, wurde kleiner, kleiner … und jetzt war er den Augen von Kribsch entschwunden.

Kribsch aber selber stand da und zitterte am ganzen Leibe. Was war das alles? Was bedeutete das alles? Wie im Traume kam's ihm vor. Langsam, mit gesenktem Kopf trottete er zurück in seinen Stall. Der Pferdejunge, der die Aufsicht hatte, schlief noch auf einem Bündel Stroh. Unbemerkt stahl sich Kribsch an seinen Platz.

Traurig sah er sich in dem leeren Stalle um. Alle Pferde waren ja draußen in der Welt und zogen Wagen, Wagen mit schwarzen, dunkelglänzenden Steinen aus der Welt heraus …, leere Wagen in die Welt hinein. Und die gefüllten Wagen selber, wo kamen die nur hin? Die flogen direkt in den Himmel, schien es, flogen an einem zitternden Seile in den Himmel. Aber ganz sicher war Kribsch nicht. Er wollte doch die andern Pferde fragen, wenn sie kamen heute abend.

Wenn Kribsch »heute abend« dachte oder »morgen früh«, so hatte das natürlich keinen Menschensinn. Im Abend und im Morgen in der Grube war die Sonne wegzudenken.

Auf einmal rührte sich was neben Kribsch im nächsten Abteil. Das war seine Mutter.

»Wo bist du gewesen?« fragte sie ihn.

Kribsch war verlegen, wie es kleine Kinder sind, wenn sie was ohne die Erlaubnis ihrer Mutter tun.

»Ich?« sagte er. »Ich? Ich war draußen in der … in der Welt.«

Aber da wußte die Mutter schon alles. Wie Mütter immer ja schon alles wissen, was sie ihre Kinder fragen. Und Kribsch beichtete alles. Seinen Kopf hatte er an der Mutter Hals gelegt und noch einmal alles durchgedacht, was er eben gesehen hatte, das Donnern, die Wagen, die schwarzen Steine, den Förderkorb, die rufenden Männer. Und auch was er fragen wollte, hatte er noch dazu gedacht. Und wie das nun bei Pferden ist, die nicht zu reden brauchen wie die Menschen, die nur beieinanderstehen, sich leicht und leise zugeneigt, um sich zu unterhalten im stummen Flusse der Gedanken, so redeten hier Sohn und Mutter ihre stille Pferdesprache.

»Und nun sage, Mutter, was ist das alles, was ich sah?«

»Das ist die Arbeit.«

Kribsch dachte nach.

»Was ist das, Mutter, die Arbeit?«

»Das ist das Leben, wenn man groß ist.«

»Bei den Menschen auch, Mutter?«

»Bei uns, bei den Menschen, in der ganzen Welt.«

»Oh, in der ganzen Welt …? Und sage, Mutter wenn ich größer bin, muß ich da auch die Wagen ziehen?«

»Ja, du mußt auch die Wagen ziehen.«

»Warum, Mutter?«

»Es ist das Gesetz. Die Welt will es.«

Kribsch senkte den Kopf. Er wurde sehr, sehr nachdenklich. Denn er hatte sich die Welt ganz anders gedacht. Er hatte gedacht, das ginge nun immer so weiter. Die Mutter und die andern Pferde würden ihn immer weiter verwöhnen. Und immer wieder würden die Bergleute kommen und ihn streicheln. Und die Pferdejungen würden sagen:

»Kribsch, lieber Kribsch, nun, wie geht es denn?« Und der Herr Inspektor würde immer kommen und ihn freundlich anschauen.

Das würde also alles eines Tages enden? Weil es das Gesetz war und weil es die Welt so wollte? O weh …

Aber wenn es das Gesetz war und wenn es alle Pferde auch so machen mußten …

»Du, Mutter, gilt das Gesetz für alle Pferde?«

»Ja, für alle Pferde. Ich habe zwar in meiner Jugend einmal ein Märchen gehört von Pferden in einem fremden Lande, die nicht in Strängen laufen, die keine Arbeit tun – aber das sind Märchen, weißt du.«

Und Kribsch dachte darüber nach, warum aus Märchen niemals Wirklichkeiten würden. Es brauchen doch alle nur fest zu wollen, dachte er, dann hätten wir die strängelose frohe Zeit doch morgen schon …

Wenn Kribsch »morgen« dachte, so war das nicht dasselbe wie unter der Sonne. Die Zeit hier unten in der Grube, sechshundert Meter unter Tag, war ein Band ohne Ende, ein Band, das ohne Unterlaß über Rollen lief. Und daß der nächste Tag anbrach, daß man »morgen« überhaupt erst denken konnte, das sah man nur am Kommen und am Gehen der Pferde in den Stall. Deren Kommen und Gehen wurde aber von den Menschen festgesetzt. Und diese – das wußte Kribsch jetzt – gehorchten einer großen Glocke, die die Zeit mit schrillen, scharfen Schlägen zerlegte. Wenn die Stalltür offen war und wenn Kribsch die Ohren spitzte, hörte er die Glockenschläge schwach aus weiter Ferne.

Also von dort aus wurde der Gang der Welt geregelt, von dort aus, wo die dunklen Kammern in dem Schachte auf und nieder gehen.

»Du, Mutter«, sagte Kribsch jetzt, »fahren die dunklen Kammern in den Himmel?«

Die Pferdemutter besann sich.

»Ja«, sagte sie, »die dunklen Kammern fahren in den Himmel und kommen aus dem Himmel.«

»Mutter, weißt du, wie es im Himmel ist?«

»Ja, da ist eine große goldne Sonne«, sagte die Pferdemutter, und ihre Augen glänzten. Dann schwieg sie, und es sah aus, als wäre sie für sich in andächtige Gedanken versunken.

»Mutter, was ist das, eine Sonne?«

»Die Sonne ist das Schönste, was es gibt, Kind.«

»Aber wie sieht sie aus, Mutter?«

»Die Sonne sieht so schön aus, daß man sie nicht beschreiben kann.«

»Ist sie schöner als der Hafer, den die Pferde hier am Sonntag kriegen?«

»Viel schöner und viel besser.«

»Und ist sie auch schöner als die goldene Uhr des Herrn Inspektors?«

»Viel schöner.«

»Aber schöner kann sie doch nicht sein als die große runde Lampe bei den dunklen Kammern.«

»Viel schöner, Kind. So schön, daß man sie kaum anschauen kann. Die Augen tun einem weh vor ihrem ungeheuren Leuchten, wenn sie morgens aufflammt.«

»Mutter, kommt die Sonne nie zu uns herunter?«

»Nein, Kind.«

»Warum nicht, Mutter?«

»Was im Himmel ist, das bleibt im Himmel. Und dann hätte auch die Sonne keinen Platz in den dunklen Kammern, wenn sie zu uns kommen wollte.«

»Aber Mutter, wenn die Sonne nicht zu uns kommt, dann kommen wir zu ihr, nicht wahr?«

»Nein, Kind, wir kommen von der Sonne, nicht zu der Sonne.«

»Aber Mutter, ich habe doch die Sonne nie gesehen.«

»Das ist wahr«, sagte die Pferdemutter nachdenklich, »ich habe oft darüber nachgedacht, seitdem du auf der Welt bist. Wir anderen haben alle schon den Himmel hinter uns, wenn wir in die Grube kommen, weil wir im Himmel geboren wurden, weißt du.«

»Oh, ihr seid im Himmel geboren worden, Mutter?«

»Ja, und dann haben wir eine Weile dort gelebt, und dann sind wir in den dunklen Kammern in die Grube herabgekommen. Da sterben wir einmal.«

»Und ich, Mutter, ich?«

»Ich weiß gar nicht recht, wie es mit dir sein wird. Du bist in der Grube geboren worden, und wenn alles gerecht zugeht auf der Welt, so mußt du nachher in den Himmel kommen.«

»Oh, Mutter, ich freue mich, ich freue mich.«

»Aber vorher – das ist sicher – mußt du viele Jahre Wagenzüge ziehen, mit schwarzen, dunkelglänzenden Steinen.«

»Das will ich gern tun, Mutter, wenn ich nachher in den Himmel komme zu der Sonne. Sag, Mutter, was tut man mit den schwarzen Steinen im Himmel?«

»Man macht Feuer damit, wenn das Feuer der Sonne schwächer wird.«

»O Mutter, da komme ich vielleicht zu spät, und die Sonne ist ausgelöscht, wenn ich in den Himmel steige.«

»Nein«, sagte die Pferdemutter und lächelte mütterlich, »du kommst nicht zu spät. Die Sonne ist einmal stärker und einmal schwächer. Aber verlöschen kann sie nie; was denkst du nur?«

»Aber sage, Mutter, was ist noch im Himmel?«

»Menschen sind darin, aber sie sind nicht so rußig wie hier. Viele, viele Menschen sind unter der Sonne.«

»Und dann, Mutter?«

»Dann sind Wiesen unter der Sonne und Blumen unter der Sonne und Äcker unter der Sonne und Wälder unter der Sonne.«

»Was ist das, Mutter, Wiesen, Blumen, Äcker, Wälder?«

»Was das ist, das kann man wieder nicht beschreiben, so schön ist es. Aber du wirst das alles eines Tages sehen, liebes Kind. Nicht wahr, Weißfleck, er wird das alles eines Tages sehen?«

Damit wendete sich die Pferdemutter an ein andres Pferd im Nebenabteil, das hieß Weißfleck und war mit den andern Pferden eben von der Arbeit wieder in den Stall gekommen.

»Ja«, sagte Weißfleck bedächtig und schnaubte freundlich den jungen Kribsch an: »Ja, ich bin das älteste Pferd in der Grube und kann mich noch gut an ein junges Pferd erinnern, das auch hier geboren wurde. Als das nach ein paar Jahren Dienst ein wenig krank wurde, ist es direkt in den Himmel gekommen.«

»Siehst du«, sagte die Mutter und war stolz auf ihren Sohn, der dazu ausersehen war, einmal den umgekehrten Weg aller Pferde zu gehen und zuletzt in den Himmel zu kommen.

»Ja, ja«, sagte Weißfleck noch, »ich wollte, wir hätten's auch so gut einmal und könnten im Himmel sterben, wie einst dein Sohn.«

Und weil die andern Pferde zugehört hatten, wie vom Himmel die Rede war, da wurden sie wieder munter, trotzdem sie vorher so müde waren von der Arbeit, und sie fingen alle an, vom Himmel zu erzählen. Und ein jedes wußte etwas anderes Schönes über den Himmel zu sagen. Und das Erzählen nahm gar kein Ende. Kribsch spitzte aber seine Ohren und prägte sich alle Himmelsgeschichten fest in sein junges Pferdeherz samt einer tiefen, tiefen Sehnsucht nach der Sonne.

»Ich weiß gar nicht, was die Pferde heute abend alle haben«, sagte der polnische Pferdejunge, der die Aufsicht hatte, »sie wollen gar nicht schlafen.«

Und dann ging er zu Kribsch und klopfte ihm freundlich auf den Hals.

»Komm, Kribsch«, sagte er, »komm, leg dich hin und schlafe, morgen gehst du zum erstenmal ins Geschirr und an die Arbeit, da kann man den Schlaf vorher schon brauchen.«

Kribsch aber erschrak ganz und gar nicht, daß er an die Arbeit mußte. Dahinter, dachte er, dahinter kommt der Himmel – der Himmel und die Sonne oh, die Sonne …

Und dann war er eingeschlafen und träumte von der Sonne, und als die andern Pferde den Kribsch schlafen sahen, für den sie alle die Himmelsgeschichten erzählten, da seufzten sie ein wenig, legten sich auch hin und fingen an zu schlafen …

Und der warme, regelmäßige Atem der schlafenden Pferde füllte den Raum da drunten, sechshundert Meter tief in der Erde. Währenddem über der Erde die junge Sonne leuchtend einen jungen Tag anhub. Denn die Pferde in diesem Stalle hatten eben eine Nachtschicht verfahren.


Kribsch ging nach diesem Schlafe fröhlich ins Geschirr der Arbeit. Der Inspektor, der zugegen war, wunderte sich.

»Merkwürdig«, sagte er zu einem Steiger, »merkwürdig, wie willig dieses junge Pferd das Kummet auf sich nimmt. Droben gibt es immer einen wilden Kampf, wenn so ein Füllen zum erstenmal ziehen soll.«

»Vielleicht kommt es daher, weil es in der Grube geboren ist«, sagte der Steiger.

Kribsch aber blickte die beiden Männer mit so ausdrucksvollen Augen an, daß der Inspektor sagte:

»Sehen Sie mal, Steiger, es ist doch manchmal sonderbar mit diesen Tieren … geradeso, als ob sie reden könnten, nicht?«

Der Steiger nickte. Kribsch aber dachte:

»Nun ist der Herr Inspektor so gescheit und weiß doch nicht einmal, daß hinter einem Erdpferd die Grube kommt. Als ob es da ein Wunder wäre, daß sie sich nicht aufs Kummet freuen. Hinter meinem Kummet aber kommt der Himmel, kommt die Sonne …«

»Hü … hüü!« sagte der Pferdejunge und wollte die kurze Peitsche schwingen. Aber es war gar nicht nötig. Kribsch hatte schon tüchtig angezogen an seinem Wagenzug, so schnell, daß der Junge kaum nachkommen konnte.

»Ein feiner Kerl, der Kribsch, was?« lachte der Inspektor, und beide Männer sahen der Wagenreihe wohlgefällig nach, wie sie, Eisen gegen Eisen, donnernd dahinrollte, bis sie das Bergdunkel verschlungen hatte.


Kribsch lernte ein neues Leben kennen. Ein Leben, das an sich nicht besonders fröhlich war, durchaus nicht übermäßig fröhlich, wenn nicht dahinter die Sonne geleuchtet hätte, die Sonne der Verheißung.

Hundemüde war er, als er nach dem ersten Arbeitstag in den Stall zurückkam. Seine Mutter und die andern Pferde hatten ihn besorgt angeschnaubt, wenn er mit seinem Wagenzug an ihnen vorüberkam.

»Nun, Kribsch, wie geht's?«

»Gut, Mutter, gut.«

»Nun, Kribsch, wie schmeckt die Arbeit?«

»Nicht schlecht, Weißfleck, nicht schlecht.«

Und die beiden Kohlenzüge rollten donnernd aneinander vorüber.

Als es dann Arbeitsabend wurde, hatte Kribsch trotz seiner Müdigkeit doch mancherlei zu fragen in dem Stalle. Zuviel Neues hatte er gesehen.

»Mutter, ich bin an einem großen Ding vorbeigekommen. Das machte immer puff, puff, puff, was ist das?«

»Das ist die große Pumpmaschine, die pumpt das Wasser aus der Grube, Tag und Nacht, damit wir nicht ersaufen.«

»Und was tun die Männer, die aus den Nebengängen die gefüllten Wagen aufs Geleise schieben?

»Das sind die Häuer. Die brechen noch tiefer drinnen in der Grube die schwarzen Steine mit ihren Hacken.«

»Und sie tragen alle eine Flamme bei sich?«

»Das kann dir Weißfleck erzählen, mein Sohn.«

Und Weißfleck erzählte, das seien Lampen, bei deren Schein die Häuer sehen müßten, wenn sie »vor Ort« die Hacke schwangen.

»Und dann habe ich gesehen, daß die Flammen alle von einem feinen Netze umgeben waren, Weißfleck«, unterbrach ihn Kribsch.

Weißfleck aber sagte, das seien Sicherheitsnetze, damit kein Unglück vorkomme.

»Was für ein Unglück?«

»Das weiß ich selbst nicht recht, Kribsch. In unserer Grube ist noch nie ein Unglück vorgekommen. Aber ich habe so meine Gedanken.«

»Sag, Weißfleck, sag.« Und der ganze Stall horchte auf.

»Eigentlich ist es gar kein Unglück, glaube ich. Nur die Menschen halten es für eins. Denn ohne die metallenen Geflechte an den Lampen würden die Flämmchen herausschlagen an die Luft und würden aufwärtslecken.«

»Wohin, Weißfleck, wohin?«

»Ich glaube, bis an die Sonne, von der die kleinen Flämmchen her sein sollen. Und darum wollen sie auch wieder zur Sonne kommen und sie würden sich mit ihr vereinigen.«

»Aber das wäre doch schön, Weißfleck, sag?«

»Ja, ja, das schon, aber die Menschen sagen, die Grube würde darüber zugrunde gehen. Und deshalb haben sie die Gitter um die Flämmchen gemacht; verstehst du nun?«

»Ja, Weißfleck, ja; aber darf ich dich noch etwas fragen?«

»Frag nur.«

»Einmal bin ich an einem großen Rohre vorbeigekommen, da ist kalte, frische Luft herausgekommen; das war eine wundervolle Luft, ich habe ordentlich geschnauft und wiehern müssen. Wo kommt die Luft her, Weißfleck?«

»Die kommt vom Himmel her, Kribsch, vom Himmel, wo die Sonne scheint.«

Und dann fragte Kribsch nichts mehr, sondern er war ganz still, legte sich brav hin mit den andern Pferden und war im Nu eingeschlafen. Und wieder träumte er die ganze Nacht vom Himmel mit der Sonne.

Der war er jetzt wieder um einen vollen Tag näher gekommen.


Als diese Nacht wieder die Pferde schlafend im Grubenstall lagen, war auf der Erde droben der Frühling eingezogen. Am Tage vorher war es noch ganz kalt gewesen. Und mit einem Male war es lau und warm dahergebraust unter der Sonne.

Diesmal war der Frühling mit Macht gekommen. Über die Erde fegte er. Die spärlichen Wiesengräser liebkoste er, den Ackerschollen gab er einen Puff, die Menschen umwarb er voller Liebe, zum Schornstein fuhr er hinunter in das Haus hinein, daß die alten Frauen beim Kamin sagten:

»Jessesmaria, diesmal ist er aber doch ganz aus der Weis', der Frühling!«

Und dann fuhr er weiter über die Wälder und zauste sie, daß es eine Freude war. Wie er fertig war damit, hätte man denken sollen, jetzt wäre es genug gewesen, jetzt hätte er keine Kraft mehr.

Aber weit gefehlt! Mit Hurra und mit Hopsassa tanzte er unter den Augen der schmunzelnden Sonne über das Blachfeld. Dort drüben lag ein Kohlenbergwerk. Man sah es an dem großen Förderturm, an dem die Räderscheiben ohne Unterlaß einmal links und einmal rechts herum schnurrten.

Auch ein Bergwerk vergißt der Frühlingssturm nicht. Er tollte erst übermütig in dem großen Hofe herum. Er wartete vor dem Tore, bis der Inspektor aus dem Büro heraus kam. Dem blies er seinen Hut vom Kopfe.

»Na, das ist denn doch …«, sagte der Inspektor und lief seinem Hute nach. Das sah von drinnen der Buchhalter und freute sich unbändig darüber. Und er kam auch heraus, um ein wenig den Inspektor auszulachen, der jetzt zum zweiten Male quer über den Hof lief, um seinen Hut einzufangen.

Aber kaum hatte der Frühlingswind den dünnen, schadenfrohen Buchhalter erblickt, da ließ er ab von dem Hute des Inspektors und stürzte sich mit zweifacher Kraft auf den Buchhalter, packte ihn, schüttelte ihn durcheinander, bog ihn schief und hätte ihn auf ein Haar glatt auf den Boden gelegt.

Jetzt war die Reihe zum Lachen beim Inspektor.

Nach dieser Tollheit huschte der Frühlingswind um den Förderturm und suchte nach einem Eingang. Da er aber keinen fand, stieg er in die Höhe. Von dort aus sah er das gähnende Loch des Schachtes senkrecht in die Tiefe gehen.

Flugs brauste er den Schacht hinunter, tiefer, tiefer … Und hier war es, daß er merklich schwächer wurde, wie ein Hundert Meter nach dem andern der Schacht noch immer kein Ende nahm. Wie er aber auf der letzten Sohle angekommen war, da war er nur noch ein kaum wahrnehmbares leises Lüftchen, das über den Förderplatz den Gang entlang zog. Aber immerhin blieb es der Frühlingswind, der von der Sonne kam. Und so geschah es, daß die Männer von der Tagschicht, die da unten herumhantierten, urplötzlich glänzende Augen bekamen, urplötzlich die Arme reckten in einem unbestimmten Sehnen. Alles das, weil ihnen ein winzig Stück Frühlingsluft um die Schläfe strich.

Das letzte Stückchen des erschöpften Frühlingswindes aber huschte in den Stall, wo Kribsch und seine Freunde schliefen … Und da war es, daß die Stille jählings unterbrochen wurde.

Drei Pferde gebärdeten sich wie toll. Sie waren aufgesprungen, sie rissen an ihren Riemen, sie trompeteten, daß es in den Gängen dröhnte.

Kribsch sah mit Entsetzen, daß seine Mutter eines von den dreien war.

»Mutter, Mutter, was hast du … Mutter, Mutter, was ist dir denn?« rief er angstvoll einmal übers andere Mal. Aber seine Mutter gab ihm keine Antwort. Fieberhaft leuchteten ihre Augen. Ihr ganzer Körper zuckte. Mit den Hinterfüßen sprang sie wütend in die Höhe.

»Weißfleck, Weißfleck, was fehlt denn meiner Mutter?«

»Die Sonne fehlt ihr, Kribsch, die Sonne«, flüsterte Weißfleck und erschauerte.

Die Pferdejungen liefen hin und her und wußten selber nicht, was sie beginnen sollten. Einer holte den Inspektor. Der kam ganz ruhig. Unter der Tür stand er jetzt und blickte prüfend nach den drei wütenden, zerrenden Pferden.

»Aha«, sagte er und pfiff leise durch die Zähne, »aha, der Sonnenrappel! Ich kalkuliere, heute werden die ersten Veilchen droben aus der Erde gucken. Die Pferde sagen es, die Pferde.«

Eben hatte sich auch der Steiger unter die Türe geschoben.

»Ist das nicht sonderbar, Steiger«, fuhr der Inspektor fort, »ist das nicht sonderbar, daß uns diese Pferde unten sagen können, wenn sechshundert Meter über ihnen die ersten Veilchen blühen?«

»Wieso?« sagte der Steiger verblüfft.

»Nun, Sie sehen doch selbst den Sonnenrappel. Junge, hol die Decken – rasch die Decken … so, und jetzt wirf sie den drei Pferden über den Kopf … gut so, gut … Sehen Sie, Steiger, sie beruhigen sich schon … Sonnenwind und Veilchenduft können ihnen jetzt nicht mehr an die Nase … sonderbar, wirklich sonderbar.«

Und er ging, zufrieden mit dem poetischen Witz, den er nach seiner Meinung eben machte, aus dem Stall hinaus. Keine Ahnung hatte er, daß dieser Witz kein Witz war, sondern lautere Wahrheit.

Kribsch aber konnte diese schreckenvolle Nacht sein Lebtag nicht vergessen.


Dann kamen ruhige Tage, ruhige Monate, ruhige Jahre. Kribschs Leben floß in braver Zugarbeit dahin. Und Tag für Tag war es im stillen überstrahlt und durchleuchtet von der Hoffnung auf den Himmel.

Freilich, wann der kommen würde, wußte er nicht. Das wußte niemand von den andem Pferden. Nicht einmal Weißfleck.

»Wahrscheinlich nach einer Krankheit«, gab er Kribsch zur Antwort. Und er lächelte, als jetzt Kribsch seufzte. Wollte doch der Seufzer das besagen: »Wenn ich nur recht bald einmal krank würde.«

Aber Kribsch wurde nicht krank. Er blieb gesund und hoffnungsfroh. Als es ihm aber im dritten Jahre seiner Zugarbeit doch gar zu lange dauerte, versuchte er es mit Hungern. Er nahm ein paar Tage lang nur wenig Futter zu sich. Jetzt spürte er wirklich eine kleine Schwäche.

Als der Pferdejunge bei ihm stand, rieb er sich an ihm mit dem Kopfe. Das hieß:

»Du, hör mal, ich bin krank. Krank, verstehst du? Du weißt es doch, was du tun mußt mit mir, wenn ich krank bin?«

Aber der Pferdejunge wußte nichts. Nur dem Inspektor sagte er, daß Kribsch nichts fressen wolle. Der Inspektor kam, sah sich den Kribsch an und entschied:

»Schön, dann frißt er eben nichts. Pferde haben oft merkwürdige Flausen. Ich glaube fast, er stellt sich so. Nun, nun, der Hunger wird ihn schon kurieren.«

Da sah Kribsch ein, daß sich kein Himmel zwingen lasse, daß jeder Himmel ganz von selber kommen müsse. Und geduldig schleppte er seinen Wagen weiter, ein Jahr ums andere.

Inzwischen starb Freund Weißfleck. Inzwischen starben viele andere Pferde. Inzwischen starb die Mutter von Kribsch. Sie alle trug man mit geschlossenen Augen in die dunklen Kammern. Sie alle fuhren auf zum Himmel.

»Mit geschlossenen Augen«, sagte Kribsch und seufzte leise, »mit geschlossenen Augen! Was hat das nur für einen Sinn? Sie können ja den Himmel nicht mehr sehen. Und ich, der ihn sehen könnte, ich, der die Sonne sehen könnte, mich läßt man hier.«

Und er riß vor Ungeduld an seinem Wagenzug, daß die Stränge krachten.

Was half's …?


Einmal aber erwachte Kribsch und wartete wie alle Tage darauf, daß man ihm sein Arbeitsgeschirr überwerfe. Aber es kam niemand.

Die Stalltür stand offen. Kribsch horchte. Aber er hörte nicht aus der Ferne die scharfen Glockenschläge. Die Glocke feierte. Er hörte kein Rufen der Bergleute, kein Rollen der andern Wagenzüge, die er ablösen sollte. Die Wagen feierten, die Bergleute feierten.

Der Inspektor erschien im Stalle. Er sah finster drein.

»Ja, wenn die Menschen feiern«, sagte er grimmig, »dann werden auch die Pferde feiern müssen.«

»Trotzdem sie arbeitswillig sind im Gegensatz zu den Streikern«, setzte der Steiger hinzu und erwartete, daß der Inspektor lachte. Der aber lachte nicht.

Da war es Kribsch, als liege heute etwas ganz Besonderes in der Luft. Als müsse sich heute sein Schicksal entscheiden, so oder so. Und noch ein eigenes Zeichen hatte er dafür. Als der Inspektor mit dem Steiger hinausgegangen war, da war kein Mensch mehr in dem Stalle. Auch die Pferdejungen streikten. Nur die Pferde lagen behaglich da und träumten müßig vor sich hin. Und wie Kribsch seinen Kopf senkte, seinen alt gewordenen Pferdekopf, da durchzuckte es ihn: Da war das Zeichen. Er war nicht angebunden, er war frei.

Kribsch sagte kein Wort zu den andern Pferden. Er verstand, man müsse schweigen in den großen Augenblicken seines Lebens, sonst zerrannen sie zu nichts.

Noch eine Stunde wartete er, zitternd vor Ungeduld. Jetzt schien es ihm, als lägen alle Pferde wieder schlafend. Da wendete sich Kribsch, scharrte leise mit dem linken Vorderhuf den Boden, überblickte mit einem letzten Blick den Stall, in welchem Weißfleck starb, in dem die Mutter starb, in dem er ein ganzes Pferdeleben lang auf die Verheißung gewartet hatte, auf den Aufstieg zur Sonne gewartet hatte. Und jetzt stieß er einen einzigen kurzen Trompetenton aus den geblähten Nüstern, war mit zwei Sätzen an der offenen Tür und flog den Gang entlang.

»Kribsch … Kribsch!« hörte er ein paar Pferdestimmen durch die Stalltür.

Er gab nicht acht darauf. Schon klirrten seine Hufe auf dem Förderplatz vor den dunklen Kammern. Der Förderplatz war leer. Matt brannten ein paar Lampen. Müßig standen leere und gefüllte Wagen da und dort.

Eine kurz entschlossene Wendung machte Kribsch. Er sprengte den langen Gang entlang. Frei, frei wie der Vogel in den Lüften. Feurig rann ihm das sonst so träge Grubenpferdeblut durch seine alten Adern. Wie den Menschen junger Wein zu Kopfe steigt, stieg ihm, dem Kribsch, die junge Freiheit in den alten Pferdekopf.

So … ja, so würde er auch dahinfliegen, wenn er im Himmel bei der Sonne wäre – so leicht, so ungebändigt und so fröhlich über alle Maßen.

Hunderte von Meter war Kribsch schon in dem leeren Gang dahingerast. Jetzt schoß er an den Wasserpumpen vorbei. Die feierten nicht. Paff … paff … paff machten sie. Und bei den lärmenden Kolbenstößen der Maschinen hörte der Wächter nicht, wie draußen die Hufe eines freien Pferdes aufschlugen auf Gestein, daß es dröhnte.

Der Hauptgang wurde enger. Aber Kribsch verlangsamte nicht den Lauf. An dem großen Blechrohr kam er vorbei, an dessen Trichtern die freie kühle Luft vom Himmel droben in die Grube strich. Seltsam brausten die Töne des Ventilators in dem Blechrohr.

»Ein Gruß vom Himmel!« trompetete Kribsch, »ein Gruß von der Sonne! Ich komme schon, ich komme!«

Und wie er weiterstürmte, sah er eine Flamme vor sich schwanken, eine kleine Flamme. Kribsch dachte in seinem ungestümen Sonnendrang nicht mehr, daß das die oft gesehene Lampe eines Bergmannes wäre, das treue, mit Draht umgitterte Lämpchen – er hielt es plötzlich für einen besonderen Flammengruß vom Himmel, von der Sonne. Er hielt es für das dritte Zeichen.

»Ich komme schon, ich komme!« trompetete Kribsch und stürmte weiter auf das Lämpchen los, das vor ihm herfloh mit zackigen ängstlichen Sprüngen.

Jetzt bog das Flämmchen rasch in einen Nebengang, den Kribsch nie gegangen war. Aber Kribsch besann sich nicht. Ihm nach, ihm nach! Das Flämmchen war ein Bote, das Flämmchen führte ihn zur Sonne.

Auf einmal war es Kribsch schwer im Kopfe. Die Decke des Gebirges hing tief herunter. Gase, feine Gase drangen aus den Ritzen. Die atmete Kribsch ein. Fast ward es ihm dunkel vor den Augen. Die giftigen, die schlagenden Wetter, die er atmete, machten ihn krank.

»Krank?« schoß es ihm durchs Gehirn. »Krank? Oh, das ist das vierte und das letzte Zeichen! Ich komme schon, ich komme!«

Mit den letzten Kräften stürzte er weiter in der Richtung, wo er die Flammen noch trüb erkennen konnte. Menschenrufe schlugen an sein Ohr, angstvolle Menschenrufe. Er verstand sie nicht. Er stürzte weiter. Jetzt tanzte der Sonnengruß dicht vor seinen Augen. Jetzt fiel ein Mensch, jetzt klirrte etwas zu Boden, jetzt krachte ein Pferdefuß auf Glas und Draht, jetzt schwelte eine lange, dünne Flamme aufwärts und jetzt …

Jetzt leuchtete eine ungeheure Feuergarbe den ganzen Gang entlang und blendete Kribsch, daß er vor Schönheit die Augen schließen mußte.

»Die Sonne! Die Sonne!« schmetterte er noch heraus, »Mutter, du hattest recht, sie ist über alle Maßen schön!« Und dann folgte ein ungeheurer Krach, und das Bergwerk stürzte in den schlagenden Wettern jäh zusammen.


 << zurück weiter >>